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Demontage eines deutschen Mythos

Nicht der Fleiß der Deutschen und auch nicht der Marshall-Plan sollen der Grund für das deutsche Wirtschaftswunder gewesen sein, zeigt Christoph Weber in seinem Dokumentarfilm. Wichtiger sei ein Schuldenschnitt von 50 Prozent für Deutschland gewesen, betont der Filmemacher.

Christoph Weber im Gespräch mit Karin Fischer | 15.07.2013
    Karin Fischer: In Zeiten der Krise ist ein Blick auf den Wiederaufbau nach dem Krieg und das sogenannte deutsche Wirtschaftswunder sicher hilfreich. Denn der Boom der 60er-Jahre, von der Waschmaschine über das eigene Auto über den Farbfernseher bis hin zum Eigenheim, legte die Grundlage des heutigen Wohlstands und ja: Reichtums in Deutschland. Und er ist mit der Grund, warum wir heute noch am Mantra dauerhaften Wirtschaftswachstums nicht nur festhalten, sondern dieses Mantra natürlich erfolgreich und effizient, wie wir Deutschen so sind, in alle Welt exportieren. Nur, sagt Dokumentarfilmer Christoph Weber in seinem Film "Unser Wirtschaftswunder: Die wahre Geschichte" – nur dieses Wunder selbst war eigentlich gar keines. Warum denn nicht, Herr Weber?

    Christoph Weber: Ja da gibt es verschiedene Gründe. Ich glaube, das Wundersame der Nachkriegszeit für die Generation, die es erlebt hat, war, dass sie glaubte, nach den Verheerungen des Krieges und den Trümmern, in denen sie lebten, nun mit Fleiß das Land wieder aufgebaut zu haben. So muss es ihnen damals erschienen sein und deswegen war es auch ein Wunder in ihren Augen. Nur heute – und das zeigt eben der Film – haben wir mit den führenden Wirtschaftshistorikern den Zugang zu Dokumenten und auch zu Erkenntnissen, die zeigen, dass das gar nicht so wundersam war. Und vor allem, dass es nicht am deutschen Fleiß gelegen hat.

    Fischer: An was hat es denn dann gelegen? Der Marshall-Plan wird ja immer zitiert als das Geschenk, als die notwendige Aufbauhilfe eben nach dem Krieg.

    Weber: Es gibt ja immer so drei, vier große Gründe, die genannt werden, und mit denen setzt sich der Film auch in der ersten Hälfte auseinander. Sie sagen es sehr richtig: der Marshall-Plan, der Fleiß - den haben wir ja gerade schon kurz besprochen -, Ludwig Erhard als geniale Führerfigur oder Politiker, der das alles eingefädelt hat, als Vater des Wirtschaftswunders, und die soziale Marktwirtschaft. Zunächst mal haben wir uns diese vier Punkte angeschaut und haben festgestellt: In all diesen vier Punkten entspricht es nicht der Realität, sie hatten keinen nennenswerten Anteil am Wirtschaftswunder. Beim Marshall-Plan, um nur mal ein Beispiel zu nehmen: Wenn man sich nur die Tatsache anschaut, dass das Wirtschaftswachstum weit früher begonnen hat, als die ersten Lieferungen in Deutschland damals eintrafen aus dem Marshall-Plan, sieht man, dass da gar kein Zusammenhang bestanden haben kann. Und so hat die Forschung Stück für Stück freigelegt, dass der Marshall-Plan, aber auch die soziale Marktwirtschaft nicht die entscheidenden Punkte waren, die das Wirtschaftswunder bedingt haben.

    Fischer: Und Ludwig Erhard?

    Weber: Bei Ludwig Erhard muss man sagen, der hat sich das aufs Panier geschrieben. Er hat sehr klug auch immer zum geeigneten Zeitpunkt Reden gehalten. Inwiefern er das beabsichtigt hat, weiß man nicht, aber er hat die Währungsreform nicht gemacht, er hat am Marshall-Plan natürlich keinen Anteil, an all den Dingen, die wir aufzählen, die dann auch die wahren Gründe sind, auch keinen Anteil. Das heißt, seine Rolle für dieses deutsche Wirtschaftswunder ist sehr gering. Wir kommen eigentlich noch zu einem ganz anderen Schluss, dass, wenn man es etwas pointiert sagen will, das deutsche Wirtschaftswunder gar nicht von Deutschen gemacht wurde.

    Fischer: Sondern?

    Weber: Es sind vor allem amerikanische Weichenstellungen im Hintergrund, die damals getroffen wurden, und das passierte natürlich alles vor dem Hintergrund des Kalten Krieges. Die Amerikaner hatten sich spätestens '47 entschlossen, Europa, also Westeuropa, mit Hilfe der deutschen Wirtschaft, die der zentrale Motor war für dieses Westeuropa, wieder auf die Beine zu stellen. Und da wurden eine ganze Menge Entscheidungen getroffen, von denen vielleicht die wichtigste das Londoner Schuldenabkommen 1953 war. Und das ist erstaunlich, wie wenig dieses Abkommen hierzulande bekannt ist. Im Wesentlichen hat es Deutschland die Hälfte – das muss man sich mal vorstellen -, die Hälfte aller Altschulden erlassen. Das, was wir heute Haircut nennen in der Griechenland-Diskussion, dass man einen Schuldenschnitt macht. 50 Prozent aller Schulden wurden Deutschland damals erlassen.

    Fischer: Gehen Sie denn, Herr Weber, so weit, dass Sie sagen, aus dieser Geschichte hätten wir zu lernen und etwa in Sachen Schuldenschnitt gegenüber Griechenland etwas zu konzedieren?

    Weber: Ja, ich gehe so weit. Ich würde sagen, wir sollten deutlich bescheidener auftreten in der Diskussion. Man sieht das auch, dass sich da ein gewisses Umdenken breitgemacht hat. Wenn wir uns nur die politischen Statements, aber auch die Schlagzeilen 2011 anschauen, als es so auf dem Höhepunkt war, diese ganze Diskussion um Griechenland und ob die den Euro behalten dürfen oder nicht, und als dann die deutschen Ratschläge erteilt wurden, wenn man sich da mal die "Bild"-Zeitung angeschaut hat, aber auch die Statements wie gesagt von Politikern, dann konnte einem da schon das kalte Grausen überlaufen. Dass sie mit einer dermaßenen Arroganz vorgetragen wurden, dass ich glaube, dass es Zeit wird, sich mal wieder der eigenen Wurzeln, des eigenen Wirtschaftswunders zu besinnen und eben auch etwas bescheidener und nicht so selbstgerecht aufzutreten.

    Fischer: Das wollte ich gerade fragen. Sie plädieren also für mehr Bescheidenheit und nicht dafür, den krisengeschüttelten Nachbar-Europäern sozusagen unsere Erfolgsgeschichte von vor 60 Jahren vorzuhalten - nach dem Motto: Wir haben es ja auch aus dem Nichts geschafft?

    Weber: Ja. Man darf jetzt auch nicht den Fehler machen, dass man sagt, dass die griechischen Probleme nicht auch hausgemacht wären. Das gibt es auch.

    Fischer: Und Deutschland hat auch Hausaufgaben gemacht. Wir sind ja nicht nur heute noch abhängig vom Tropf der 60er-Jahre.

    Weber: Ja, das ist richtig. Und in der Summe aber aller Faktoren, würde ich sagen, muss Deutschland in der politischen Diskussion deutlich bescheidener auftreten gegenüber Griechenland. Wie gesagt, ich sehe das auch schon, dass das zurzeit passiert, und das ist ja auch erfreulich. Aber dennoch: In weiten Teilen der Bevölkerung – das zeigen ja auch immer wieder Umfragen – sind diese Ressentiments, "die faulen Südländer", vor allem "die faulen Griechen", durchaus virulent. Und das stützt sich natürlich auch darauf, dass man glaubt, das Wirtschaftswunder, das in den 50er-Jahren und 60er-Jahren seinen Höhepunkt in der Bundesrepublik hatte, hätte man mit der eigenen Hände Arbeit geschafft. Und das ist eben nicht richtig.

    Fischer: Christoph Weber war das über das Wirtschaftswunder in Deutschland, das so wunderlich doch gar nicht war. Sein Dokumentarfilm läuft heute Abend um 23.50 Uhr in der ARD.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.