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Demos kratia - Die Herrschaft des Volkes

Was ist 2500 Jahre alt, stammt aus dem antiken Griechenland und ist auch heute noch ein klangvolles Versprechen? Ausnahmsweise einmal nicht die Olympischen Spiele. Die Rede ist von der Demokratie. In den vergangenen Jahren haben sich viele neue Formen über und zwischenstaatlicher Herrschaft ausgebildet, und auch die Globalisierung wirft die Frage nach dem Wesen und Wert der Demokratie dringlicher auf. Der Berliner Althistoriker Wilfried Nippel geht in seinem neuen Buch der Frage nach, wie aktuell die Urform aller Demokratien für unser modernes Demokratieverständnis ist.

Rezensiert von Alexandra Kemmerer | 18.08.2008
    Für die repräsentativ orientierten amerikanischen Verfassungsväter war die athenische Demokratie eine Zumutung, für kritische Beobachter der französischen Revolution ein Gräuel.

    "Dies spiegelt zugleich wider, dass man (jedenfalls bis zum späteren 18. Jahrhundert) keine fundamentale Differenz zwischen der Antike und der jeweils eigenen Gegenwart unterstellte, so dass die 'klassischen' Texte unmittelbar auf die eigene Lebenswelt bezogen werden konnten."

    Dabei war die demokratische Ordnung des Stadtstaats Athen auch immer nur für eine Fläche von 2550 Quadratkilometern gedacht gewesen. Das entspricht etwa der Fläche des Großherzogtums Luxemburg oder des Saarlandes.

    "Demokratie blieb allein die Sache der athenischen Bürger, sie war kein universalistisches Prinzip. Der Ausschluss der einheimischen Frauen und der Metöken von den politischen Rechten war eine Selbstverständlichkeit. Die Sklaverei - die vielen Bürgern erst die Abkömmlichkeit für Krieg und Politik ermöglichte - wurde nicht in Frage gestellt. [ ... ] Man wollte auch nicht dem Demokratiegedanken überall in der griechischen Welt zum Durchbruch verhelfen."

    Und doch ist es ausgerechnet der schillernde und oft vage Demokratiebegriff, der immer noch lebendig ist, und aktueller denn je.

    "'Demokratie‘ bezeichnet heute - im Gegensatz zu einer mehr als zweitausendjährigen Rezeptionsgeschichte - eine eindeutig positive Norm. Mit ihr ist auch die Erinnerung an das große Experiment der Athener verbunden und damit der Vergleich mit den Erfindern dieser Ordnung. Athen bleibt präsent."

    Präsent auch als dunkler Legitimationsgrund einer hegemonialen mission civilisatrice, die sich die globale Verbreitung des westlichen Demokratiemodells auf die Fahnen geschrieben hat. Und als Erinnerungsort eines vermeintlich goldenen Zeitalters bürgerlicher Freiheit und Mitbestimmung. Democracy sells. Darauf hoffte man auch, als 2004 in der Präambel des inzwischen in die glanzlosen Artikel des Lissabonner Vertrags hinein verdunsteten europäischen Verfassungsvertrages plötzlich ein Satz aus der Leichenrede des Perikles auftauchte, in dem es heißt, dass Demokratie die Herrschaft der Mehrheit heißt - und der in späteren Fassungen ebenso sang- und klanglos wieder verschwand. Mit guten Gründen, wie Wilfried Nippel findet.

    "Richtig war es, es wieder herauszunehmen. Erstens deshalb, weil Demokratie - definiert als die Herrschaft, die von der Mehrheit der Stimmbürger ausgeübt wird - auf ein politisches Gebilde wie die Europäische Union sowie so nicht zutrifft, weil dieses Demokratieprinzip so dort nicht zu verwirklichen ist und auch nicht verwirklicht werden soll, weil es ja immer auch um die Respektierung der Rechte der einzelnen Mitgliedsnationen geht. Und außerdem kann man sich ja fragen, ob nicht die Europäische Union gerade ihre Legitimität daraus bezieht, dass sie eine Friedensordnung in Europa garantieren soll, und nicht eine Ordnung, in der sich auch noch ethnisch benachbarte Staaten, wie in der Antike, wechselseitig bekämpfen."

    Wilfried Nippel verfolgt in seinem Buch keine eigene Agenda, er sieht sich in der Rolle des akademischen Aufklärers. Nicht des geisteswissenschaftlichen Politikberaters, wie mancher Kollege.

    "Also das ist auch ne Art Versuch den kultur- und wissenschaftspolitischen Terrain-Verlust, der Altertumswissenschaften dadurch aufzufangen. Dass man dann manchmal die Bedeutung der direkten Rezeption deutlich übertrat. Aber ich finde das ist nicht der Job des Historikers. Der ist eher dazu da, wenn sich so was aufgebraut hat, mal ein paar Mythen zu zerstören."
    Souverän durchmisst der verfassungstheoretisch versierte Althistoriker in seiner quellengesättigten Monographie die Jahrhunderte. Er wechselt dabei behände die Perspektiven und deckt so zahllose blinde Flecken der demokratietheoretischen Rezeptionsgeschichte auf.

    "Wohl keine andere Ordnung der Weltgeschichte wird mit so evident anachronistischen Maßstäben bewertet wie die athenische Demokratie. [ ... ] Offensichtlich hat im Bewusstsein der Nachwelt Athen mit seiner Kategorie der Demokratie eine überzeitlich geltende Norm gesetzt, an der seine eigene Praxis gemessen wird. [ ... ]"

    Und eine Norm, an der sich auch unsere politische Praxis messen lassen muss. Im vielfältig global eingebundenen Mehrebenensystem europäischen Regierens müssen politische Autonomie und demokratische Selbstbestimmung ständig neu ausgehandelt werden.

    "Für alle diese und viele andere Probleme kann der Blick auf Athen nicht helfen. Dennoch: Solange 'Demokratie und die Unzulänglichkeiten ihrer Verwirklichung‘ in einem nicht aus Göttern gebildeten Staat ein Thema ist, so lange wird vermutlich auch Athen aus der Debatte nicht verschwinden."

    Nippels Buch macht große Lust, diese Debatte weiterzuführen, leidenschaftlich und mit Bedacht. Wer ihn liest, sieht die alte Demokratie mit neuen Augen.

    Wilfried Nippel, Antike oder moderne Freiheit? Die Begründung der Demokratie in Athen und in der Neuzeit, Fischer Taschenbuch Verlag, 456 S., 11,95 Euro.