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Denken nach Auschwitz

60 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz und der anderen Konzentrationslager verschlägt es immer noch die Sprache, will man Worte finden für die monströsen Verbrechen. Im Nachkriegsdeutschland durchbrachen immer wieder Auseinandersetzungen und öffentliche Debatten, Prozesse gegen NS-Verbrecher das hilflose Schweigen. Auch die Philosophie versuchte, das Schreckliche zu reflektieren.

Von Peter Leusch | 06.10.2005
    "Pannwitz ist hochgewachsen, mager und blond, er hat Augen, Haare und Nase, wie alle Deutschen sie haben müssen und er thront fürchterlich hinter seinem wuchtigen Schreibtisch… Ich, Häftling 174517, stehe in seinem Arbeitszimmer, einem richtigen Arbeitszimmer, klar, sauber und ordentlich, und mir ist als müsste ich überall, wo ich hinkomme, Schmutzflecken hinterlassen. "

    Primo Levi, ein italienischer Jude, der ein Jahr in Auschwitz inhaftiert war und überlebte, schildert, wie er dem Ingenieur Dr. Pannwitz vorgeführt wird. Eine Prüfung seiner Chemiekenntnisse soll über Levis weiteres Schicksal entscheiden.

    "Wie Pannwitz mit dem Schreiben fertig ist, hebt er die Augen und sieht mich an. Zwischen Menschen hat es einen solchen Blick nie gegeben. … der wie durch die Glaswand eines Aquariums zwischen zwei Lebewesen getauscht wurde, die verschiedene Elemente bewohnen … Der jene blauen Augen und gepflegten Hände beherrschende Verstand sprach: ‚Dieses Dingsda vor mir, gehört einer Spezies an, die auszurotten selbstverständlich zweckmäßig ist. In diesem besonderen Fall gilt es festzustellen, ob nicht ein verwertbarer Faktor in ihm vorhanden ist."
    Primo Levi hat diese Szene festgehalten in seinem autobiographischen Bericht über Auschwitz mit dem Titel "Ist das ein Mensch? Und die schreckliche Antwort auf diese Titelfrage gibt das Buch selbst: Mensch zu sein, in Würde und Freiheit, das nahmen im KZ allein die Täter für sich in Anspruch, die Schergen der SS, die Aufseher, die Ärzte und alle ihre Helfer. Die Opfer jedoch galten nicht als Menschen, sondern als niedere Lebewesen, die man auslöschen kann, oder als Arbeitstiere hält, solange es zweckmäßig scheint.

    60 Jahre nach Kriegsende, 60 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz und der anderen Konzentrationslager verschlägt es immer noch die Sprache, will man Worte finden für die monströsen Verbrechen, für den moralischen Skandal.
    Millionen Juden wurden unter nationalsozialistischer Herrschaft in Deutschland entrechtet und verfolgt, dann in ganz Europa deportiert und systematisch ermordet. Der Triumph der Barbarei in einem hoch zivilisierten Land war ein Verbrechen, an dem - wie wir heute wissen, viele tausend Deutsche in unterschiedlicher Weise beteiligt waren. Das Ungeheuerliche verlangt nach einer rationalen Erklärung und sprengt doch in seiner Monströsität jeden Erklärungsrahmen.

    Das Nachkriegsdeutschland floh hinter Mauern aus Schweigen und Verdrängung, es versuchte das Gewissen im zyklischen Ritual der Gedenktage zu beschwichtigen.
    In immer neuen Schüben durchbrachen aber auch Auseinandersetzungen und öffentliche Debatten, Prozesse gegen NS-Verbrecher das hilflose Schweigen, Filme und Fernsehserien haben die Menschen sensibilisiert, und eine Fülle wissenschaftlicher Arbeiten sind inzwischen entstanden.
    Auch die Nachkriegsphilosophie in Deutschland war immer wieder aufgefordert, das Schreckliche zu reflektieren. Das gebieten die Opfer und die Verantwortung für die Zukunft.

    "Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung", schrieb der Philosoph Theodor W. Adorno.
    Der Konstanzer Professor für Philosophie Rolf Zimmermann hat in diesem Jahr eine Veröffentlichung vorgelegt unter dem Titel Philosophie nach Auschwitz. Eine Neubestimmung von Moral in Politik und Gesellschaft.

    "Aus meiner Sicht ist bisher zu wenig die moralische Bedeutung von Auschwitz in den Vordergrund gestellt worden, weil natürlich die selbstverständliche moralische Ablehnung in die Richtung weist, dass man außer dieser moralischen Ablehnung keine großen Anstrengungen mehr braucht, um sich Klarheit über die Bedeutung zu verschaffen. Dies ist m. E. nicht so, sondern wir müssen uns klar machen, dass mit Auschwitz moralisch gesprochen, das einhergeht, was ich mit Gattungsbruch bezeichne, ein Gattungsbruch, der das jüdische Volk, aber auch andere Völker von der Menschheit ausschließen möchte, und insofern den Grundsatz unserer Moral bestreitet, der lautet: Alle Menschen sind moralisch gesehen gleich, alle Menschen haben dasselbe recht, von anderen Menschen als Menschen anerkannt zu werden."

    Zimmermanns These vom Gattungsbruch wendet die Szene, die Primo Levi erzählt ins Grundsätzliche. So wie der Häftling 174517 und der KZ-Ingenieur nicht mehr ein und derselben Spezies Mensch anzugehören scheinen, so schließen die Nazis die Juden und andere Völker aus der Menschengemeinschaft aus. Die Nazis – so führt Zimmermann seine These weiter, - wollten damit auch jene traditionelle moralische Ordnung beseitigen, die von einer einheitlichen Menschheitsmoral ausgeht. Sie wollten eine andere Ordnung, in der es ein Recht zu töten gibt.

    Hannah Arendt schrieb: "In weniger als sechs Jahren zerstörte Deutschland das moralische Gefüge der westlichen Welt, und zwar durch Verbrechen, die niemand für möglich gehalten hätte."
    In der Geschichte der Menschheit ist viel Entsetzliches geschehen, aber Auschwitz lässt sich nicht einordnen oder nivellieren, erklärt Volker Gerhardtt der Philosophie an der Humboldt Universität in Berlin lehrt.

    "Wenn wir das, was uns die Geschichte bis zum Jahre 1939 bietet, versuchen Revue passieren zu lassen, und demgegenüber Auschwitz – ich nehme jetzt dieses Wort für den gesamten Komplex der Vernichtung der Juden – Auschwitz zu denken versuchen, dann muss man als erstes sagen, es ist vollkommen unvergleichlich. Ich bin der Ansicht, dass Auschwitz tatsächlich einen Bruch im Selbstverständnis des Menschen erzeugt hat, und dass wir versuchen müssen ihn zu denken, weil wir ja nach Auschwitz leben, weil wir nach Auschwitz weiterleben und auch nach Auschwitz der Menschheit wieder eine Zukunft geben müssen. Aber wir dürfen auf keinen Fall zu harmlos denken, von dieser fabrikmäßigen Vernichtung des Menschen.
    Und insofern meine ich, ist die Philosophie nach wie vor herausgefordert, dieses unerhört Böse zu denken, das eben im Vergleich zu anderem Bösen, das wir zuhauf kennen, doch eine ganz neue Qualität gesetzt hat."

    Was ist das Böse?
    Reichen nicht die überkommenen moralischen Maßstäbe aus, um das Verbrecherische des Nationalsozialismus zu erfassen und zu verurteilen? Kants Moralphilosophie gipfelt im Kategorischen Imperativ:
    "Handle nur nach der Maxime, von der du wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz sei." In dieser Maxime ist immer schon Gegenseitigkeit intendiert, dass ich den anderen achten und als mir gleichrangig ansehen muss. –populär gewendet: Was Du nicht willst, dass man dir tu, das füge auch keinem anderen zu.

    Kant prägte auch den Begriff des radikal Bösen, den manche für Auschwitz reklamieren wollen. Bei Kant bezeichnet dieser Begriff, dass es im Menschen eine natürliche Neigung gibt, das Moralgesetz zu missachten. Es gibt also einen Hang das Böse zu tun. Aber dabei meint Kant ein gewöhnliches unmoralisches Verhalten, das situativ Regeln verletzt, ohne das Regelsystem als solches in frage zu stellen.
    Kants Vorstellung des radikal Bösen deckt also nicht dasjenige ab, was in Auschwitz geschah.

    "Was hier passiert mit dem radikal Bösen, ist etwas völlig anderes. Da wird etwas außer Kraft gesetzt oder soll außer Kraft gesetzt werden, und zwar das gesamte Wertesystem durch ein neues ersetzt werden. Der Verbrecher verletzt nur das Rechtssystem, der normale Mensch verletzt nur das moralische Regelsystem, aber ein moralisches Regelsystem gänzlich außer Kraft zu setzen würde ich als das radikal Böse ansehen.
    Das radikal Böse besteht m. E. darin, dass wir dieses Wertesystem gänzlich umkehren. Die Nazis wollten ein Wertesystem etablieren, in dem Mord, Folter wieder als gute Werte erscheinen, und wo Mord und Folter erlaubt sind, und zwar zu Zwecken der Realisierung der Naziideologie."

    Detlef Horster, Professor für Philosophie an der Universität Hannover versucht den Begriff des radikal Bösen neu zu fassen. Bei ihm meint das radikal Böse nun einen Umsturz des Moralsystems und die Installation einer Antimoral, die auf Unmenschlichkeit basiert.
    Horster gesteht zugleich ein, dass die Philosophie in der begrifflichen Auseinandersetzung mit dem Bösen nicht vorangekommen sei. Er greift dabei einen Gedanken von Jürgen Habermas auf.

    "Es gibt eine merkwürdige Asymmetrie in der Kenntnis von Gutem und Bösen: wir wissen was das Gute ist, wissen, wie es gut ist, sich moralisch zu verhalten, wir kennen moralische Pflichten, die objektive Pflichten sind, wie der Schutz des ungeborenen Lebens, den anderen vor Schaden zu bewahren, ihm zu helfen. Aber wir haben uns in der Philosophie immer davor gedrückt zu sagen, was das Böse eigentlich ist, auch Kant , der ja geschrieben hat über das radikal Böse, kommt m. E. an dieser Stelle nicht weiter, er versucht das immer noch in religiöser Terminologie zu fassen, und auch Susan Neiman, die jetzt das Buch geschrieben hat, das Böse denken wurde in einem Interview gefragt: Dann sagen Sie mir doch einmal die Definition dessen, was das Böse ist, und dann sagt sie: Sie werden von mir diese Definition nicht bekommen, weil ich keine habe."

    Die jüdisch-amerikanische Philosophin Susan Neiman, Schülerin des Philosophen John Rawls, lebt mit Unterbrechungen seit fast 20 Jahren in Berlin, Sie leitet dort seit geraumer Zeit das Einstein-Forum in Potsdam. Neiman hat im vergangenen Jahr eine Studie über die Auseinandersetzung mit dem Bösen in der Philosophiegeschichte veröffentlicht, beginnend beim Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755 bis hin zu Auschwitz und zum 11. September.

    Der Titel "Das Böse denken" erhält einen sinnfälligen Doppelsinn. Es geht darum das Böse als Gegenstand - als Objekt – zu begreifen, aber auch das Böse als Subjekt – als geistige Quelle und menschenfeindliche Ideologie.

    "Es gab eine Zeit zwischen der Mitte des 18. und der Mitte des 20. Jahrhunderts, in dem man das Böse einschließlich auf Taten beschränkt hat, die mit böser Absicht gemacht worden sind. Das war eine Art begrifflicher Fortschritt, … davor waren Böses und Übel gleichgesetzt, auch in der deutschen Sprache hat man sie wahlweise benutzt, zu allem Möglichen, sowohl Naturkatastrophen wie auch Verbrechen, die von Menschenhand begangen wurden.
    Auschwitz hat uns wieder einmal klar gemacht, wie viel Böses man ohne böse Absicht gemacht hat. Die einzige, die das wirklich klar gesehen und geschrieben hat, war Hannah Arendt, aber es ist anderen auch allmählich klar geworden.
    Und das ist schon einmal eine wichtige, erschreckende, es könnte aber auch eine ernüchternde Erkenntnis sein."

    Susan Neiman spricht hier Hannah Arendts These von der Banalität des Bösen an.
    Die jüdische Philosophin Hannah Arendt emigrierte nach den ersten Repressalien der Nazis 1933 aus Deutschland über Frankreich in die USA. Bis dahin war sie im Grunde am Politischen gar nicht interessiert. Nationalsozialismus und Antisemitismus hatten ihr eine Auseinandersetzung über das Verhältnis von Philosophie und Politik aufgezwungen. Neben einem politisch-praktischen Engagement reifte der Plan, sich theoretisch mit der – wie sie sagte – ungeheuerlichsten, alle Maßstäbe zerbrechenden Wirklichkeit" der Vernichtungslager auseinanderzusetzen. 1961 fuhr sie nach Jerusalem, um über den Prozess gegen Adolf Eichmann berichten, der die Deportation der Juden in die Vernichtungslager im großen Stil organisierte. Eichmann äußerte im Prozess, er habe nur seine Pflicht getan, persönlich habe er nichts gegen die Juden.
    Hannah Arendt schrieb:

    "Das Beunruhigende an der Person Eichmanns war doch gerade, dass er wie viele andere und dass diese vielen anderen … weder pervers noch sadistisch, sondern schrecklich und erschreckend normal waren und sind. Vom Standpunkt unserer Rechtsinstitutionen und an unseren moralischen Maßstäben gemessen, war diese Normalität viel erschreckender als all die Gräuel zusammen genommen, denn sie implizierte, dass dieser neue Verbrechertypus, der nun wirklich hostis generis humani (Menschheitsfeind) ist, unter Bedingungen handelt, die es ihm beinah unmöglich machen, sich seiner Untaten bewusst zu werden. "

    Arendts These von der Banalität des Bösen, das Böse als Akt schierer Gedankenlosigkeit, trifft zweifellos bestimmte Züge der nationalsozialistischen Herrschaft – Eichmänner gab es viele. Man denke an die vielen Bahnbeamten, die an der Logistik der Deportation beteiligt waren. Hat niemand nachgedacht oder gefragt, was an diesem kleinen Ort in Polen passiert, wohin so viele vollbesetzte Züge dirigiert werden und dann leer zurückkehren.
    Arendt erweitert das Spektrum des Bösen, sie liefert insbesondere Erklärungen dafür, wie biedere Mitläufer sich ins teuflische Räderwerk von Vertreibung und Völkermord einspannen. Aber die Banalitätsthese vermag nicht das Ganze zu erklären, wendet Rolf Zimmermann gegen Hannah Arendt ein.

    "Wenn sie anlässlich ihres Besuches nach dem Krieg in Deutschland sagt, in weniger als sechs Jahren zerstörte Deutschland das moralische Gefüge der westlichen Welt durch Verbrechen, die niemand für möglich gehalten hätte.
    Diese Diagnose halte ich für richtig, aber wir müssen fragen was heißt das, das Gefüge der westlichen Welt moralisch zu zerstören? … Mein Begriff lautet hier Gattungsbruch, um die Schwere auszudrücken.
    Auf der anderen Seite ist es so, dass sie mit der Banalität des Bösen einen Zug namhaft macht, der in dem drinsteckt, was man gewöhnlich auch als Verwaltungsmassenmord bezeichnet, was sie als Gedankenlosigkeit, als Trivialität des Bösen beschreibt, dass man einfach mitmacht, nicht nachdenkt, - nur: Dieser Aspekt der Banalität des Bösen ist ein Teilaspekt, man kann mit diesem Aspekt nicht das Ganze des Geschehens des Holocaust in den Griff bekommen, deshalb muss man eine andere Begrifflichkeit wählen, um in gewisser Weise im Sinne Arendts darüber nachzudenken: was bedeutet es, dass das moralische Gefüge der westlichen Welt zerstört worden ist."

    Das Böse, das Auschwitz verkörpert, war so mächtig, weil es aus verschiedenen Arten bestand, die sich verbündet hatten: die menschenverachtende Ideologie der Nazis, der Mordbeschluss der Wannseekonferenz, der niedere Sadismus des Aufsehers, aber auch die Borniertheit des Beamten, der sich irgendwo in Deutschland zum Rädchen in der Vernichtungsmaschinerie machen lässt, und zu dumm oder zu feige war, dagegen zu protestieren.

    Rolf Zimmermann These vom Gattungsbruch geht über solche Bestimmungen hinaus. Er stützt sich in seiner philosophischen Analyse auf die Arbeiten des schwedischen Historikers Gunnar Heinsohn. Heinsohn hat die These aufgestellt, der physische Völkermord an den Juden war zugleich ein geistiges Attentat, er sollte das abendländische Moralverständnis in seinen jüdischen Wurzeln eliminieren, um an dessen Stelle ein krudes rassistisches Denken zu setzen.
    Gunnar Heinsohn schreibt:

    ""Ich vertrete die Auffassung, dass der Mord an den Juden aus Fleisch und Blut der Versuch gewesen ist, die Ethik des Judentums zu beseitigen, die ihren überwältigenden Kerngedanken in dem aus der Opferverwerfung resultierenden Recht auf Leben hat. … Hitler wollte letzten Endes das gesamte – also nicht nur das europäische – Judentum vernichtet sehen, weil er hoffte, dass mit dem Verschwinden der Juden auch die Thoragesetze des Lebensschutzes sowie der Liebes – und Gerechtigkeitsgebote aus der Welt wären. Die Judenbeseitigung sollte das Recht auf Töten wiederherstellen. Auschwitz war ein Völkermord für die Wiederherstellung des Rechts auf Völkermord."

    Das unverbrüchliche Recht auf Leben bildet den Kern der jüdisch-christlichen Morallehre. Offensichtlich verstieß die nationalsozialistische Terrorherrschaft gegen diese Werte. So hat auch Hannah Arendt an anderer Stelle geäußert, Auschwitz war der Versuch das fünfte Gebot – Du sollst nicht töten – außer kraft zu setzen.

    "Die rassistische Ideologie, der Antisemitismus, die völkische Großraumpolitik mit der Unterwerfung oder Vernichtung slawischer Völker bilden einen Zusammenhang. Heinsohn geht aber noch weiter und behauptet, dass sich Hitler und die Nazis auf der Linie eines antimoralischen Programms bewegen, einer Umkehrung aller Werte. Hatte Hitler sich buchstäblich vorgenommen, das deutsche Volk umzuerziehen - weg von der jüdisch-christlichen Tradition hin zu einer nationalsozialistischen Herrenmoral? Heinsohns Deutung der Quellen ist unter Historikern umstritten, aber – so Zimmermann – man muss sich klar machen, dass Hitlers Angriff auf die Moral bei vielen Menschen verfing."

    "Dass diese Chance bestanden hat, dass eine solche Durchdringung möglich war, zeigt ja, dass die deutsche Bevölkerung, aber auch Sympathisanten außerhalb Deutschlands sehr lange breit waren, dem Zug der Nazis zu folgen. Das heißt die Chancen standen in einer merkwürdigen Weise gar nicht schlecht, eine neue moralische Welt zu schaffen, eine neue Wertewelt zu schaffen, in der diese radikale Art von Ausgrenzung stattfindet. Und deshalb gehört aus meiner Sicht ergänzend zu der Diagnose des Gattungsbruchs, im Hinblick auf die Überzeugungstäter, die nazistische Führungsschicht usw - auf der anderen Seite auch mein komplementärer Begriff, dass ein Gattungsversagen stattgefunden hat. Das zeigt, dass es keineswegs so weltfremd war, gewisse moralische Grenzen, die für uns selbstverständlich sind, auch für viele Leute damals selbstverständlich waren, auf Dauer zu verschieben, und zwar so zu verschieben, dass plötzlich ein anderer moralischer Planet sichtbar wurde, auf dessen Weg sich Auschwitz befand. "

    Zimmermanns Begriff Gattungsversagen meint, dass die Menschen der nationalsozialistischen Versuchung nicht widerstanden haben. Sie hätten zugelassen, dass eine menschenverachtende Antimoral ein ganzes Land regiert und die Menschheit in wertes und unwertes Leben spaltet.

    Dagegen lässt sich allerdings einwenden, dass die nationalsozialistische Führung sich nicht offen zu ihren Taten stellte, sondern die Verbrechen in den KZ und den Völkermord an den Juden vor der deutschen Bevölkerung und vor der Weltöffentlichkeit geheim hielt.
    Weiterhin muss man bedenken, dass nicht jedes Mittun aus freien Stücken oder Sympathie für das Regime erfolgte, sondern dass sich viele aus Angst vor Repressalien zum Mitmachen oder Wegsehen verleiten ließen.

    Viele beteiligten sich an der nationalsozialistischen Herrschaft, ohne dass sie bedroht oder eingeschüchtert worden waren - aus Opportunismus, Karrieresucht oder politischer Blindheit. Die Weimarer Demokratie, die erste in Deutschland, war 1933 gerade einmal 14 Jahre alt, sie steckte noch in den Kinderschuhen.
    Auch in der Philosophie erlagen manche der Versuchung, unter diesen auch Martin Heidegger, dessen Stern in den 20er Jahren mit dem Werk Sein und Zeit aufgegangen war. Man hatte ihn als neuen König der Philosophie gefeiert.
    Volker Gerhardtt, der Philosophie an der Humboldt Universität in Berlin lehrt, zum Fall Heidegger:

    "Ich glaube, dass er als Philosoph überschätzt wird, aber dass er ein anregender origineller Kopf ist, das wird man nicht bestreiten.
    Er ist vor allem eins: er ist maßlos in seinen philosophischen Ansprüchen gewesen, und er wollte von Anfang an, spätestens seit Beginn der 20er Jahre, eine philosophische Wende herbeiführen, die alles in den Schatten stellt, was seit Sokrates und Platon gedacht worden ist. Und ich sehe eine Verbindung zwischen dieser Maßlosigkeit und der Verführbarkeit dieses Denkers, durch eine politische Bewegung, die ebenfalls in ihren Analyse, Erwartung und in den politischen Zielen maßlos war. … Es bis heute immer hin und zurück gewendet wird, ob er denn nun wirklich ein Antisemit gewesen ist. Seine Frau war es ganz bestimmt, bei ihm gibt es den einen oder anderen Zweifel. Aber seine Rektoratsrede von 1933 ist ein nationalsozialistisches Pamphlet, und ist vor allem eine Verkehrung philosophischer Traditionen und insofern ein bleibender Schandfleck in der deutschen Philosophie."

    Am 27. Mai 1933 übernahm Heidegger das Rektorat der Universität Freiburg. In seiner feierlichen Rede mit dem Titel "Die Selbstbehauptung der deutschen Universität" stellte er sich ostentativ an die Seite der nationalsozialistischen Bewegung. In existenzphilosophischen Metaphern beschwor er den nationalen Aufbruch. Bei Heideggers eigenwillig pathetischer Wortwahl blieb zwar manches in der Schwebe - Meinte er genau dasselbe wie die Nazis oder nicht? - aber umso eindeutiger waren die Umstände. Heidegger hatte selber angeordnet, dass zum Festakt das Horst-Wessel-Lied gesungen und ‚Sieg Heil’ gerufen werden sollte.

    Ein Jahr lang blieb Heidegger Rektor der Freiburger Universität. In diese Zeit fiel zum Beispiel ein diffamierendes Gutachten über den jüdischen Philosophen Richard Hönigswald. Es gab den Ausschlag, dass Hönigswald von der Münchener Universität entlassen wurde. Im Laufe der 30er Jahre zog sich Heidegger mehr und mehr zurück, ohne sich jedoch direkt vom Nationalsozialismus zu distanzieren.

    Was hat Heidegger getrieben, sich 1933 den Nazis anzudienen? Geschah es in der verblendeten Annahme, wie Karl Jaspers meinte, dass sich der Denker dazu berufen wähnte, ‚den Führer zu führen’.
    Auch in der Nachkriegszeit, in der Heideggers Philosophie wiederum eine dominierende Rolle spielte, hat er bis zu seinem Tod 1976 kein öffentliches Wort zu seiner Verstrickung und zum Holocaust gefunden. Gerade dieses Schweigen verübeln ihm auch jene, die seine Philosophie schätzen.

    " Heidegger hat ausgemacht, wo die Weichen des abendländischen Denkens gestellt wurden. Sie wurden schon im antiken Griechenland gestellt in Richtung rechnenden Denkens. … Er hat in dem Nationalsozialismus die radikale Abkehr vom rechnenden Denken gesehen, einen Hoffnungsschimmer, der es möglich machte, hinter die falsche Weichenstellung des Denkens, die in der Antike bereits passiert ist, zurückzukommen und einen Neuanfang zu machen. Das war seine Hoffnung.
    Nun muss man sagen, das war seine philosophische Hoffnung, politisch war er zu ungebildet um sehen zu können, was dann politisch dahinter steckte, und was das politisch auslöste."

    Heideggers politische Blindheit, seine fehlende Urteilskraft ist offensichtlich. Darin sind sich alle einig. Uneinigkeit herrscht darüber, wie viel oder wie wenig seine Philosophie mit dem Nationalsozialismus zu tun hatte. Gibt es darin eine Anfälligkeit für irrationales Denken oder sogar eine Affinität zur völkischen Ideologie?
    Susan Neiman:

    "Heidegger ist nicht nur ein deutsches Problem. Er ist auch in Frankreich und in bestimmten Kreisen in den USA sehr hoch gehalten… Es muss vielleicht etwas an diesem Heidegger geben, wenn bestimmte Leute, die ich sehr schätze, beeindruckt sind.
    Ich habe mehrmals versucht es zu eruieren und ich verstehe es nicht. Und ich verstehe es nicht wegen seines wirklich unentschuldbaren Umgangs mit den Nazis. Ich finde nicht nur philosophisch, sondern auch menschlich, irgendein denkender Mensch, der sich in den Dienst der Nazis stellt und nach dem Krieg absolut nichts dazu sagt, dessen Gedanken kann ich nicht ernst nehmen in anderer Hinsicht.
    Aber ich muss dazu sagen, Heideggers Sprache, auch ohne seine politischen Fehltritte ,habe ich immer als sehr problematisch empfunden, … ein gewisser Hang zur Obskurität, was nicht nur bei Heidegger aber doch sehr bei ihm immer auftaucht, erinnert mich an einen Spruch von Nietzsche: …. Dass man Schlamm in den Gewässern aufrührt, damit sie tiefer ausschauen. … dieses Bild passt sehr genau zu Heidegger."

    Gibt es bei Heidegger eine falsche Tiefe? Ist dies sogar ein Symptom für einen bestimmten Strang in der deutschen Philosophie? Ein Stück Weltfremdheit, ein Vakuum, in das dann in Krisenzeiten unversehens politische Macht einströmen kann. Darauf hat der Philosoph und Soziologe Hellmuth Plessner, selber ein von den Nazis vertriebener, aufmerksam gemacht: diese Art Philosophie tendierte zu einem gefährlich freien Schwebezustand über der Realität, wodurch sie in Krisenzeiten den Machtverhältnissen am Boden um so leichter anheim fiel.

    Die Diskussion im Fall Heidegger wird weitergehen. Inzwischen ist in der Gesamtausgabe des Heideggerschen Werkes auch der Band 16 erschienen, wo man die berüchtigte, aber im Detail kaum bekannte Rektoratsrede nachlesen kann, aber auch andere Texte, Reden und Aufrufe Heideggers aus dieser Zeit.

    Unter den kritischen Publikationen zu Heidegger hebt sich vor allem Rüdiger Safranskis philosophische Biographie heraus: Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit. Die Schrift bietet eine doppelte Perspektive, sie schaut sowohl von außen, historisch und politisch auf Heidegger, aber sie versucht auch von innen seiner Philosophie gerecht zu werden.
    In Frankreich sorgt derzeit der Philosoph Emmanuel Faye für Aufsehen. Sein gerade erschienendes Buch Heidegger. L’introduction du nazisme dans la philosophie behauptet, dass Heidegger verantwortlich sei für die – so Titel und These ins Deutsche übersetzt - Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie.

    "Ich halte es nicht für verkehrt, wenn die Diskussion über Heidegger weiter geht, das ist eine Auseinandersetzung mit dem, was man das radikal Böse nennt, auch seine Ausläufer in der Philosophie. Ich halte das für einen wichtigen Schritt der Bewusstmachung und es ist wichtig, da auch noch einmal genauer hinzugucken."

    "Es hat auch andere gegeben, und wenn von Heidegger die Rede ist, muss man auch sofort den Namen von Karl Jaspers erwähnen, der Lehrverbot hatte, der für den ersten April 1945 deportiert werden sollte, das war schon alles geplant, weil er eben in Treue zu seiner jüdischen Frau hielt, und das ist dann, weil die Amerikaner zu diesem Zeitpunkt schon in Heidelberg waren, unterbunden worden.
    Und Karl Jaspers hat gleich nach Kriegsende eine kleine Schrift über die Schuldfrage geschrieben, und das gehört nach wie vor zum klärendsten, was es zum Komplex der Schuld und der nationalsozialistischen Verbrechen gibt, auch für die, die ‚nur’ Mitläufer waren, oder auch wie Jaspers selbst davon als Opfer betroffen waren. Und diese Auseinandersetzung mit dem Schuldkomplex, die halte ich für eine große philosophische Leistung und an die sollten wir uns mit größerer Intensität erinnern als an das Versagen des maßlosen Herrn Heidegger."

    In der Schrift die Schuldfrage unterscheidet Jaspers zwischen moralischer und metaphysischer Schuld. Moralische Schuld meint die individuelle Zurechnung von Schuld für Leute, die sich im Nationalsozialismus unmittelbar schuldig gemacht haben, und die dafür moralisch, gegebenenfalls auch juristisch zur Verantwortung zu ziehen sind.
    Darüber hinaus spricht Jaspers von metaphysischer Schuld. Damit meint er den Mangel an Solidarität mit den Menschen. Diese Solidarität sei ein unbedingter Anspruch, auch da wo sie aufgrund der realen Machtverhältnisse moralisch nicht mehr einzulösen ist.
    Jaspers schreibt:

    "Diese Solidarität ist verletzt, wenn ich dabei bin, wo Unrecht und Verbrechen geschehen, … wenn ich dabei war und überlebe, wo der andere getötet wird, so ist in mir eine Stimme, durch die ich weiß: dass ich noch lebe ist meine Schuld…. Wir Überlebenden haben nicht den Tod gesucht. Wir sind nicht, als unsere jüdischen Freunde abgeführt wurden, auf die Straße gegangen, haben nicht geschrieen bis man auch uns vernichtete. Wir haben es vorgezogen, am Leben zu bleiben, mit dem schwachen, wenn auch richtigen Grund, unser Tod hätte doch nichts helfen können… Diejenigen aber, die in völliger Ohnmacht empört, verzweifelt. es nicht hindern konnten, taten wiederum einen Schritt in ihrer Verwandlung durch das Bewusstwerden der metaphysischen Schuld. "

    Karl Jaspers schrieb und dachte aus der Perspektive des betroffenen Zeitgenossen. Sein Begriff der metaphysischen Schuld forderte die deutsche Nachkriegsgesellschaft und jeden Einzelnen heraus. Auch da, wo der einzelne sich im unmittelbaren moralischen Sinne nichts vorzuwerfen hatte, soll er sich sein Versagen bewusst machen, Scham empfinden. Denn nur im Durchgang durch dieses Versagen und diese Scham kann eine neue moralische Verantwortung vor der Zukunft und der Geschichte erwachsen.

    Die nationalsozialistische Barbarei war auch ein geistiger Kahlschlag. Sie hatte viele Philosophen aus Deutschland vertrieben, darunter zahlreiche jüdische Denker: Theodor W. Adorno, Günter Anders, Hannah Arendt, Ernst Bloch, Max Horkheimer, Hans Jonas, Karl Löwith, Herbert Marcuse und andere mehr. Die Aufzählung liest sich wie ein halbes Kompendium der deutschen Philosophie des 20. Jahrhunderts. So wird deutlich, welch bedeutenden Anteil jüdische Denker an der Philosophie und am Geistesleben in Deutschland hatten. Die meisten der Vertriebenen traf ein hartes Emigrantenschicksal, sie verloren Verwandte und Freunde in den Vernichtungslagern. Das Wort Auschwitz war Ihnen eingebrannt, auch wenn sie persönlich verschont blieben.
    Volker Gerhardtt:

    "Einige Emigranten sind gottseidank wieder zurückgekehrt. Unter denen, die zurückgekehrt sind, hat Adorno eine Sonderstellung, weil er Auschwitz, dem Vergessen, was er befürchtete, entreißen wollte, und ich glaube, dass er dabei eine ganz wesentliche aufklärerische und erzieherische Rolle gespielt hat, auch dadurch, dass er manches kontrafaktisch, geäußert hat. Also sein immer wieder zitierter Satz, dass nach Auschwitz kein Gedicht mehr möglich ist, ist ja gegen die Realität, es ist ja gleich danach wieder gedichtet worden, der Mensch lebt weiter, aber trotzdem ist es ein Stachel, und er macht durch einen solchen Satz eben die Ungeheuerlichkeit deutlich, er versucht auszudrücken, dass eigentlich nach Auschwitz alles still stehen müsste, eigentlich dürfte kein Leben mehr sein, eigentlich müssten wir vor Entsetzen starr sein und diesen Impuls hat er in unerhörter Weise artikuliert, er hat mich auch persönlich auf diese Weise sehr beeindruckt und deswegen würde ich sagen, lohnt es sich in diesem Punkt ihn immer wieder zu hören und zu lesen."#

    Kein anderer Philosoph war während der sechziger Jahre so präsent im Radio und Fernsehen wie Th. W. Adorno. Seine Vorträge und Gespräche umkreisten in immer neuen Anläufen den Zivilisationsbruch Auschwitz und die Frage, wie sich in der neuen Generation eine kritische Persönlichkeit herausbilden könne. Erziehung zur Mündigkeit, Erziehung nach Auschwitz, Aufarbeitung der Vergangenheit lauteten einige Titel. Hier zeigte Adorno ein anderes Gesicht. Neben dem hermetisch schreibenden Philosophen, dessen Texte schwer zu verstehen waren, tauchte ein leicht verständlicher Redner und streitbarer Intellektueller auf.

    Aber während der Volksaufklärer Adorno positive Ziele benannte, blieb der Philosoph in der Sackgasse seiner pessimistischen Diagnose stecken. Adorno erblickte eine – wie er sagte - vollends verwaltete Welt, der das Individuum ohnmächtig ausgeliefert ist. Er beharrte auf der Sensibilität des Einzelnen. Aber alles Allgemeine in Form von Gesetzen oder Prinzipien war ihm verdächtig. So misstraute Adorno der Ausarbeitung einer positiven Morallehre ebenso wie den Institutionen des Rechtsstaates und der bürgerlichen Demokratie. In seiner gemeinsam mit Horkheimer verfassten Schrift Dialektik der Aufklärung hat er sogar der Vernunft ein Gewaltmoment vorgeworfen.
    Ist Adorno aus heutiger Sicht zu weit gegangen in seiner Kritik?

    "Rationaltitätskritik, das ist sicherlich ein wunder Punkt. Denn die Nationalsozialisten wären, das ist meine Überzeugung, nicht möglich gewesen ohne die rücksichtlose Kritik an der bürgerlichen Vernunft, und ohne die Raserei gegen das Rationalitätsprinzip. Hier müsste man an erster Stelle gleich wieder Heidegger nennen, der das sich zum obersten Ziel gesetzt hat, aber auch sehr viele andere, aus der Schule der Phänomenologie, sehr viele aus der Schule der marxistischen Theorie, die wiederum ihre eigenen Gründe hatten, alles zu verwerfen, was sie der bürgerlichen Welt zurechneten.
    Das hat mit dazu beigetragen, dass das bürgerlich Selbstverständliche, und damit auch die Tradition der Vernunft und der Aufklärung Ende der 20er Jahre dermaßen in Misskredit geraten war, dass die Nationalsozialisten leider leichtes spiel hatten.
    Und hier hätte ich den Emigranten, die nach Frankfurt zurückgekehrt sind, Adorno insbesondere, Horkheimer etwas weniger stark, doch gewünscht, dass sie etwas mehr von dem demokratischen Modell lernen, dass sie in Amerika allein schon deshalb kennen lernen konnten, weil es ihnen Schutz geboten hat.
    … Das ist eine Leistung, die dann erst in der nächsten Generation, auch da nach langem Suchen, aber dann mit äußerster Bestimmtheit von Jürgen Habermas vorgetragen worden ist."

    Jürgen Habermas korrigierte die ältere Frankfurter Schule, indem er zu einer neuen Hochschätzung von Rechtsstaat und Demokratie gelangte. Diese Anerkennung geschah aber nicht als politischer Standpunkt abseits der Philosophie, sondern in Verbindung mit seiner Konzeption einer kommunikativen Vernunft, einer Rationalität, die in die Sprache eingelassen ist.
    Bei Habermas stellt die kommunikative Vernunft keine über allem thronende Gerichtsinstanz dar, keine objektive Instanz, sondern ein prozessuales Prinzip. Vernunft herrscht nicht, sondern sie stellt sich selber allererst her in einem demokratischen Prozeß der Meinungs- und Willensbildung, ja sie ist dieser Prozeß selbst. In dieser Weise versucht Habermas Vernunft und Demokratie philosophisch zusammenzuführen.

    Habermas praktiziert diese Verbindung auch selbst. Deshalb sind seine politischen Stellungnahmen und intellektuellen Einmischungen nicht Akte, die er neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit aus staatsbürgerlicher Verantwortung heraus sozusagen zusätzlich ausführt, sie entsprechen vielmehr seinem Ansatz.
    So hat Habermas zum Beispiel in den 80er Jahren den so genannten Historikerstreit angestoßen. Darin ging es um die Frage, wie sich die Bundesrepublik zum Nationalsozialismus stellt, ob sie ihn wie manche konservative Historiker vorschlugen, lediglich als einen weiteren Betriebsunfall in der Geschichte der Völker relativiert und historisch ablegt oder aber ein Bewusstsein für die Außerordentlichkeit der Katastrophe und der daraus folgenden Verantwortung wach hält. In solchen Debatten demonstrierte Habermas, was unter deutschen Gelehrten eher seltene Tugenden sind: Mut und politische Leidenschaft.

    "Habermas hat sich ständig eingemischt bis zuletzt bei der Frage der Genforschung, und das ist etwas was so weit ich das sehe, allen anderen in der Frankfurter Schule nicht gegeben war, so wie Habermas ein politisch-analytisch klar sehender und erkennender und auch auf die Hintergründe aufmerksam machender Zeitgenosse. … Habermas ist jemand, das muss man deutlich sagen, der in der Hinsicht in Dtld unersetzbar ist, ich bange schon vor der Zeit, wo Habermas sich nicht mehr zu Wort meldet, ich frage mich, wer soll das tun, es ist aber notwendig, damit Demokratie sich entwickeln kann."

    Was die Theorie angeht, so ist Jürgen Habermas überzeugt, dass sein Konzept einer kommunikativen Vernunft und seine Diskursethik eine universalistische Folie bieten, auf der man moralische Normen wie die Menschenrechte erfolgreich begründen und verteidigen kann. Rolf Zimmermann ist zwar mit den Inhalten einverstanden, aber den Glauben an eine universalistische Begründung teilt er nicht. Auschwitz sei eine grausige Lektion, welche Abgründe des Bösen möglich waren und fortan möglich bleiben.
    Was helfen könnte, so Zimmermann, wäre sich immer wieder den Abgrund zu vergegenwärtigen.

    "Deshalb title ich auch, dass es nicht um die Frage nach dem guten Leben geht, in unserer Zeit, sondern dass die Moral wesentlich die Aufgabe hat, …. in den Vordergrund das zu rücken ist, was wir auf gar keinen fall wollen, was auf gar keinen Fall akzeptabel ist, so wie man auf gar keinen Fall mit Menschen umgehen darf oder soll, um dann in Verbindung mit historischen Erfahrungen, von Auschwitz… zu der positiven inhaltlichen Füllung unserer Moral zu kommen: Achte jeden Menschen als gleichberechtigt an! Achte seine grundrechte! – Aber wie gesagt, durch die Erfahrung des Gattungsbruchs immer mit dem Gesichtspunkt zu versehen: wir können nicht sicher sein, ob uns bei dieser Art an die Dinge heranzugehen alle Menschen folgen, deshalb ist der Universalismus im Sinne einer realen Weltverbreitung ein offenes Problem, es gibt keine Garantie, dass er sich auf allen Teilen der Welt so verbreitet, wie wir das gerne hätten."

    In den Augen von Rolf Zimmermann kommt also der historischen Erfahrung, eine wichtige moralphilosophische Bedeutung zu.
    Aber die Erinnerung wach zu halten und zu gestalten, ist ein eigenes Problem. Denn Auschwitz rückt langsam in die Geschichte. Diejenigen, die den Nationalsozialismus im Erwachsenenalter erlebt haben – als Täter, Mitläufer, Zeugen, oder Opfer, die davon kamen - sind heute entweder hochbetagt oder schon verstorben.
    Der Generation der Zeitgenossen folgten andere nach. Das Grauen vor Auschwitz bleibt, aber die Art der Auseinandersetzung hat sich verändert.
    Detlef Horster:

    "Ich zum Beispiel habe überhaupt erst mit 13 Jahren erfahren, dass es KZs gegeben hat, bei uns wurde das verschweigen, wir waren erschrocken und empört und diese Empörung hat die 68er Generation geprägt und auch initiiert, … Die 68er Generation war die Generation der Aufklärung, die die eigenen Kinder und die Kinder, die bei Lehrern der 68er Generation in die Schule gegangen sind, aufgeklärt hat. Hier hat dann eine nicht nur empörte sondern schon sachliche Auseinandersetzung stattgefunden, wo sehr viel mit Fakten, mit Zahlen, mit Untersuchungen gearbeitet wurde, … Und jetzt haben wir sehr viel Forschungs- und Gedenkstätten. Wenn wir an Buchenwald denken, also ich kenne kaum jemanden aus meinem Bekanntenkreis, der wenn er Weimar besucht, nicht auch Buchenwald besucht. Jorge Semprun hat darüber seine Romane geschrieben, dieser Häftling der da steht und denkt, hier in der Nähe müsste Goethe sein Gedicht geschrieben haben … bringt einen das natürlich zum Nachdenken."

    Weimar und Buchenwald – Stolz und Schande der deutschen Geschichte liegen so eng beieinander.
    Inzwischen gibt es überall in Deutschland Dokumentzentren, Gedenkstätten, Mahnmäler zum Nationalsozialismus. Das Holocaust-Denkmal in unmittelbarer Nähe des Brandenburger Tors beschreitet neue Wege. Das Wellental der Stelen bildet ein Schachbrettraster von Gassen, das Körper und Blick brutal gefangen nimmt und in seine Logik zwingt. Nur vereinzelt und an den Rändern trifft man im toten Reich der Steine auf etwas Lebendiges, einen Baum oder Strauch.
    Das Mahnmal versucht auf diese Weise den Besucher in seiner Wahrnehmung und in seinem Erleben aufzustören, um ihn über diese sinnliche Analogie zum Nachdenken zu bewegen.
    Aber das unterirdische Zentrum der Information dient in erster Linie nicht der Erinnerung, sondern verfolgt eine andere Absicht, meint Detlef Horster:

    "Die Intention ist noch einmal eine ganze andere, wenn wir hier versuchen die Namen derjenigen, die ermordet worden sind in den KZs, öffentlich bekannt zu machen. … Die Intention ist nicht die des Erinnerns, sondern die Intention ist die der Wiederherstellung von Menschenwürde.
    Jorge Semprun spricht immer von dem Sträfling 4600.. und noch was. Die Häftlinge hatten alle keine Namen mehr. Es sollte die Menschenwürde vernichtet, beseitigt werden, … man hat versucht, durch die Nummern dann das Menschsein auszulöschen und damit auch die Menschenwürde zu nehmen. … Dadurch, dass die Namen gesagt werden, die hinter diesen Nummern der KZ-Häftlinge stecken, soll den Menschen die Menschenwürde wiedergegeben werden."

    Wie kann in Deutschland durch solche Anstrengungen der symbolischen Wiedergutmachung die Auseinandersetzung und die Erinnerung in andere Generationen weiter getragen werden?

    Volker Gerhardtt ist der Überzeugung, dass die Erinnerung auch in Zukunft wach gehalten werden kann. Aufgrund der technischen und kulturellen Entwicklung stehen uns eine Fülle von historischen Berichten, Bildern, Filmen zur Verfügung, die uns diese Zeit und das Leid der Opfer zumindest im Medium anschaulich macht und nahe bringen können. Wichtig sei es, sich diesen Zeugnissen immer wieder auszusetzen. Aber noch wichtiger scheint ihm die Frage der moralischen und politischen Konsequenzen
    Zum einen fordert er, dass wir anders als die Weimarer Republik, ohne Wenn und Aber für Demokratie und Rechtsstaat und ihre Institutionen eintreten, die uns in Krisenzeiten Schutz bieten können.

    "Eine andere wichtige Konsequenz ist, dass man sich an Einzelschicksalen vor Augen führt, dass man auch unter solchen Bedingungen offenbar noch handeln konnte, dass es auch in auswegsloser Lage Menschen wie die Geschwister Scholl gegeben hat, und dass auch in der Nachbarschaft Zeichen gesetzt werden konnten, und insofern Handlungen auch unter solchen ausweglos erscheinenden Bedingungen möglich sind.
    Das hat eine Konsequenz, die besonders die Ethik zu ziehen hat, nämlich die Frage: wie kann sie den Begriff der Zivilcourage entsprechend exponieren und rechtfertigen und wie können wir es im Ethikunterricht, aber auch durch eine exemplarische Politik, durch ein exemplarisches Handeln ermöglichen, dass die Zivilcourage eine Tugend ist, die niemals aufgegeben werden sollte. "

    Den KZ-Häftlingen hatte man allen Mut genommen und jedwede Kraft, für den anderen einzutreten. Primo Levi schildert jenen unglaublichen Moment, wo im KZ Auschwitz das moralische Handeln wiedereinsetzt und das Menschsein zurückkehrt:
    Vor der vorrückenden Roten Armee hatte die SS das Lager verlassen und die Häftlinge in einem Gewaltmarsch verschleppt. Nur die Kranken hatte man in ihren Baracken sich selbst überlassen. Seit Tagen vegetierten sie in eisiger Kälte dahin; die weniger schwachen streunten draußen im Lager umher auf der Suche nach Wasser, Nahrung und Heizmaterial.

    "Da geschah es, dass Towarowski den anderen Kranken vorschlug, sie sollten uns dreien, die wir arbeiteten, jeder eine Scheibe Brot abgeben; und es wurde akzeptiert. Nur einen einzigen Tag vorher wäre ein solches Ereignis undenkbar gewesen. Das Gesetz des Lagers sagte: ‚Iß dein Brot, und wenn Du kannst auch das deines Nächsten’, und es ließ keinen Platz für Dankbarkeit. Dies hier bedeutete nun wirklich, dass das Lager gestorben war. Es war die erste menschliche Geste, die unter uns geschah. … der Beginn jenes Vorgangs … der uns, die wir nicht starben, von Häftlingen nach und nach zu Menschen verwandelte."