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Denkt er an Deutschland

Europa ist oft Thema seiner Bücher, der Gegensatz von Ost und West. In seinem neuesten Buch wirft der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk einen Blick auf Deutschland. Aus der Perspektive des von Bahnhof zu Bahnhof eilenden Lesereisenden gerät das Bild allerdings etwas verschwommen, schwankt zwischen Liebeserklärung und satirischer Kampfschrift.

Von Beatrix Langner | 24.11.2008
    Europa gibt es nicht, hat der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk einem Journalisten einmal gesagt. Seit Jahren plädiert er mit seinen Romanen, Erzählungen, Essays, Reisereportagen dafür, dass sich das ändert. Er hat die Slowakei, Ungarn, Slowenien, Rumänien, die Ukraine und Moldawien bereist und über vergessene Regionen wie Transnistrien oder Shqiperia geschrieben, das bestenfalls Karl-May-Leser noch mit Albanien, dem Land der wilden Skipetaren, verbinden.

    Nach dem Essay "Mein Europa" von 2004 und dem Reisebuch "Unterwegs nach Babadag", einem Hirtendorf in Ostrumänien, warfen ihm deutsche Rezensenten "antiwestliche Haltung" vor. Doch es geht um etwas ganz anderes. Es geht um die Unteilbarkeit des kulturellen Gedächtnisses in einem Europa, das sich den ostmitteleuropäischen Staaten in erster Linie als expandierende Wirtschaftsmacht präsentiert. Für die instabilen Gemütslagen, Neurosen und Komplexe seiner neuen Mitglieder scheint es dagegen weniger übrig zu haben.

    Dem "Nouvel Observateur" sagte Stasiuk, die Geschichte des Kommunismus dürfe aus dem neuen Europa nach der sogenannten Osterweiterung nicht ausgeklammert werden. Der "Neuen Zürcher Zeitung" erklärte er trotzig, Rumänien sei soviel wert wie Belgien und die Niederlande zusammen. In der "Süddeutschen Zeitung" warf er das Menetekel einer Balkanisierung Westeuropas an die Wand: Zigeunerwagen auf den Champs Elysées, bulgarische Bären und betrunkene Polen in den Fußgängerzonen westeuropäischer Konsumkathedralen.

    Der "Welt" gestand er, er "fürchte die Deutschen und die Russen, (...) verachte die einen wie die anderen, (...) bewundere beide. "Vielleicht", so sagte er wörtlich, " ist es das polnische Schicksal, unentwegt über den eigenen Ort in Europa und der Welt zu meditieren. Pole sein, heißt in völliger Vereinsamung leben. Pole sein, heißt, der letzte Mensch östlich des Rheins zu sein."

    Nun ist in der edition suhrkamp ein Essay erschienen, dessen Gegenstand Stasiuks Verhältnis zu Deutschland ist. Man sollte allerdings nicht zu viel erwarten. Vieles hat Stasiuk an anderer Stelle schon besser, leuchtender, leidenschaftlicher gesagt. Leichte Müdigkeit liegt über dem Text, der sich gewissermaßen nicht entscheiden kann, ob er Liebeserklärung oder satirische Kampfschrift sein will.

    Denn zwei Dinge treffen hier aufeinander wie Essig und Öl: die Eitelkeiten des deutschen Buchmarkts, der Andrzej Stasiuk nach seinem ersten großen Erfolg mit dem Roman "Die Welt hinter Dukla" als sein literarisches Ziehkind und bedeutendste Entdeckung in der polnischen Gegenwartsliteratur hätschelt, und die Denk- und Erzähltradition des subversiven polnischen Samisdat, dem sich Stasiuk noch immer verpflichtet fühlt.

    Dass Deutschland ihm fremd geblieben ist, daran lässt er keinen Zweifel. Nicht, weil es das Land der Massenmörder geblieben wäre, sondern weil es von Blicken verbraucht ist und daher nur denkend begriffen werden könne. "Nach Deutschland fahren, das ist Psychoanalyse", stellt er fest.

    Oder doch nur Arithmetik? 38 deutsche Städte werden durcheilt; ein andermal ist von 60 die Rede und schließlich sind es 117, die sich lediglich unterscheiden lassen in jene, wo Stasiuk nüchtern und jene, wo er betrunken war, Hotelzimmer mit und ohne Minibar, Bahnhöfe, Flughäfen.
    Tübingen - natürlich Schwäne auf dem Neckar vor dem Hölderlinturm. Weimar am Morgen - leer und schön, ein germanischer Giorgio de Chirico. Klassizistische Symmetrie, geometrische Konturen. Berlin, Potsdamer Platz - eine Unterwasserstadt, Postexpressionismus á la Fritz Lang. Aachen - Huldigung an Karl den Großen, "ohne den Europa Eskimo oder Libysch sprechen würde".

    Überhaupt: Die vielen schönen großen Kirchen, Symphonie des Christentums. Deutschland, das Land der Form. Kunst und Kultus. Ein stilisiertes Deutschland, Poesie en passant, der es nicht wirklich gelingt, sich vom Ressentiment zu befreien.

    Meistens bleibt der polnische Rucksackliterat nur einen Tag, höchstens zwei, um aus seinen Büchern vorzulesen; "ein wandernder Gastarbeiter", der sich manchmal wie ein rumänischer Lkw-Fahrer und manchmal wie ein "Hans im Glück" auf der Suche nach Weisheit fühlt. "Wenn du wirkliche Einsamkeit erleben willst", behauptet Stasiuk, "mußt du nach Deutschland fahren. Du mußt fünfzehnmal mit der Bahn die Strecke zwischen Frankfurt und Köln zurücklegen und mitten in der Nacht in Hamm im siebten Stock eines Hotels mit goldbeschlagenen Theken und Geländerstangen aufwachen. Und man muss in Krefeld, in Hagen, und in Duisburg gewesen sein, damit einem der Bahnhof in Stuttgart Linderung verschafft, weil er an den Gara de Nord (in Bukarest) erinnert."

    So what? Lesereisen ist nicht Reisen. Und Deutschland ist nicht die Summe seiner Zugverbindungen. Um die drangvolle Selbstironie in diesen satirischen Reisebildern zu begreifen, muss man schon in Stasiuks andern Büchern und Artikeln nachlesen. Dass Rumänien "eine Art Polen" sei, "nur noch wunderbarer", erklärte er bereits letztes Jahr einem Journalisten.

    Der Westen, das sind dagegen "Epiphanien der Zivilisation", Knotenpunkte kumulierter Wirtschaftskraft; "groß, bedrohlich und schön" wie der Bahnhof von Frankfurt am Main. Genauso muss ein Germane vor circa 2.000 Jahren gefühlt haben, der nach Rom gerufen wurde: "man muss
    einen Abdruck der rumänischen Steppe im Herzen tragen, um da heil rauszukommen." Rumänische Steppe? In einem Gebirgsland?

    Aber Stasiuk liebt nun einmal die ironische Übertreibung, wie alle Romantiker. Nicht von Europäern und nicht von Polen und Deutschen ist daher konsequenterweise die Rede, sondern von Germanen und Slawen, als lebten wir noch in Volksstämmen zusammen.

    Was dahintersteckt, ist die Fortschreibung der romantischen Idee von Europa, wie sie zu Anfang des 19. Jahrhunderts von Intellektuellen entworfen wurde: ein zerrissener Kontinent, hier der heidnisch-germanische Norden und dort der katholisch-klassizistische Süden, Thule und Rom, Poesie und Rationalität, Natur und Zivilisation.

    Heute heißen die Pole Kiew und Lissabon, Tallin und Tirana, Osten und Westen, doch der Riss ist geblieben, und er geht mitten durch Polen. Der äußerste Westen, in Stasiuks soeben erschienenem Portugal-Buch "Fado" liebevoll beschrieben, und der äußerste Osten, Russland, sind die neuen Antipoden eines Europäertums, das noch nicht zu sich selbst gefunden hat.

    Dazwischen der polnische Mitteleuropäer Andrzej Stasiuk, das "Kind Masowiens". Von den Ur-Slawen für zu westlich gehalten, vom Westen für zu osteuropäisch, schwächelt sein Slawentum im Osten, pulst kräftig im Westen und flüchtet sich schließlich in ironisches Pathos: "o unbehauste slawische Seele!"

    Für Stasiuk, der die Landkarte einmal das "letzte Wort und de(n) tödliche(n) Kuß der Ereignisse" genannt hat, sind es die vergessenen, die sterbenden Orte, die zu Poesie werden. Rückständig, arm, schäbig, apathisch, peripher sind die mittelosteuropäischen Landschaften, die er besucht hat, eine unterbelichtete, untergehende Welt.

    Was ist das, was da untergeht? Am ehesten wohl eine Art zu leben, eine menschliche Existenzform oder, wie Stasiuk sagt, ein Menschsein, das immer noch feudal-patriarchalisch oder totalitär geprägt, verzweifelt nach seiner ethnisch-nationalen Identität sucht, bevor es endgültig von der nivellierenden Macht der globalen Marktgesetze geschluckt werden wird.

    Auf nach Babadag also, Europa als globales Dorf - ist das die Vision des geschäftsreisenden Flaneurs aus den Karpaten? Es hört sich ganz so an: "Sich nicht waschen, die Kleider nicht wechseln und sich frei und zu Hause fühlen, von Charkow bis Lissabon. Sich wie auf dem eigenen Dorf fühlen und den lieben langen Tag in Unterhosen von vorgestern herumlaufen."

    Darum beschreibt er so großartig das natürliche Licht des Himmels, der Jahreszeiten zwischen Dukla und Babadag. Und darum bleibt das Kunstlicht der Metropolen, ihrer Bahnhöfe und Konsumkathedralen in diesem Buch so merkwürdig matt. Schön ist Deutschland nur im Regen.
    "Melancholie und Nostalgie, das ist das einzige Mittel, um über Deutschland nicht den Verstand zu verlieren."

    Berlin kommt unter allen deutschen Städten vergleichsweise gut weg, die ehemals gespaltene Stadt. "Das Slawische, ein bißchen schlechteres Essen und billigere Kosmetika, das (seien) dann doch Elemente, die das Menschsein befördern." Denn die DDR-Geschichte sei das "fehlende Bindeglied zwischen Slawen und Germanen", das leicht Peinliche, Schmuddelige, "wo die Deutschen ein bißchen von ihrem Sockel runterkommen".
    Stasiuk hat dieses Buch seinen wunderbar humorvollen deutschen Übersetzern Renate Schmidtgall und Olaf Kühl gewidmet. Also doch eine Liebeserklärung.

    Andrzej Stasiuk: Dojczland
    Aus dem Polnischen von Olaf Kühl,
    edition suhrkamp 2008
    92 Seiten, 9 Euro