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Deprimierende Belege

Der versuchte Überfall dreier Jugendlicher mit rechtsextremen Hintergrund auf ein thüringisches Weltjugendtags-Camp mit Pilgern aus 40 Ländern am vergangenen Freitag ist ein Beispiel mehr dafür, wie diffus sich rechte Gewalt austobt, wie wahllos sie sich ihre Opfer sucht. Weitere deprimierende Belege dafür sind in einem Buch des Psychiaters und Gerichtsgutachters Andreas Marneros zusammengefasst. Mit knapp hundert Neonazis hat Marneros über die Motive ihrer Taten gesprochen – soweit Kommunikation überhaupt möglich war. Mandy Schielke hat das Buch für Sie gelesen und mit dem Autor gesprochen.

Von Mandy Schielke | 15.08.2005
    An einem Julitag traf Xander Herrn Weiland an einer Imbissbude. Xander war an diesem Tag obdachlos geworden und deprimiert. Herr Weiland, alkoholabhängig und arbeitslos, lud den geknickten jungen Mann kurzerhand ein, bei ihm zu wohnen. Ein Fehler. Denn wenige Wochen später quälte Xander seinen Gastgeber in dessen Wohnung zu Tode. Yannic und Zoran - Xanders Freunde - machten mit. Zwei Tage dauerte Weilands Qual. Die minderjährigen Rechtsradikalen traten ihn mit ihren Stiefeln und verbrühten ihn mit heißem Wasser. Im Hintergrund lief die dumpfe, anstachelnde Musik rechtsextremer Bands. Der Grund für die Tat: Herr Weiland hatte Bier aus dem Kühlschrank genommen, das Xander für sich und seine Kumpel besorgt hatte.

    Der grausame Mord ist einer von den zehn Fällen, mit denen sich Andreas Marneros in seinem Buch auseinandersetzt. Immer taten jugendliche Neonazis Menschen Gewalt an, die eigentlich gar nichts mit ihren Feindbildern zu tun hatten. Rechtsradikale Gewalt richtet sich nicht zwangsläufig gegen Ausländer. So heißt die These des Autors. Die Morde, Erniedrigungen und Quälereien, von denen in dem Buch die Rede ist, waren nicht geplant. Rechtsradikale Gewalt ist häufig ziellos und zufällig. Der Autor Andreas Marneros, Direktor an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Halle:

    "Achtzig Prozent der Opfer sind Deutsche und Nicht-Deutsche wegen einer Ideologie, sondern absolut zufällige Opfer. Und das war mir ein Anliegen, den Menschen hier in Deutschland klarzumachen: Rechtsextremistische Gewalt betrifft uns alle. Es ist nicht nur eine Gefahr für Juden, für Schwarze, für Ausländer, sondern für jeden Menschen hier in Deutschland. "
    Die Gewalt, die Rechtsradikale verüben, ist deshalb nicht unbedingt politisch motiviert. Kann man bei den Verbrechen also überhaupt von rechtsextremer Gewalt sprechen, fragt Marneros zu Recht und plädiert dafür, sie nicht nur auf Verbrechen gegen Ausländer zu reduzieren. Ein Beispiel: Zwei Männer, die Marneros Axel und Bert nennt, haben eine junge Frau – Anna – umgebracht. Sie sagten, Anna habe zur Clique gehört. Die Tat: Erst machten Axel und Bert sie betrunken. Und als die Frau vom Schnaps ohnmächtig wurde, missbrauchten sie Anna, schlugen sie und stachen mit dem Messer auf sie ein. Einen Grund dafür konnten die jungen Männer auch nach langen Gesprächen nicht angeben. Marneros beschreibt die Gerichtsverhandlung:

    "Sechs Monate saßen die Täter direkt vor den Eltern ihres Mordopfers. Sie kannten Annas Eltern gut. Zur linken Seite des Gerichtes saßen die Angeklagten mit ihren Verteidigern, rechts der Staatsanwalt, die Sachverständigen und die Nebenkläger – also Annas Eltern. Und obwohl die Täter gezwungen waren, den Eltern ihres Opfers von Angesicht zu Angesicht zu begegnen, spürte man bei beiden weder tief greifende Reue noch eine emotionale Anteilnahme am Martyrium der Eltern, die all die schrecklichen Einzelheiten ertragen mussten, über die gesprochen wurde. Lippenbekenntnisse, vehemente Gegenbeschuldigungen, demonstratives Kopfschütteln bei den jeweiligen Anschuldigungen des anderen. Das Wort Empathie – sich also in die Gefühle anderer Menschen hineinzuversetzen und Mitgefühl zu entwickeln – blieb für beide tatsächlich ein Fremdwort. "
    Den größten Teil des Buches machen aber nicht solche Verhaltensbeschreibungen aus, sondern die Gespräche im Untersuchungsgefängnis. Der Autor gibt sie im Protokoll-Stil wieder. Es ist diese Dialogform, die die Stärke des Buches ausmacht. Denn sie schafft eine Nähe zu den Tätern, die Reportagen und Hintergrundberichte nicht herstellen können, eine Nähe, die erschüttert und ratlos machen kann. Die Antworten der Neonazis zeugen von ihrem Hass, ihrer Gefühlsarmut und ihrem primitiven Denken: Deutschland, das sei wohl eine Religion, Christen, das müssen Engel sein, Nationalist, das habe wahrscheinlich etwas mit der Presse zu tun. Das sind Assoziierungen, von denen Marneros berichtet. Absurd, denkt man im ersten Augenblick. Dann Hilflosigkeit. Es scheint keine gemeinsamen Begriffe zu geben. Ist Kommunikation also überhaupt möglich? Marneros im Gespräch mit einem der Neonazis, Zoran:

    "Was haben Sie in der rechtsextremen Szene vertreten? "

    "Na, wir waren gegen Ausländer und Juden. Aber Juden sind ja auch Ausländer. "

    "Was genau bedeutet "rechts"? "
    "Gegen religiöse Sachen zu sein. Gegen Ausländer und Juden zu sein. Eben ein Rassist. Es hat mir gefallen. Ich habe mich groß gefühlt. Das war das Hauptsächlichste für mich. Und auch die Musik, die Lieder haben mir gefallen. "

    "Was gefällt Ihnen denn daran? "

    "Es sind Gewaltlieder. Mir gefällt daran, dass sie gegen Ausländer gerichtet sind. Dort wird gesungen, dass Ausländer nicht in Deutschland bleiben sollen. "

    Die Musik von Gruppen mit Namen wie Stahlgewitter, Landser oder Zillertaler Türkenjäger gehört zur Lebenswelt der Neonazis dazu, die Marneros getroffen hat. Die Liedtexte überbringen die gefährlichen Anschauungen - Anschauungen, die über platte Parolen nicht hinausgehen, aber eingängig sind. Die Musik vermittelt Zusammengehörigkeit und Identität, und sie kann zu Gewalttaten anleiten. Das führt Marneros exemplarisch auf:



    "Diese Musik ist höchstgefährlich. Manche sprechen von der Einstiegsdroge in die Szene. Das finde ich falsch. Das ist keine Einstiegsdroge, sondern diese Musik schafft viele Voraussetzungen zur Gewalttätigkeit. Ich habe absichtlich sehr viele Lieder – trotz des ekelhaften Inhaltes – im Buch aufgenommen, um zu zeigen, welche Unmenschlichkeit in diesen Liedern steckt, und parallel habe ich diese Taten dargestellt. "
    Die jungen Männer, die in Untersuchungshaft sitzen und vor Gericht zur Verantwortung gezogen werden, das sind nicht die Chefideologen, die geistigen Brandstifter der Szene. Für Marneros sind sie, so wörtlich, "die Verlierer und Verlorenen". Marneros fühlt sich ein. Aber an manchen Stellen wirkt sein Mitleid pathetisch, und pathetisch sind auch seine wiederkehrenden Appelle, die Gefahr durch Neonazis ernst zunehmen. Sie sind außerdem völlig überflüssig. Denn die Psychogramme sprechen für sich. Sie verdeutlichen auf eindringliche Weise, welche Gefahr von diesen irrational handelnden und gefühlsarmen Menschen ausgeht, die Marneros getroffen hat.

    Neben seine Gesprächsprotokolle stellt der Autor auch biographische Daten der Täter und Einblicke in ihr soziales Umfeld, ihre Kindheit, ihre Familienverhältnisse. So kommt man dem menschlichen Abgrund, in dem die Jugendlichen leben und aufgewachsen sind, noch näher. Schade ist, dass er Forschungen, nach denen auch genetische Ursachen für die Gefühlsarmut und Aggression der Gewalttäter verantwortlich sein könnten, nur beiläufig erwähnt. Marneros, der in Zypern geboren wurde, findet es spannend, die Neonazis mit ihren Feinbildern zu konfrontieren.
    "Wenn wir, wenn ich mit denen zusammen bin, stundenlang oder tagelang in einer Zelle eingeschlossen. Die sind ängstlich, die sind devot. Und dann, wenn Sätze kommen wie 'alle Ausländer raus’, und das kommt sehr häufig vor in diesen Diskussionen, dann frage ich: 'Alle?’ - 'Alle Ausländer raus – ausnahmslos.’ Das ist die Antwort. 'Dann muss ich auch gehen! Wieso denn? Ja, sie merken ja an einem Akzent, dass kein Bayer bin.’ Und sie sagen: ' Nein, Sie doch nicht, Herr Professor. Sie sind doch kein Ausländer. Sie sind doch ein Professor. Was sagen Sie denn da?’ Das ist die Differenziertheit dieser Menschen. "
    Seit der Wende haben Neonazis mehr als 130 Menschen getötet. Die Mehrzahl waren keine Ausländer. Marneros nimmt den Leser mit in diese hässliche, perspektivlose Welt. Manchmal merkt man ihm seine Wut an. Die professionelle Sachlichkeit aber verliert er nicht aus den Augen.

    Mandy Schielke über Andreas Marneros: Blinde Gewalt. Rechtsradikale Gewalttäter und ihre zufälligen Opfer. Veröffentlicht im Scherz Verlag München, 221 Seiten zum Preis von 19 Euro und 90 Cent.