Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 23. Oktober 2010 - 11.05 ? 12.00 Uhr Die Republik im Klassenzimmer ? Der Alltag im französischen Schulsystem Mit Reportagen von Suzanne Krause Redakteur am Mikrofon: Norbert Weber Musikauswahl: Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar ? Opening: (Stimmen) Musik Der Generaldirektor der Abteilung Schulische Erziehung im Erziehungsministerium über das umstrittene französische Bildungssystem Dem französischen Schulsystem gelingt es immer noch sehr gut, in jedem Jahrgang die benötigten zwanzig Prozent Nachwuchs für die französische Elite heranzuziehen. Dabei darf man nicht die Interessen der restlichen achtzig Prozent jeden Jahrgangs vergessen. Wir brauchen ein Bildungssystem, in dem jeder Schüler einen qualifizierenden Abschluss schafft. Und der jugendliche Präsident der linken französischen Schülergewerkschaft FIDL Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, das prangt über jedem Schultor. Doch wenn wir für unsere Freiheit, unsere Rechte auf die Straße gehen, bekommen wir Probleme mit der Polizei. Brüderlichkeit ist kein Problem, wir Schüler kommen untereinander gut klar, auch mit den Lehrern. Aber was die Gleichheit betrifft, da liegt sehr viel im Argen. Immer mehr Schulen verkommen zu Ghettos. Die Republik im Klassenzimmer. Gesichter Europas heute über den Alltag im französischen Schulsystem Mit Reportagen von Suzanne Krause. Am Mikrofon begrüßt Sie Norbert Weber. Musik Die Schule ist in Frankreich als « Schule der Republik » mehr als eine reine Bildungsinstitution. Sie ist begründet in der Devise ?Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? sowie in der Einheit der Nation und versteht sich als Garantin der Werte der Republik. Doch diese republikanischen Werte, die vor 130 Jahren formuliert wurden und über jedem Schultor eingemeisselt sind, sind brüchig geworden. Die ?Schule der Republik? ist zur Zweiklassengesellschaft mutiert. Es brodelt in den Klassenzimmern. Und so verwundert es nicht, dass sich die französische Jugend den jüngsten Streiks der Arbeitnehmer angeschlossen hat, die gegen die Rentenreform und die Politik der Regierung Sarkozy protestieren. Der massive Abbau von Lehrerstellen, die Bevorzugung von Privatschulen, haben in Frankreich zu einem Ungleichgewicht an Bildungschancen geführt. Die Neustrukturierung des französischen Schulwesens, die Staatspräsident Sarkozy zu seinem Amtsantritt angekündigt und nun durchgeführt hat, hat die sozialen Unterschiede in vielen französischen Schulen verschärft. Jedem Schüler ein Maximum zu geben, statt sich damit zu bescheiden, allen nur ein Minimum zu verschaffen, wie der Staatspräsident versprach, sind in der Realität nicht angekommen. Das College Paul Painlevé, eine Mittelschule in Sevran, einer Vorstadt von Paris. Ein trister Sozialbau. Die Kinder, die hier zur Schule gehen kommen aus der Mittelschicht, der Ausländeranteil ist hoch. Das politisch vorgegebene Ziel, hier jedem Schüler zu einem erfolgreichen Abschluss zu verhelfen, ist nur schwer zu erreichen. Mustapha Rezzaki versucht dies mit neuen pädagogischen Mitteln: der Physik- und Chemielehrer lässt seinen Schülern nicht das Geringste durchgehen. Das beginnt schon in der Aula, wo Rezzaki nach der Mittagspause den Strom der Schüler überwacht, die Richtung Pausenhof streben. Rep 1: Rezzaki/Unterrichtsstunde ATMO Pausengong Der Schulgong ist für Mustapha Rezzaki das Startsignal. Nun eilt der Pädagoge in den grauen Pausenhof, dorthin, wo mit weißer Farbe Felder mit dem Namen jeder Klasse auf den Asphalt gemalt wurden. Rezzaki baut sich kerzengerade am Feld A 2 auf. Vor ihm schubst sich zögerlich die Quatrième in Reihe. Zur vierten Klasse gehören neunzehn Schüler: neun Mädchen, zehn Jungen. Vite, vite, schnell, schnell; mit autoritär wedelnder Hand treibt der große schlanke Mann die Vierzehn-, Fünfzehnjährigen an. Das Gros der Schüler ist sichtbar nicht europäischer Abstammung. Genau wie ihr Lehrer: Rezzaki, streichholzkurze dunkle Haare, ein ebensolcher Bart, Brille, lässig elegant gekleidet, stammt aus Marokko. Hopp, hopp geht es in den 2. Stock, in den Physiksaal. (Atmo Bonjour) Ohne eine Minute zu verlieren, beginnt Mustapha Rezzaki mit dem Unterricht. Was er energisch in die Computertastatur tippt, erscheint auf der großen Tafel hinterm Lehrerpult. Thema heute ist die elektrische Spannung. Vite, vite - Rezzaki kommen die Antworten zu zögerlich, sein Blick wird noch strenger, die Stimme schneidend: Ihr habt gesagt, dass ihr keine Fragen habt. Und jetzt sehe ich, ihr habt euren Stoff nicht gelernt. Vorsicht! Ich kann jederzeit überraschend eine Prüfungsarbeit ansetzen. Und was passiert, wenn du die Überraschungsprüfung nicht hinkriegst? Wen rufe ich dann an? Genau, die Eltern zuhause. Mit ihrer Arbeit bringen eure Eltern das tägliche Brot nach Hause. Davon esst auch ihr. Und eure Aufgabe ist es hier in der Schule mitzuarbeiten. ATMO Unterricht Mustapha Rezzakis Unterricht ist die reine Tour de Force. Er läuft im Klassenzimmer auf und ab, spürt der kleinsten Unaufmerksamkeit nach, hat seine Augen scheinbar überall. Wenn sein Zeigefinger bei der x-ten Ermahnung mal wieder gen Boden sticht, ziehen alle schnell die Köpfe ein. Rezzaki tritt auf mit der Autorität, an der es im Elternhaus der meisten seiner Schüler heute mangelt. Doch sie wissen auch, dass er ein offenes Ohr für ihre Fragen und Probleme hat. Dass er sie ernst nimmt und schon den kleinsten positiven Ansatz nach Kräften fördert. Nach fünfundfünfzig Minuten wird die A 2 vom Pausengong erlöst. Beim Rausgehen wirft mancher einen kurzen Blick auf den schwarz-weißen Bilderbogen neben der Tür. Dort sind Leitworte für das Arbeiten in der Klasse notiert. Mustapha Rezzaki zitiert die Schlüsselbegriffe und Empfehlungen, die er mit den Schülern gemeinschaftlich erarbeitet hat. Das egoistischste Zwei-Buchstabenwort lautet: je. Ich. Das solltest du vermeiden. Dann haben wir das netteste Vier-Buchstabenwort: nous. Wir. Das solltest du oft verwenden, denn wir arbeiten hier ja in Gruppen zusammen. Das Fünf-Buchstabenwort, das am häufigsten gebraucht wird: amour, Liebe, Respekt, Freundschaft zwischen allen Schülern. Es folgt das wichtige Neun-Buchstabenwort Confiance, Vertrauen, in sich und andere, das gestärkt werden soll. Am Schluss steht das Zwölf-Buchstabenwort connaissance. Wissen. Das sollen alle hier erwerben. Das ist unser Ziel. ATMO Klassenzimmer Die ersten Schüler der Troisième, der 3. Klasse, tröpfeln herein. Vite, vite, der Physiklehrer wedelt mal wieder antreibend mit der Hand. Und spricht dann von der Informationsveranstaltung später in der Woche. Da sollen die Schüler ihre Eltern mitbringen, denn in der Troisième müssen die Jugendlichen ihren weiteren Ausbildungsweg wählen. Die große Mehrheit der Klasse wird aufs Gymnasium wechseln und dort Abitur machen. Entweder eine allgemeine Reifeprüfung für ein späteres Universitätsstudium oder ein berufsbezogenes Fachabitur. Für die Nachzügler jedoch, mindestens vier von den zwanzig Schülern in der Klasse, bedeutet die Troisième das Ende der Schulzeit und damit zumeist auch der Ausbildungszeit. Da macht sich der Pädagoge keinerlei Illusionen. Die Physikstunde ist vorbei. Mustapha Rezzaki packt seinen dicken Ordner ein. Seine pädagogische Schatztruhe: darin heftet er die Abmachungen ab, die er mit seinen Schülern und deren Eltern schließt, damit die Jugendlichen gut im Unterricht mitarbeiten. Sichtbar stolz präsentiert der Vierzigjährige ein Referat, das er vergangenes Jahr in einer Klasse ausarbeiten ließ, rund um das Thema Gewalt im Sport. Damit gewannen die Jugendlichen den ersten Preis in einem regionalen Wettbewerb für Jungbürger. Während Rezzaki das Referat wieder sorgfältig in die Plastikhülle schiebt, weicht der strenge Blick einem tiefen Lächeln. Wir sind hier in der Schule der Republik. Darauf bin ich sehr stolz. Denn hier lernt ein Schüler, was er draußen nicht lernen kann. Hier lernt er, was korrektes Verhalten ist, wie man richtig spricht, wie man eine Aufgabe löst, sogar für das Alltagsleben. Wenn einer sein Schulheft nicht dabei hat, sage ich ihm: das hättest du mir zu Stundenbeginn mitteilen müssen, damit er begreift: wenn er morgen in einen Zug steigt und seine Fahrkarte nicht abgestempelt hat, muss er das gleich dem Schaffner sagen, um Konflikte zu vermeiden. In der Schule lernt er auch, sich nicht über andere lustig zu machen. Es geht also nicht nur darum den Abschluss zu schaffen sondern auch fürs Leben zu lernen, sich in der Gesellschaft zu integrieren und ein mündiger Bürger zu werden. ATMO Tür auf Die republikanische Schule hat Mustapha Rezzaki erstmals als Lehrer betreten, denn das Abitur machte er in seinem Heimatland Marokko. Er kam zum Studium nach Frankreich, schrieb hier seine Doktorarbeit in Chemie und ist nun in seinem Traumjob tätig, als Lehrer. Im, wie er sagt, besten Schulsystem der Welt. Dafür hat er sogar die französische Staatsbürgerschaft angenommen. Nun müht er sich alltäglich, Kinder aus aller Herren Länder zu Bürgern der Republik zu machen. Dass im Unterrichtsstoff früher immer die Rede war von ?unseren Vorfahren, den Galliern?, bringt Rezzaki zum Lächeln. Ich sage: wir Franzosen. Wir sind alle französische Bürger und berufen uns auf die republikanischen Werte: Gleichheit, Brüderlichkeit und Freiheit. Wir sind alle gleich. Und wir haben alle Rechte und auch alle Pflichten. Musik Mod Lit 1 Aus einem armen Milieu stammend, konnte Charles Peguy, geboren 1873, verstorben 1914, dank eines Stipendiums eine Elite-Ausbildung in der Ecole Normale Supérieure aufnehmen. Im folgenden Text beschreibt Peguy wie das einfache Volk die öffentliche Schule entdeckte, die während der 3. Republik Ende des 19. Jahrhunderts gegründet wurde, mit laizistischem, kostenlosem Pflichtunterricht für alle Landeskinder Musik Lit 1 Lit 1 Unsere jungen Lehrer waren so schön wie schwarze Husaren. Schlank, streng, geschnürt. Ernsthaft und ein bisschen taumelig ob ihrer verfrühten, ihrer plötzlichen Allmacht. Eine lange schwarze Hose, aber, denke ich, mit einer violetten Paspel. Violett ist nicht nur die Farbe der Bischöfe, sondern auch die der Grundschule. Eine schwarze Weste. Ein langer schwarzer Gehrock, sehr gerade geschnitten, gut fallend, aber zwei gekreuzte violette Palmwedel auf dem Revers. Eine Schirmmütze, schwarz, aber ein gekreuzter violetter Palmwedel über der Stirn. Diese zivile Uniform war wie eine militärische Uniform, aber noch strenger, noch militärischer als Militäruniformen. Keine unter den Militäruniformen ist so schön wie eine schöne schwarze Uniform. Sie verleiht die richtige Haltung. Und die Strenge. Getragen wurde sie von diesen jungen Leuten, die wirklich die Kinder der Republik waren. Von diesen jungen Husaren der Republik. Von diesen Säuglingen der Republik. Musik Die jüngste Schulreform in Frankreich hat für Schüler und Lehrer zum Beginn des neuen Schuljahrs einige Neuheiten gebracht: Zum Beispiel, dass manche Klassen nun von einem Junglehrer unterrichtet werden, der sein Studium gerade beendet hat, und dem im Rahmen der Reform, die Referendar-Zeit und damit auch jegliche pädagogische Ausbildung gestrichen wurde. Zwar wurde die Studienzeit der angehenden Pädagogen von vier auf sechs Jahre erhöht, Einblick in den Klassenalltag bieten aber jetzt nur noch die kurzen Praktika. Diese Maßnahme trägt ihren Teil bei zum Stellenabbau unter den Lehrern. Jeder zweite Beamte, der in Rente geht, soll nicht ersetzt werden, bestimmte Sarkozy. Die größten Einsparungen betreffen das Schulwesen. Der Staatspräsident strebt für seine Amtszeit 80.000 Stellenstreichungen an, 16.000 sind allein in diesem Schuljahr weggefallen. Ein europaweit einmaliger Vorgang. Für manche Lehrergewerkschaft ist die Schmerzgrenze nun überschritten. Und auch viele Schüler machen gegen diese Regierungspolitik mobil. Sie berufen sich auf die republikanischen Grundwerte. Einer von ihnen ist Massira Baradji. Der 18Jährige ist seit vergangenem Jahr Präsident der FIDL, der Fédération Indépendante et Démocratique des Lycées, des unabhängigen und demokratischen Gymnasiasten-Verbands. Für die Organisation, die enge Kontakte zu SOS Rassisme pflegt, einer Jugendbewegung, die sich vor allem gegen die Diskriminierung von Migrantenkindern einsetzt, sind Protestkundgebungen wie sie derzeit in Frankreich stattfinden, zu Pflichtveranstaltungen geworden. Rep 2: Präsident Schülergewerkschaft ATMO Demo Zielstrebig schiebt sich Massira Baradji durch die Menschenmenge, die an diesem Samstag den Boulevard Beaumarchais entlang zieht. Der junge Mann mit der Sportlerstatur passiert eine Gruppe Roma, die mit Zigeunermusik gegen ihre Ausweisung protestiert, strebt vorbei an einem Lieferwagen, über dem ein riesiger Luftballon mit den Insignien der sozialistischen Partei schwebt, lässt Trommel schlagende Afrikaner, Arbeiter ohne Aufenthaltsgenehmigung, links liegen. Massira sucht die FIDL-Delegation, die Mitstreiter vom linken Gymnasiasten-Verband. Einige von ihnen hat er selbst auf dem Pausenhof des als gut renommiert geltenden Gymnasiums im Pariser Norden angeworben, wo der 18Jährige die 11. Klasse besucht. Ganz schön was los hier, meint Massira, und krauselt kämpferisch die Oberlippe. Sein Blick bleibt hinter der riesigen schwarzen Sonnenbrille verborgen. Das wird ein heißer Herbst. Die Leute haben die Nase voll von Sarkozys Politik und seinen Eskapaden. Er zeigt keine Achtung vor den Menschenrechten und den Rechten der Bevölkerung ganz allgemein. Unser Präsident hat sich in den letzten Monaten so viele politische Missgriffe geleistet, wie zum Beispiel die Schikanen gegen die Roma, die er als Sündenböcke für die instabile innere Sicherheit hinstellt. Das können wir nicht hinnehmen, weder wir Jungen noch die Älteren. Massira strafft sich und wirkt noch aufgebrachter als er auf seine Schule zu sprechen kommt. Doch er wird unterbrochen: sein Handy klingelt. Seit Anfang des Jahres hat sich der Lehrplan geändert. Themen wie die nationale Identität werden jetzt auch im Unterricht behandelt. Für Massira Baradji ein Reizthema, obwohl er, der zweitälteste von vier Kindern, in einem Pariser Vorort geboren wurde und er sich ganz als Franzose fühlt. Doch Massira ist schwarz. Seine Eltern wanderten vor dreißig Jahren aus Mali ein. Die Debatte über die nationale Identität bereitet mir sehr große Sorgen. Denn immer wieder kommt es zu rassistischen Äußerungen und Handlungen an der Schule. Das ist nicht hinnehmbar, denn die Schule ist zum Lernen da und ein Ort, an dem junge Leute auch mit den Gesetzen vertraut gemacht werden. Die französischen Gesetze jedoch verbieten jede Form von Rassismus. Wenn somit der Staatspräsident selbst eine Debatte zur nationalen Identität befiehlt, wiegt das sehr schwer. Kürzlich veröffentlichte das Schulamt einen Bericht zum Thema Diskriminierungen im Schulbereich. Und daraus geht hervor: die Diskriminierungen nehmen vehement zu, vor allem seit dem entsprechenden Vorstoß der Regierung. Und keiner tut etwas dagegen. Es wird immer schlimmer. ATMO Bastille Am Bastille-Platz hat Massira den Protestzug überholt und trifft auf einige Mitstreiter. Sie scherzen, tauschen Neuigkeiten aus. Einer in der Runde stimmt den Demo-Spruch der Schülerbewegung an: ?Ein Schritt vor, zwei zurück, so ist die Regierungspolitik?. Ein Slogan-Klassiker, den die Schüler bei ihrer breiten Protestbewegung gegen die Reform des Gymnasiums, 2008 und 2009, immer wieder skandierten. Damals verteilten sie auch kleine Zettel, auf denen ein 500-Euroschein abgedruckt war, geziert vom grinsenden Konterfei des Staatspräsidenten Sarkozy. Darunter steht: Unsere Ausbildung steht nicht im Dienst des Mammons. Massira lächelt und zuckt mit den Schultern. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, das prangt über jedem Schultor. Doch wenn wir für unsere Freiheit, unsere Rechte auf die Strasse gehen, bekommen wir Probleme mit der Polizei. Brüderlichkeit ist kein Problem, wir Schüler kommen untereinander gut klar, auch mit den Lehrern. Aber was die Gleichheit betrifft, da liegt sehr viel im Argen. Immer mehr Schulen verkommen zu Ghettos. Das liegt auch daran, dass die Eltern heute mehr Freiheit bei der Wahl der Schule haben. Wenn sie in sozial benachteiligten Vierteln wohnen, versuchen sie mit allen Mitteln, ihre Kinder nicht in die benachbarte Schule, sondern in eine mit besserem Ruf zu schicken. Übrig bleiben dann nur die Problemfälle. In manchen Klassen drängen sich 40 Schüler, es mangelt an Lehrpersonal, an allem. Daneben gibt es Edelgymnasien, für die Sprösslinge der Elite, da liegt die Klassenstärke bei 18 Schülern. Da kann man nicht mehr von Gleichheit sprechen, wenn alle anderen, vor allem die sozial Schwächeren, sich selbst überlassen bleiben. ATMO Cafe An der Rue Saint-Paul legen Massira und seine Mitstreiterin Léa Cayer eine kleine Pause ein. In einem Straßencafé bestellen sie Orangensaft und Espresso. Das Kämpferische ist aus ihrem Gesicht verschwunden ? beide wirken nachdenklich. Wir strengen uns in der Schule wirklich sehr an, damit wir später einen guten Beruf auswählen können. Aber durch den drastischen Stellenabbau bei den Lehrern fällt immer mehr Unterricht aus. Das ist schlecht, denn mit einem Durchschnittsabitur kannst Du nicht viel anfangen. Das Abitur alleine öffnet keine Türen mehr in der Arbeitswelt. Wir wissen sehr wohl, dass wir selbst mit mehreren Diplomen in der Tasche nicht sicher sein können, einen Job zu finden. Die höchste Arbeitslosenquote im Land findet sich bei den jungen Leuten, unter den Berufseinsteigern. Das ist, was uns ganz konkret Angst macht. Für seine berufliche Zukunft hat Massira Baradji schon konkrete Pläne: er will in die Politik, für seine Ideale streiten. Er beugt sich kurz vor und sagt überzeugt: die sind deckungsgleich mit den Werten der französischen Republik. Musik Musik Lit 2 Lit 2 Von diesen schwarzen Husaren der Strenge. Ich glaube, gesagt zu haben, dass sie sehr alt waren. Sie waren mindestens 15 Jahre alt. Jede Woche ging einer von der Ecole Normale, der Eliteschule, in die angrenzende Grundschule. Und jedes Mal war es ein anderer. So wirkte diese Ecole Normale wie ein unerschöpfliches Regiment. Sie war wie ein immenses staatliches Lager, reich an Jugend und Staatsbürgertum. Die Regierung der Republik war beauftragt, uns umfassend mit Jugend und Bildung zu versehen. Der Staat war beauftragt, uns mit so viel Ernsthaftem zu versehen. Diese Ecole Normale stellte ein unerschöpfliches Becken dafür dar. Die guten Frauen vom Stadtrand stellten sich die Frage, ob es gut sei für die Kinder, jeden Montagmorgen einen neuen Lehrer in der Klasse zu haben. Aber die Anhängerschaft antwortete, dass der Lehrer doch immer derselbe bleibe, in Gestalt des Direktors der Grundschule nämlich, der nicht wechsele. Und dass diese Einrichtung dort, die Ecole Normale also, sicherlich der Ort mit dem meisten Wissen sei, im Département Loiret und Zweifels ohne ebenso in Frankreich. Und in allen anderen Départements. Musik Mitte September veröffentlichte das Erziehungsministerium eine Erhebung. Laut der hat das Kind eines Lehrers, verglichen mit dem Kind eines ungelernten Arbeiters, vierzehn Mal mehr Chancen, das Abitur zu schaffen. 1989 hatte ein Lehrerkind ?nur? neunmal mehr Chancen. Der soziale Graben wird tiefer, gibt sogar das Fachministerium zu - eine Premiere. Das liegt auch daran, dass das Collège, die einheitliche Mittelschule, heutzutage völlig überlaufen und überfordert ist. Denn von ihr wird verlangt, auch Schulversagern, die zu jeder Generation gehören, eine Chance zu geben. Das Mittelschul-System ist an seine Grenzen gestoßen, hält Mitte Oktober ein offizieller Bericht fest. Doch das Projekt für die notwendige Collège-Reform liegt bis 2012 auf Eis ? bis zur nächsten Präsidentschaftswahl. Hinzu kommt: während Kanzlerin Merkel zur bundesdeutschen Bildungsoffensive aufruft und dafür bis 2013 zehn Prozent des Bruttoinlandsproduktes zur Verfügung stellen will, doppelt so viel wie bislang, werden es beim französischen Erziehungswesen nur noch 6,6 Prozent sein. Für den Direktor der Abteilung ?Schulische Bildung? im Erziehungsministerium in Paris, Jean-Michel Blanquer, reißt dies ein gewaltiges Loch in die Kasse. Der Mitvierziger, der sein Büro in einem geräumigen Altbau in der Rue Grenelle hat, hat erst seit Ende vergangenen Jahres diese Amt inne. Zuvor machte er sich als Rektor und experimentierfreudiger Reformer der Akademie in Créteil einen Namen? beispielsweise im vergangenen Herbst mit der ?cagnotte? genannten Maßnahme gegen Schulschwänzen: eine Klasse sollte finanziell honoriert werden, wenn all ihre Schüler zum Unterricht erscheinen. Ein Vorschlag, der für viel Wirbel und deshalb für wenig Umsetzung sorgte. Beitrag 3 ATMO Schritte/ Büro Nach der Morgensitzung bleibt Jean-Michel Blanquer keine Atempause: er eilt zurück in sein Büro im 2. Stock des komplett renovierten Altbaus. Der Raum ist groß, die Decke hoch, alles ist sehr licht und mit Antiquitäten und modernem Design geschmackvoll möbliert. Blanquer setzt sich an das Kopfende des gläsernen Besprechungstischs und vertieft sich routiniert in sein Manuskript. Der hohe Beamte wirkt trotz der graumelierten Schläfen jugendlich dynamisch, dezent schick mit dem anthrazitgrauen Anzug und der schwarzen Krawatte. Nun legt er los mit seiner Grußbotschaft für ein Seminar in Toulouse, bei dem es um die schulische Integration von schwerhörigen Kindern geht. Bei der Passage zum Gesetz zur Chancengleichheit von 2005 hat Blanquer zu viel Fahrt aufgenommen. Er setzt neu an, denn das Thema Schule der Republik liegt ihm sehr am Herzen. Seit der Gründung der Republik hat die Schule bei uns eine Rolle als Rückgrat der Republik. Sie ist der Ort, an dem sich die republikanischen Träume von Gleichheit und Selbstverwirklichung vereinen. Und auch wenn alle Menschen noch so unterschiedlich sind, soll doch die Schule jedem das bringen, was ihm zur Chancengleichheit mit allen anderen verhilft. Seit der Erklärung vom 26. August 1789, der Republikgründung, wurde immer wieder bestätigt, wie wichtig die Schule beim Unterfangen ist, die Republik zu verwirklichen. In gewisser Hinsicht hat die Schule für die Republik dieselbe Rolle, wie sie früher die Kirche für das Ancien Régime spielte. Soll heißen: sie ist ihr spirituelles Knochengerüst, die Stütze für die Umsetzung der Republik, für das Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit in der Gesellschaft. Wie in anderen Gesellschaften auch ist die Schule in Frankreich ein Spiegelbild der Gesellschaft und umgekehrt. Dies gilt bei uns umso mehr, da unser Schulsystem sehr homogen ist, um das Recht auf eine Schulbildung, die überall im Land vergleichbar ist, zu garantieren. Mit allen Vor- und Nachteilen, die dies mit sich bringt. Schnitt. Jean-Michel Blanquer setzt zum dritten Mal neu an. Er holt tief Luft, dabei kneten seine Hände einander unablässig. Er ist jetzt beim neuen Leitmotiv des Erziehungsministers: Die große Herausforderung für das nationale Erziehungswesen besteht darin, die Brücke zu schlagen von ?einer Schule, die für alle offen ist? hin zum ?Erfolg für jeden Schüler?. Die Aufzeichnung ist im Kasten, Blanquer ist sichtlich erleichtert. Er unterhält sich noch etwas mit den Technikern, während die ihre Geräte wieder einpacken. Nun hantiert er mit seinem IPhone und kommt auf die derzeitige Lage im Schulwesen zu sprechen. Das Bild ist wesentlich komplexer als die Allgemeinheit annimmt, sagt der Direktor und setzt dabei ein leichtes Grinsen auf. Da ist zumeist die Rede vom Nieder-, wenn nicht gar Untergang der öffentlichen Schule die Rede. Aber was das Erziehungsministerium betrifft, da ist es eben wie bei der Equipe Tricolore, der Fußball-Nationalmannschaft: jeder der 60 Millionen Franzosen weiß es besser als die jeweilig verantwortliche Person in diesen Ressorts. Jeder Bürger hat seine eigene Meinung zum nationalen Schulwesen. Dann wird Blanquer wieder ernster. Den Verantwortlichen des französischen Schulsystems gelingt es immer noch sehr gut, in jedem Jahrgang die benötigten zwanzig Prozent Nachwuchs für die französische Elite heranzuziehen. Vor allem für die großen Ingenieurschulen. Damit ist der Nachwuchs für die Forschung ebenso garantiert wie für die Betriebe, die Spitzeningenieure brauchen. Diesbezüglich funktioniert das französische Modell weiterhin gut. Doch dabei darf man nicht die Interessen der restlichen achtzig Prozent jeden Jahrgangs vergessen. Wir brauchen ein Bildungssystem, in dem jeder Schüler einen qualifizierenden Abschluss schafft. Und wir streben die Aufwertung aller Berufsausbildungen an. Kürzlich wurden die Berufs bildenden Gymnasien reformiert: statt vier braucht es nur noch drei Jahre bis zum Berufsfachabitur. Die Zukunft: das sind exzellente Ausbildungen in allen Bereichen. Nach dem Vorbild Deutschlands. ATMO Sekretärin Blanquers Sekretärin kommt herein und möchte an seinen Tagesplan erinnern: das Arbeitsessen mit dem Direktor der Nationalbibliothek, das Treffen mit dem Regierungsberater vom Elysée-Palast, dem Gewerkschaftsvertreter und die diversen Einzelbesprechungen. Der Terminkalender ist bis in, die späten Abendstunden gefüllt. Das ist sein tägliches Pensum, sagt Blanquer und bedauert, dass seine Familie, besonders seine drei Kinder, oft viel zu kurz kommen. Alle drei besuchen öffentliche Schulen, fügt er noch an und will damit wohl zum Ausdruck bringen, dass das in seinen Kreisen nicht alltäglich ist. Nun kommt er auf den Film ?die Klasse? zu sprechen. Seine Stimme wird lauter, der Blick eine Spur verächtlich. Das Kino-Werk, das drastisch den Schulalltag in einem Pariser Arme-Leute-Viertel schildert und vor zwei Jahren in Cannes mit der goldenen Palme prämiert wurde, bezeichnet der hohe Beamte im Bildungs- und Erziehungsministerium als Katastrophe: Bei dem Lehrer, der die Hauptrolle spielt, weiß man nicht, ob es sich um ein Modell oder um ein Anti-Modell handelt. Und welche Botschaft er eigentlich trägt. Ein Lehrer sollte über zwei Stärken verfügen, nämlich: Autorität besitzen und die Schüler wohlmeinend behandeln. Der Lehrer im Film beherrscht weder das eine noch das andere. Und damit zeigt der Film all das, was ein Lehrer nicht sein sollte. Das ist das einzig Interessante an dem Film. Musik Mod Lit 3 Mit seinem Buch ?Die Klasse? sorgte François Bégaudeau 2006 in Frankreich für viel Aufmerksamkeit. Der Autor ist Französisch-Lehrer an einem Collège in einem Arme-Leute-Viertel mit hohem Einwanderer-Anteil, im Norden von Paris. Er schildert in seinem Werk sehr drastisch den Alltag im Klassen- und im Lehrerzimmer. Schüler, bei denen er keinerlei Kenntnisse voraussetzen kann, die sich in der Gesellschaft verloren fühlen und entsprechend unmotiviert sind. Lehrer, die sich verzweifelt um Autorität mühen und sich bis zu den nächsten Ferien durch hangeln. Bei der Verfilmung des Buches spielten Bégaudeau und einige seiner Schüler ihre eigenen Rollen. ?Die Klasse? erhielt 2008 die ?Goldene Palme? beim Filmfest in Cannes. Musik Lit 3 Lit 3 Keiner blickte auf. Die Berufsberaterin erläuterte ausführlich die Wahlmöglichkeiten nach der neunten Klasse. Durch die ab und zu durch den Raum geworfenen kurzen Antworten auf ihre standardisierten Fragen fühlte sie sich ermächtigt, das an der Tafel skizzierte Modell zügig zu vervollständigen. ?Ihr könnt also wählen zwischen zwei verschiedenen Zweigen, dem Berufs bildenden oder dem allgemeinbildenden oder technischen Zweig. Und warum heißt der Berufs bildende Zweig Berufs bildender Zweig? Was meint ihr?? ?Weils fürn Job is.? ?Sehr gut, richtig, das eröffnet euch die Möglichkeit, schneller ins Berufsleben einzusteigen. Man könnte auch sagen, der Unterricht dort ist eher praxisorientiert.? Niemand fragte, was ?praxisorientiert? bedeutet. ?In der Berufsfachschule für Sekretariatswesen lernt man zum Beispiel, wie man einen Geschäftsbrief aufsetzt, während man sich in der 11. Klasse des allgemeinbildenden Zweigs eher mit Wirtschaftsrecht befasst.? Niemand fragte, was Wirtschaftsrecht ist. Ein Shirt lag auf einer Bank, und das ?Djibril? im Halbkreis über einer gigantischen Fünf verriet, wer darin steckte. Dianka und Fortunée amüsierten sich über irgendwas, das sie durchs Fenster gesehen hatten. Die anderen taten so, als hörten sie zu. Musik Die regionale Umsetzung der nationalen Schulpolitik ist Aufgabe der 26 Akademien in Frankreich. Eine der wichtigsten unter ihnen ist die Akademie in Créteil, nahe Paris. Dem hiesigen Rektor unterstehen drei Départements im Osten der Hauptstadt mit knapp einer Million Schülern und Studenten; darunter vielen aus bescheidenen, sozial schwierigen Verhältnissen. Als Jean-Michel Blanquer im Dezember 2009 ins Erziehungsministerium berufen wird, kommt William Marois als Rektor an die Akademie von Créteil. Der Wirtschaftswissenschaftler lehrte an der Universität, leitete eine Forschungsgruppe beim staatlichen Wissenschaftsrat und stand in den vergangenen 17 Jahren schon insgesamt fünf anderen Akademien vor. Derzeit ist er so oft es geht unterwegs, um sich mit dem neuen Terrain vertraut zu machen. Im Gymnasium von Le Perreux, zehn Kilometer östlich von Paris, interessiert er sich dafür, wie hier die Reform der 11. Klasse umgesetzt wird, denn in der 11. Klasse werden die Weichen gestellt, müssen die Jugendlichen eine Berufswahl treffen. Beitrag 4: Rektor Marois ATMO Klasse Angeführt von der Schulleiterin und ihrer rechten Hand rauscht William Marois am späten Vormittag mitten in eine Unterrichtsstunde der 11. Klasse. 32 frischgebackene Gymnasiasten erheben sich von den Stühlen und schauen ihn erwartungsvoll an. Marois hat sich bei Klassenbesuchen angewöhnt, die Schüler nach ihrer vorherigen Lehranstalt zu befragen. Entspannt steht er Rektor nun vorn am Pult, lächelt jovial und ermuntert die Jugendlichen mit der rechten Hand, das Wort zu ergreifen. Der Mitfünziger im hellgrauen Anzug wirkt herzlich, offen und verfügt über eine natürliche Autorität: William Marois selbst ist Vater von sechs Kindern. Ihr müsst nun lernen, mitzuschreiben. Das war im Collège nicht nötig. Aber das müsst ihr euch nun angewöhnen. Besonders wenn ihr mal studieren wollt. ATMO Klasse An der Tafel stehen Stichworte wie Bruttosozialprodukt und primäre Einkommensquellen. Die Schüler werden gerade in Sozialwirtschaft unterrichtet, hat die Schulleiterin ihrem Vorgesetzten beim Betreten der Klasse zugeflüstert. Es ist ein neues Fach auf dem Stundenplan und eine der Säulen der Gymnasiums-Reform. William Marois legt kurz die Hand ans Kinn und erläutert, warum die Schüler sich nun mit makroökonomischen Themen beschäftigen sollen: Das ist ganz einfach: Wirtschaftsfragen gehören zum Alltagsleben. In der 11. Klasse müsst ihr deshalb nun an diese Themen herangeführt werden. Wenn ihr beispielsweise eine Zeitung aufschlagt, lest ihr überall von Wechselkursen. Auch wenn es keine einfache Materie ist: als künftige Staatsbürger sollt ihr da ein bisschen durchblicken können. Ich wünsch euch viel Glück und nutzt eure Zeit hier auf dem Gymnasium gut aus. Der Blick einiger Schüler verrät: nicht alle haben die die Worte des Rektors verstanden. Marois ist schon wieder auf dem Weg nach draußen. Mit seinem Empfangskomitee geht es nun in ein Nebengebäude, zum Lehrertreffen. ATMO Kaffee Vorn auf dem Tischquadrat steht ein Tablett mit Croissants und eine Wärmekanne mit frischem Kaffee. Wie selbstverständlich schnappt sich Marois mehrere Becher, füllt sie und reicht sie herum. Er selbst trinkt nur Tee, sagt er der Schulleiterin, die daraufhin sofort nach heißem Wasser und Teebeuteln schickt. Hände schüttelnd und mit freundlichem Gesichtsausdruck begrüßt der Akademie-Chef die Runde. Dann kommt er auf sein Anliegen, die Schulreform zu sprechen: Ein wichtiges Element der der aktuellen Gymnasiums-Reform ist, dass nun jeder Schüler persönliche Begleitung erhalten soll. Das Lehrerteam rund um eine Klasse soll die Stärken und Schwächen jedes einzelnen Schülers bestimmen und dementsprechend mehr auf seine spezifischen Bedürfnisse eingehen. Ich möchte nun für das hiesige Gymnasium eine erste Bilanz ziehen. Insgesamt zehn Wochenstunden sind für diese persönliche Begleitung anberaumt. Wie sie genutzt werden, ist jeder Schule freigestellt. Diese Autonomie ist ein Novum und die Basis der Reform. Im Gymnasium in Le Perreux wird die persönliche Betreuung in fünf Fächern angeboten: in Französisch, Mathematik, Englisch, Spanisch und Physik/Chemie. Jeder Schüler, dessen Noten unter oder auch über dem Klassenschnitt liegen, hat Anrecht auf zwei ?obligatorische- Förderstunden pro Woche. Marois sitzt den Lehrern gegenüber, seine Hände spielen mit einem Stift, er lauscht aufmerksam der Englischlehrerin, die von ihren ersten Erfahrungen mit dem Förderprogramm berichtet. Ich habe zwei Gruppen: eine mit 18, die andere mit 17 Schülern. Da ist keine persönliche Betreuung machbar. Ich sehe den Förderkurs eher als eine Gelegenheit für alle, mal durch schnaufen zu können. Denn in ihrer Klasse sind sie 35 Schüler. Zum Einstieg habe ich mir das Ziel gesteckt, den Schülern Vertrauen einzuflössen, in die Schule und in sich selbst. William Marois hat sich eifrig Notizen gemacht. Zum Abschluss dankt er den Lehrern für ihr tägliches Engagement. Nun überreicht die Schulleiterin ihm das hauseigene Handbuch. Marois legt mal wieder kurz die Hand ans Kinn: Seit geraumer Zeit lassen wir den Schulen im Land mehr und mehr freie Hand. Sie kennen ihr Terrain, sie wissen am besten, wie man am wirkungsvollsten auf die Bedürfnisse jedes einzelnen Schülers eingehen kann. Und das genau ist ja unser Ziel: wir wollen jedem Schüler einen Abschluss ermöglichen. Musik Musik Lit 4 Lit 4 ?Am Ende des Schuljahres müsst ihr die Bewerbungsunterlagen für die Schule ausfüllen, für die ihr euch entschieden habt, dass heißt natürlich, sofern das im Rahmen des Möglichen ist. Mit dieser Entscheidung ist das so wie mit der x- und der y-Achse: x ist das, was ihr machen wollt und y, was ihr machen könnt. Im Endeffekt müsst ihr dann einen Kompromiss zwischen Wunsch und Wirklichkeit finden.? Die Beraterin verteilte grüne Bögen, die sie gleich ausfüllen sollten. Wunsch/Wirklichkeit. Ich verlies meinen Platz ganz hinten im Klassenzimmer und schlenderte durch die Reihen nach vorn. Huang wusste nicht, wie er anfangen sollte. Nervös studierte er den Fragebogen. Neben Beruf der Mutter schrieb er ?Textilmechanikerin?. Musik Als Jules Ferry vor 130 Jahren das öffentliche französische Schulsystem aus der Taufe hob, war das in gewissem Sinne eine Kriegserklärung an die katholische Schule, die sich bislang um die Erziehung, vor Allem die der Söhne aus besserem Haus, gekümmert hatte. Offiziell gilt heute der ?Schulkrieg? als beendet, hat sich ein duales System entwickelt: Heute besuchen fast zwanzig Prozent der französischen Schüler eine private ?mit großer Mehrheit - katholische Einrichtung. Damit hält Frankreich Europa weit einen Spitzenplatz. Privatschulen gelten im Land als die besten Schulen, weil sie mit guten Erfolgsquoten brillieren können. Kein Wunder: Die Schulen suchen sich ihre Schüler gezielt aus und wer sitzen bleibt, fliegt raus. Dennoch gibt es Forderungen, das Erziehungswesen zu liberalisieren und Privatschulen zu stärken. Die Journalist Muriel Fitoussi macht dafür die intensive Lobbyarbeit der Befürworter der Privatschulen verantwortlich; reaktionäre Kräfte, die den Einfluss der katholischen Kirche stärken wollen, und damit das Erbe der Revolution angreifen. Mit Eddy Khaldi, dem Gewerkschafter und hauptberuflichen Lehrer, hat Journalistin Fitoussi vor zwei Jahren ein Enthüllungsbuch veröffentlicht: ?Main basse sur l?école publique? heißt es, ?Anschlag auf die öffentliche Schule?. Beitrag 5: Journalistin Fitoussi Muriel Fitoussi ist mit einer Kollegin in einem Pariser Café verabredet. Kürzlich waren die beiden jungen Frauen gemeinsam auf Reportage-Einsatz, ein Bericht über die neue Privatschule in einem Vorort. Sie deckten auf, dass dafür auch Staatsgelder aus einem ganz speziellen Fonds flossen. Ein brenzliges Thema, so wie Muriel und Anaelle es lieben. Muriel, etwas korpulent und salopp in schwarz gekleidet, rutscht aufgeregt auf ihrem Stuhl herum. Da standen wir eines schönen Morgens in Sartrouville und suchten nach der neu eröffneten Schule, die ziemlich viel Geld aus dem neuen Fond für mehr Lebensqualität in Sozialbaughettos erhalten hat. Von Mitteln also, von denen man eigentlich annehmen kann, dass sie zum Wohle benachteiligter Bevölkerungsgruppen eingesetzt würden. Und dann fanden wir uns vor einer Schule wieder, die wie eine Festung abgesichert war. Super gesichert. Wir haben uns als Mütter von Schülern ausgegeben, um überhaupt irgendwas über die Schule herausbekommen zu können. Da erfuhren wir beispielsweise, dass die Schüler sogar in der Pause das Gelände nicht verlassen dürfen. Und der Eingang wird scharf überwacht, mit einer wahren Sicherheitsschleuse. Ohne Auto ist die Schule kaum erreichbar. Da werden dann wohl die Sprösslinge aus feineren Kreisen von Mama oder Papa zur Schule kutschiert. Und wir fragten uns, wer aus dem Sozialbaughetto es wohl schafft, seine Kinder hier einzuschreiben. Aber na ja, die Schule liegt mitten in einem Villenviertel, die Plattenbauten sieht man von da aus nur am Horizont. Am meisten hat mich geschockt, dass ein Kantinenessen 13 Euro kostet. Und wer einen Nachtisch will, muss aufzahlen. Muriels Augen blitzen wütend: dass die katholische Privatschule Geld aus dem Hilfsfonds für Sozialbaughettos erhielt, ist für sie, die überzeugte Republikanerin, schlicht ein Unding. Mal wieder rutscht ihr eine lange Haarsträhne ins Gesicht, mechanisch schiebt sie sie zurück. Dann trinkt die Journalistin in zwei Zügen ihren Espresso aus und eilt zum nächsten Termin, mit Eddy Khaldi, Lehrer und Co-Autor des Enthüllungswerks. ATMO Straße Unterwegs erzählt Muriel, dass sie, bevor sie als freie Journalistin bei renommierten Tageszeitungen Fuß fassen konnte, selbst zwei Jahre als Lehrerin für Geschichte und Geographie tätig war, in einem Sozialbauviertel. Muriels Blick streift kurz in die Ferne, dann sagt sie mit Nachdruck, dass dieser Job sie geprägt hat, sie hat eintauchen lassen in die alltäglichen Probleme, mit denen die öffentliche Schule zu kämpfen hat. Sie drückt einen Augenblick ihre Handflächen aneinander, kräuselt die Stirn. Ein Gutteil dieser Probleme basiere auf irrigen politischen Entscheidungen, ist sie überzeugt. Ein Gedanke, dem Khaldi und Fitoussi mit ihrem Buch ?Anschlag auf die öffentliche Schule? auf den Grund gehen. Die Recherche war alles andere als einfach. Eddy meinte von Anfang an, dass viele neue Gesetze und Bestimmungen im Schulbereich auf ein Phänomen zurückzuführen seien: auf die schleichende Privatisierung des öffentlichen Schulwesens. Als wir vor einigen Jahren mit unserer Arbeit begannen, reagierten viele skeptisch und sarkastisch, sie meinten, wir würden doch wohl übertreiben. Aber je mehr wir nachgeforscht haben, desto offensichtlicher wurde es, dass der Einfluss reaktionärer Kreise im Bereich Schulpolitik sehr groß ist. Wir konnten belegen, dass Gruppen wie Opus Dei die Hand im Spiel haben. Wir deckten auf, dass Xavier Darcos, Sarkozys erster Erziehungsminister, einige Jahre zuvor einen Verein mit gegründet hat, der die verstärkte Förderung der Privatschule anstrebt. Nach und nach haben wir mit unseren Enthüllungen einen Bewusstseinswandel ausgelöst. Seit einem Jahr ist die These von der schleichenden Privatisierung des nationalen Schulwesens in den Medien ein Thema. Und ich bin sehr stolz, dazu beigetragen zu haben. ATMO Saal Leicht atemlos kommt Muriel im Besprechungszimmer an, Eddy Khaldi erwartet sie bereits. Der gewerkschaftlich organisierte Lehrer hat ein Leib- und Magenthema und das seit nunmehr 30 Jahren: die Wahrung des laizistischen Prinzips. Muriel zieht ein kleines Laptop aus ihrer Tasche, Khaldi sucht im Papierstapel vor ihm nach einem kürzlich erschienen Zeitungsartikel. Darin droht der Verband der katholischen Schulen, dass aufgrund des staatlich angeordneten Abbaus von Lehrerposten Lehranstalten geschlossen werden müssen. Während Muriel die Quellenangabe routiniert abtippt, wedelt Khaldi ärgerlich mit der Hand und empört sich, dass der Stellenabbau die öffentlichen Schulen wieder ungleich härter betreffen wird und der Verband nur politisch Druck machen will, für mehr Mittel. Damit aber wird die öffentliche Schule ausgehöhlt, sagt Khaldi mit besorgter Mine. Die öffentliche Schule verhinderte es, dass einzelne Gruppen nur unter sich bleiben, seien sie sozialer, religiöser oder ethnischer Natur. Der Grundgedanke der öffentlichen Schule ist doch der: sie soll die Kinder zu Bürgern der Republik machen. Sie ist der Ort, wo alle gesellschaftlichen Gruppen miteinander agieren, wo die nationale Identität entsteht. Mit diesem Grundgedanken wird heute gebrochen. Musik Sie hörten Gesichter Europas: Die Republik im Klassenzimmer ? Der Alltag im französischen Schulsystem. Autorin der Reportagen war Susanne Krause. Musikauswahl und Regie Babette Michel. Die Literaturauszüge las Hendrik Stickan. Für Ihr Interesse dankt, auch im Namen von Ton und Technik, Norbert Weber. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Tag! M u s i k 1