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Der andere Blick auf den fremden Riesen

Einen anderen Blick auf China als den üblichen versprechen zwei deutsche Autoren. Der eine, Christian Schmidt, hat das riesige Land drei Monate lang auf eigene Faust durchquert. Ebenso persönlich hat Marcus Hernig sein Buch über Alltagskultur und Gesellschaft angelegt. Unser Rezensent Günther Wessel hat das eine Buch mit mehr, das andere mit weniger Gewinn gelesen.

28.07.2008
    Christian Y. Schmidt war es leid. Belgische Restaurants, italienische Pizza, spanische Tapas Bars und deutsche Bäcker - und all das mitten in Peking. In der chinesischen Hauptstadt lebte er seit mehr als zwei Jahren, war aber bald schon in so genannte Expat-Kreise geraten - in die Gruppen von Nordamerikanern oder Europäern, die von ihren Firmen oder Ländern nach Peking entsandt worden waren. Und so bewegte er sich

    bald nur noch auf Vernissagen von Berliner Installationskünstlern, Botschaftsempfängen zu diversen europäischen Nationalfeiertagen, auf Bällen im extra dafür geschneiderten Smoking oder in Clubs, wo Altpunkbands aus New York auftraten.
    So fasste er einen Plan: Er wollte chinesisch werden. Da Reisen bekanntermaßen bildet, wollte er das auf einer langen Reise werden. Allein durch China, in normalen Überlandbussen, ohne andere Ausländer, entlang der Nationalstraße 318, die auf Chinesisch Feng Gu heißt - übertragen Windknochen, und die sich wie ein Rückgrat 5386 Kilometer durch das gesamte Land zieht. Sie beginnt in Shanghai, verläuft von dort parallel zum größten chinesischen Fluss, dem Jangtse, führt durch die Ebenen und Wälder Sichuans und steigt später an ins tibetische Hochland bis sie über Lhasa die nepalesische Grenze erreicht.

    Christian Schmidt ist ein erfahrener Autor. Er schreibt für das Satiremagazin "Titanic" eine Kolumne namens "Bliefe von dlüben", und lässt sich dort mit naivem Staunen über die Chinesen und die Expats, ihr Miteinander und die Absurditäten des Alltags aus. Mit diesem Gestus hat er auch sein neues Buch "Allein unter 1,3 Milliarden" geschrieben.

    Er besucht Yingshan, die Heimatstadt von Bi Sheng, der schon Mitte des 11. Jahrhunderts den Buchdruck mit beweglichen Lettern erfand, etwa 400 Jahre vor Gutenberg in Europa. Er erwähnt, dass es Historiker gäbe, die vermuteten,

    Gutenberg habe bei Bi Sheng abgekupfert.

    Und er schreibt weiter:

    Eindeutig geklaut hat der Westen andere chinesische Erfindungen, wie - und das ist nur eine kleine Auswahl - Nudeln, faltbare Regenschirme, Drachen, den Kompass, Seide, Papiergeld, Stahl und Toilettenpapier. Bezahlt wurde nie, denn als die Westler die Erfindungen abkupferten, war das Copyright noch nicht erfunden. Wenn Chinesen aber heute ein paar Gucci-Taschen, Ritter-Sport-Schokoladetafeln oder Rolex-Uhren kopieren, redet alle Welt von geistigem Diebstahl, statt einfach froh zu sein, dass China nicht den Rest der Welt auf Billionen verklagt, allein für das Nachkochen von Stahl.

    Oder an anderer Stelle:

    Betrachtet man die letzten 150 Jahre, dann gibt es praktisch keinen Zeitabschnitt, in dem der Westen an den Chinesen nichts auszusetzen hatte. Als sich das Kaiserreich vom Rest der Welt abgekapselt hatte, gefiel das dem Westen nicht, und so wurde es Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst von den Briten, dann auch von anderen Mächte mit Gewalt zur Öffnung gezwungen. Als sich China dann nach einer Phase großer Wirren rund 40 Jahre später zur Volksrepublik erklärte, hatte der Westen schon wieder etwas dagegen einzuwenden. Jetzt war ihm das Land zu kommunistisch. Heute dagegen wird angeprangert, China sei zu kapitalistisch und treibe Raubbau an der Natur. Letztlich können die Chinesen tun, was sie wollen, vom Westen bekommen sie immer eins auf den Deckel.

    Solche Einschätzungen sind verblüffend und auch erheiternd, ebenso die zahlreichen ironische Anspielungen. Doch was in Christian Schmidts monatlicher Kolumne unterhaltsam wirkt, ist im Buch aber auf Dauer ermüdend. Immer wieder schlägt er kleine ironische Volten, immer wieder betont er das Absurde des West-Östlichen Kontaktes - bis man es irgendwann nicht mehr lesen will. Viel schöner sind die Beschreibungen, an denen er sich wirklich auf das Land einlässt, wo staunend Fremdes auf Fremdes trifft.

    Man kann sich wohl kaum reizendere, aufgewecktere Personen denken als chinesische Kinder. Leider verstehe ich nur einen Teil der Fragen. Ich sehe aber, dass eine der beiden wie hypnotisiert meine Armen betrachtet. Im nächsten Moment streckt sie ihre Hand aus und streicht sanft über meine Arme als sei ich ein seltenes Tier. Auf Asiaten übt die Körperbehaarung von uns Kaukasiern eine seltsame Faszination aus. Das erste Mal wurde ich so von einem kleinen Jungen im kambodschanischen Dschungel gestreichelt, beim zweiten Mal war es ein alter Mann in einem Sammeltaxi im Westen Chinas. Jedes Mal war ich perplex, wie wenig Scheu man in diesem Teil der Welt hat, den Körper eines Fremden zu berühren.
    Einfühlsam beschrieben ist das, doch leider beheben solche Passagen das Hauptmanko des Buches nicht: Christian Schmidt bietet zu wenig Informationen. Alles in allem erfährt man über das fremde Land nicht mehr, als in jedem schmalen Reiseführer zu finden sind. Schmidt schreibt am Ende mehr über sich als über China, es geht um ihn, nicht um das Land, nicht um das was er sieht, sondern darum, dass er das sieht. Und das trägt leider kein ganzes Buch. Wohlwollend würde man sein Buch als subjektive Reisereportage im Stil des New Journalism rühmen, etwas übellauniger formuliert als gedruckten Egotrip.

    Viel mehr erfährt man aus dem Band von Marcus Hernig "China mittendrin", der in acht Themenblöcken über Geschichte, Kultur und Alltag informiert. Auch Hernig schreibt über sein China, in dem er seit mehr als zehn Jahren lebt und über seine Erfahrungen. Doch er tut das wohltuend unaufgeregt, und es gelingt ihm, auch ein Bild von China zu zeichnen. Hier lernt man etwas über die nur 100 chinesische Familiennamen und die zahlreichen oft bizarren Vornamen, die auf historische Daten oder wirtschaftlichen Erfolg verweisen, über den Wert der Bildung, über den Ehrgeiz der Eltern, dass das einzige Kind - in China herrscht offiziell immer noch die Ein-Kind-Politik - ein Höchstmaß an Bildung mitbekommen soll. Man hört vom Alltag der Schulkinder, vom Verhältnis zwischen Freunden - und warum viele Chinesen die Aufregung in Europa und den USA über Copyright-Verletzungen nicht verstehen:

    Es war jahrtausende lang Tradition und wird noch immer praktiziert, gute Dinge wie Meisterwerke der Literatur oder Architektur zu kopieren. Ohne die Architektur der Ming-Dynastie gäbe es viele prächtige Tempel der darauf folgenden Mandschu-Dynastie nicht. Ohne die genaue Wiedergabe von Zitaten chinesischer und ausländischer Berühmtheiten könnten viele chinesische Schülerinnen und Schüler die Hochschulaufnahmeprüfung nicht bestehen. Wer es gewohnt ist, immer wieder von anderen etwas zu übernehmen, kopiert eben schneller, ohne darüber nachzudenken, dass der Schöpfer der Vorlage ja zumindest nach nun weltweit verbreiteter westlicher Rechtsauffassung ein Urheberrecht auf seine Gedanken und Erfindungen besitzt.
    Marcus Hernig schreibt flüssig und anekdotenreich, er erklärt die chinesische Küche- "hier ist das Essen nicht nur ein Grundbedürfnis sondern ein Totalphänomen" - und berichtet von Gelagen mit höllischen Chilis, Maotai-Schnaps und singenden Chinesen. Und: Er kann im Unterschied zu Christian Schmidt auch den Kern des Tibet-Konflikts erläutern. Fazit: An einer Stelle schreibt Christian Schmidt, es gäbe vieles, was man im Westen über China nicht weiß. Wer mehr wissen will, erfährt das indes nicht unbedingt aus seinem Buch, mit Sicherheit aber aus dem von Marcus Hernig.

    Günter Wessel über: Christian Y. Schmidt: Allein unter 1,3 Milliarden. Eine chinesische Reise von Shanghai nach Kathmandu. Das Buch erscheint im Rowohlt Berlin Verlag, umfasst 288 Seiten und kostet Euro 19,90. Ab Freitag ist es im Buchhandel erhältlich. Das andere Buch stammt von Marcus Hernig. Der Titel: China mittendrin. Geschichte, Kultur, Alltag, erschienen im Christoph Links Verlag, 207 Seiten für Euro 16,90.