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Der Anfang vom Ende

Die DDR-Führung machte mit der Fälschung der Kommunalwahl im Mai 1989 einen großen Schritt hin zu ihrem eigenen Untergang. Bürgerrechtsgruppen hatten die Wahlen als Scheinwahlen entlarvt, indem sie die gesetzlich zugesicherte öffentliche Stimmauszählung in einigen Bereichen überwachten. Sie stellten Abweichungen von bis zu zehn Prozent fest.

Von Harald Kleinschmid | 06.05.2009
    "Denken ist die erste Bürgerpflicht, drum wähle Wohlstand und Glück! Auch deine Stimme fällt ins Gewicht und stärkt unsre Republik.

    Die Kommunalwahlen im 40. Jahr unseres Arbeiter- und Bauern-Staates wurden zu einem eindrucksvollen Votum für die Kandidaten der Nationalen Front der Deutschen Demokratischen Republik."

    Am Morgen des 7. Mai 1989 schien für die Mächtigen in der DDR die Welt noch in Ordnung. Junge Pioniere begrüßten wie üblich die besonders eifrigen Erstwähler mit Blumen, am Abend gab SED-Politbüromitglied Egon Krenz als oberster Wahlleiter ein Ergebnis von knapp 98 Prozent Ja-Stimmen bekannt.

    "Gegen die Wahlvorschläge wurden 142.301 Stimmen abgegeben, das sind 1,15 Prozent."

    So viele Gegenstimmen waren zuvor noch nie bei einer Wahl in der DDR genannt worden - die allzu zaghafte Reaktion der Parteiführung auf den spürbaren Unmut, der sich seit dem Frühjahr in weiten Teilen der Bevölkerung breit gemacht hatte. Man hatte das höchst zweifelhafte Wahlverfahren satt, also das bloße "Zettelfalten" von Einheitslisten, die meist ohne Kenntnis der Kandidaten und ohne Benutzung der Wahlkabine einfach in die Urne gesteckt wurden.

    Obwohl als freie, gleiche und geheime Wahlen deklariert, schloss die alternativlose Liste der Nationalen Front eine Entscheidung zwischen verschiedenen Kandidaten von vornherein aus. Es wurden faktisch nicht die Kandidaten einzelner Parteien, sondern ein "demokratischer Block" insgesamt gewählt. Daher galten auch Stimmzettel, auf denen einzelne oder mehrere Kandidaten gestrichen, unterstrichen oder hinzugefügt wurden, weiterhin als gültig. Diesmal allerdings gab es schon bei der Kandidaten-Aufstellung in der DDR mancherorts unerhörte Vorgänge. Der damalige Student Andreas Hanke schildert einen erfolgreichen Versuch, schon bei der Aufstellung der Kandidaten Einfluss auf die Einheitsliste zu nehmen. Er berichtet von einer Versammlung in Dresden:

    "Ich glaube kaum, dass sich einer von denen über die Tragweite dessen bewusst war, was dann passiert, oder dass es eine gezielte, vielleicht sogar gewollte Sache war. Einer hat den Antrag gestellt, dann wurde vom Präsidium versucht abzuwiegeln und das zu glätten; das hat dann aber andere wieder in Harnisch gebracht, die diese Kritik erweitert und erneuert haben. Dann sind die nächsten aufgestanden und haben gesagt: Also, ich schließe mich dem Antrag an und mache das auch so, und dann waren es also vier oder fünf; und als dann abgestimmt wurde, wurde die Liste bestätigt ohne diesen einen Kandidaten. Der Modus in der DDR war ja so, wenn einer von der Liste nicht bestätigt wird, dann kippt die ganz Liste, dann muss sie neu gemacht werden. Das war dann der Fall."

    Entscheidender aber war, was am Wahltag selbst in den Wahllokalen passierte. Bei früheren Wahlen hatte sich die Unzufriedenheit der Bevölkerung meist darin geäußert, dass man mit Wahlverweigerung drohte, um gegebenenfalls die Wasserleitung repariert, eine größere Wohnung oder sogar die Ausreise in den Westen zu bekommen. Niemand hatte es gewagt, der SED-Führung bewusste Wahlfälschung nachzuweisen, auch wenn die meisten wussten, dass die Wahl eine Farce war. Der Historiker Stefan Wolle lebte damals in Ostberlin und schildert, was es bedeutete, nicht zur Wahl oder in die Wahlkabine zu gehen.

    "Man offenbarte sich. Erstens, wenn man überhaupt nicht zur Wahl ging, dann rollten da die Schleppkommandos an am späteren Nachmittag und versuchten den Einzelnen zu überzeugen: 'Gehen Sie doch zur Wahl!' Und man musste auch befürchten - ich drücke es mal vorsichtig aus, dass es nun nicht gerade ein Pluspunkt war, wenn man nicht bei der Wahl erschien. Wenn man sich dann doch entschlossen hatte, hier eine Gegenstimme abzugeben, dann musste man dazu in eine Wahlkabine gehen, und diese Wahlkabine war grundsätzlich im allerletzten Winkel des Wahllokals aufgebaut, sodass es also jeder sehen musste, wenn da einer in die Wahlkabine marschierte, um Streichungen an dem Zettel vorzunehmen."

    Im Frühjahr 1989 war die Stimmung grundsätzlich gewandelt, es keimte Hoffnung auf Veränderung, ausgelöst nicht zuletzt durch Michail Gorbatschow in der Sowjetunion. Im Fernsehen konnten die DDR-Bürger sehen, wie der Erste Mann in Moskau bei den Wahlen zum Volksdeputierten-Kongress demonstrativ den Vorhang der Wahlkabine hinter sich zuzog, weil erstmals mehrere Kandidaten zur Wahl standen. Die Stagnation der DDR-Gesellschaft mit einer Alt-Herren-Riege an der Spitze war allenthalben spürbar, Ausreise- und Reisewünsche wurden vernehmlich geäußert. Stefan Wolle:

    "Viele sagten dann gerade 89, immer mehr Leute diskutierten dann ganz offensiv mit diesen Schleppern und sagten, 'Diese ganze Wahl ist Schwindel, da gehe ich sowieso nicht mehr hin, im übrigen können Sie sich zum Teufel scheren, ich habe sowieso einen Ausreiseantrag und will weg aus diesem Staat', und da waren die natürlich entsprechend hilflos, haben über diese Gespräche auch Berichte geschrieben, die dann auch zur Staatssicherheit gingen, natürlich."

    Gleichzeitig wuchs auch die Bereitschaft, die anstehenden Kommunalwahlen als Scheinwahlen zu entlarven. Das ging nur, wenn man die gesetzlich zugesicherte öffentliche Stimmauszählung möglichst lückenlos überwachte. Dazu brauchte es Mut und Organisationstalent. Da sich die Behörden verweigerten, war schon das Auffinden der einzelnen Wahllokale eine logistische Herausforderung. Bürgerrechtsgruppen, die meist unter dem Dach der evangelischen Kirche agierten, gelang es trotzdem. Eine davon war in Berlin der "Weißenseer Friedenskreis". In ihm wirkte Evelyn Zupke, heute Sozialarbeiterin in Hamburg. Sie kündigte mit Gleichgesinnten ihr Vorhaben bei der Kirchenleitung an und sammelte Freiwillige.

    "Dann haben wir unseren Plan vorgestellt, wie wir vorgehen wollten, nämlich in einem Stadtbezirk, natürlich in Weißensee, da kamen wir her, wirklich in jedes Wahllokal mehrere Leute zu schicken, die dann an der öffentlichen Stimmauszählung, was ja auch im Wahlgesetz verankert gewesen ist, teilnehmen sollten, und das musste ja richtig gut vorbereitet sein, weil einfach nur so hingehen und dann hören und was aufschreiben, also das hätte ja nicht funktioniert. Also das haben wir richtig stabsmäßig organisiert."

    Natürlich unter dem wachsamen Auge der Staatssicherheit. Die hatte, wie sich nach Öffnung der Akten herausstellte, im Vorfeld des 7. Mai insgesamt 103 gegen die Kommunalwahlen gerichtete sogenannte Vorkommnisse registriert. Stefan Wolle:

    "Es gab von der Staatssicherheit eine ganze Menge Vorwarnungen in Befehlen und Lageberichten, wo das gesagt wurde. Aber das lag ja auch im Sinne derer, die das organisiert haben. Es sollte ja keine Geheimaktion sein, sondern das wurde relativ frei und offen propagiert von Kirchengruppen, in der Kirche selbst, das sollte ja nicht geheim bleiben, sondern wurde breit gestreut, und es sprach sich rum, diesmal stimmen wir dagegen, wir raffen jetzt mal unseren Mut zusammen und versuchen mal, was passiert. Natürlich hat das die Stasi mitbekommen, sie hat ja alles mitbekommen, aber was sollten sie tun, Sie waren ja Gefangene ihrer eigenen 99 Prozent - Ideologie."

    Das System war schon so marode und die Bürgerrechtler schon so selbstbewusst, dass wirkliche Angst kaum noch aufkam. Evelyn Zupke:

    "Man kann es im Nachhinein gar nicht so genau sagen. Wenn man jetzt darüber nachdenkt oder sich unterhält, dann denkt man schon, mein Gott, eigentlich hätte man ganz viel Angst haben müssen, aber ich glaube, zu dem Zeitpunkt hätte man das nicht so definiert - als Angst. Sicher mit Vorsicht, mit mulmigem Gefühl, und die Angst bezog sich ja vor allen darauf: Es könnte nicht klappen!"

    Es hat aber geklappt. Zur Schließung der Wahllokale um 18 Uhr trafen sich rund 270 Vertreter der Berliner Bürgerbewegung in der Elisabethkirche mit in der DDR akkreditierten West-Korrespondenten zu einer sogenannten Wahlparty. Als Egon Krenz im Fernsehen das offizielle Ergebnis bekanntgab, wurde das mit lautem Gejohle und Gelächter aufgenommen, widersprach es doch, wie sich später nachweisen ließ, mit Abweichungen bis zu zehn Prozent den von den Zählern ermittelten Ergebnissen. Und dieser Widerspruch wurde umgehend der DDR-Öffentlichkeit mitgeteilt. Rainer Eppelmann, damals Pfarrer, Bürgerrechtler und Mitveranstalter der Wahlparty, äußerte sich schon am nächsten Morgen im West-Berliner Sender RIAS.

    "Wir haben gestern in allen Wahllokalen Menschen mit drinnen gehabt, die mitgezählt haben, und bis heute früh hatte ich von über 90 Prozent dieser Wahllokale eine Rückmeldung, und wir haben von diesen 90 Prozent der Friedrichshainer Wahllokale 4721 Gegenstimmen gezählt, und obwohl uns noch neun Wahllokale fehlen, wurden etwa drei Mal so viele Gegenstimmen gezählt, wie man offiziell bekannt gegeben hat."

    Berlin war nicht der einzige Ort solcher Aktionen. Ähnliches geschah in Leipzig, Jena, Rostock, Weimar, Erfurt und Plauen. In Leipzig machte der Pfarrer Michael Turek als Wahlbeobachter der Ergebnisse auf besonders schlitzohrige Weise die Ergebnisse bekannt.

    "Also es war damals eine wichtige Aufgabe, auch Öffentlichkeit, eine Gegenöffentlichkeit herzustellen. Ich hab das damals im Fenster auch ausgehangen diese Ergebnisse der Auszählungen, darauf bin ich von der Abteilung Inneres angesprochen worden, dass ich damit sozusagen die gesetzlichen Möglichkeiten überschreite, und bin dann dringend aufgefordert worden, das zu beenden. Und dann hab ich das auch gemacht und hab diese ganzen Informationen im Hausflur aufgehangen und ins Fenster ein Plakat, dass wir nicht weiter informieren können über das Fenster - und da haben wir natürlich eine größere Fläche gehabt."

    Die Staatsmacht blieb nicht untätig. In Leipzig wurden 72 protestierende Demonstranten nach Schließung der Wahllokale von Sicherheitskräften gepackt, auf Polizei-Lkws verfrachtet und "zugeführt", wie der offizielle Ausdruck für eine vorübergehende Festnahme lautete. Evelyn Zupke wurde ständig überwacht und immer wieder vorgeladen. Doch insgesamt erzielten diese Einschüchterungsversuche nur begrenzte Wirkung. Schon fünf Tage nach der Wahl schickten Berliner Bürgerrechtler einen "Einspruch gegen die Gültigkeit der Kommunalwahl" an die zuständigen Behörden.

    "Wir haben sowohl Strafanzeigen gestellt als auch Eingaben gemacht, auf allen Ebenen, von der Nationalen Front bis hin zu Erich Honecker und haben Widerspruch, Einspruch erhoben gegen die Fälschung der Kommunalwahlen. Wie zu erwarten, haben wir darauf keine adäquaten Antworten bekommen. In Gesprächen, die wir dann eingefordert haben auf Bezirksebene zum Beispiel, hat man dann Antworten bekommen wie: 'Es kann nur eine Wahrheit geben, und die steht im ND.' Wir haben dann nacheinander Gespräche beim Staatsanwalt von Weißensee bekommen und Gelegenheit zum Gespräch zu unserer Strafanzeige, und wurden dann auch mit solchen Antworten abgefertigt."

    Die Ignoranz der Behörden veranlasste die Bürgerrechtler, ihre Proteste öffentlich fortzusetzen. Der Historiker Stefan Wolle, am 7. Mai stiller Teilnehmer der Weißenseer Wahlparty:

    "Weil ja das formal alles vollkommen im Rahmen der Legalität verlief, konnten sich auch Leute organisieren. Innerhalb der recht diffusen Bewegung für mehr Freiheit, für mehr Demokratie entwickelten sich sozusagen Kerne einer internen Organisation, die ihrerseits wieder an die Öffentlichkeit traten, und das taten sie auch mit dem Versuch einer Demonstration, die dann schon nach wenigen Metern vor der Sophien-Kirche in Berlin aufgelöst wurde. Immerhin zeigte sich, es ist möglich, so etwas zu organisieren, und wenn so eine Demonstration nur zehn Meter gehen kann."

    Von Juli an wurde der Ostberliner Alexanderplatz allmonatlich Ort der Demonstrationen. Sie sollten am 7. jeden Monats so lange stattfinden, bis der Staat bereit wäre, die Wahlmanipulationen einzugestehen. Schon am 7. Oktober, dem 40. Jahrestag der DDR-Gründung, fand dann eine letzte, ungleich größere Demonstration statt, die zusammen mit den Massenkundgebungen in Leipzig den Untergang der DDR unmittelbar einleiteten. Honecker stürzte, die Mauer fiel, zu einem Eingeständnis der Wahlfälschung war der neue Staats- und Parteichef Egon Krenz aber auch dann noch nicht bereit, als für ihn schon alles verloren war und die friedliche Revolution schon gesiegt hatte. Am 3. Dezember 1989, wenige Wochen vor der Umbenennung der SED in die PDS sagte er auf einer geschlossenen Sitzung des Zentralkomitees.

    "Ich möchte auch in diesem Zusammenhang ein persönliches Wort noch sagen (zu dem), was jetzt sehr stark diskutiert wird im Zusammenhang mit den Kommunalwahlen: Ich meinerseits habe nicht die Absicht weiter zu gehen, als ich bis jetzt öffentlich gegangen bin. Selbstverständlich ist mir klar und bewusst, dass das erzielte Wahlergebnis mit der tatsächlichen politischen Situation im Lande weder damals noch heute übereingestimmt hat. Es gab aber keine andere Möglichkeit, das Wahlergebnis bekannt zu geben, weil es so entsprechend den Protokollen, die auch in den Kreisen existierten, zusammengestellt worden ist. Würden wir jetzt, wie das einige vorschlagen, diese Frage neu aufrollen, Genossinnen und Genossen, ich habe die Furcht, dann räumen wir nicht nur Positionen, die wir noch besitzen, dann können wir ganz nach Hause gehen."

    Was dann auch alsbald geschah. In den stürmischen Monaten vor und auch nach der deutschen Vereinigung spielte die Fälschung der Kommunalwahl keine Rolle, da gab es schwierigere und kontroversere Themen. Sie rückte erst wieder ins Blickfeld, als es um die juristische Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit ging. Wahlfälschung war auch nach den Gesetzen der DDR strafbar, darum gingen die Verfahren gegen den früheren Oberbürgermeister von Ostberlin Erhard Krack und seinen Dresdner Amtskollegen Wolfgang Berghofer 1992 und 93 relativ zügig über die Bühne. Sie kamen mit einer Bewährungsstrafe von zehn beziehungsweise zwölf Monaten sowie einer Geldbuße davon. Berghofers Vorgesetzter, der ehemalige Dresdner SED-Chef und vorletzte DDR-Ministerpräsident Hans Modrow erhielt nach einer Revision vor dem Bundesgerichtshof nur neun Monate auf Bewährung. Er konnte sich einen Seitenhieb auf die Richter aber nicht verkneifen.

    "Wenn das, was Zeugen und Sachverständige in diesem Raum gesagt haben, Schall und Rauch bleibt, dann bleibt es Siegerjustiz."

    1995 wurde dann auch gegen die obersten Hintermänner der Wahlfälschung im früheren SED-Politbüro ermittelt. Gegen Egon Krenz als Leiter der obersten Wahlkommission der DDR, gegen Horst Dohlus, den ZK-Sekretär, der die Anweisungen weitergab und gegen Günter Schabowski, der sie als Berliner SED-Bezirkschef umsetzte. Berlins damalige Justizsprecherin Uta Fölster gab die Erkenntnisse der in Sachen Regierungskriminalität ermittelnden Staatsanwälte bekannt

    "Die Anklageschrift richtet sich nicht nur gegen Herrn Krenz, sondern auch gegen Herrn Dohlus und Herrn Schabowski. Herrn Dohlus wird vorgeworfen, dass er im April 1989 zu den Fälschungen aufgefordert haben soll, also der Vorwurf der Anstiftung zur Wahlfälschung. Die Aufforderung, also die Anstiftung, liegt nach den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft darin, dass er im Rahmen einer Beratung zur Vorbereitung der Kommunalwahl zusammen mit Sekretären der Bezirksleitung der Partei darauf hingewiesen haben soll, dass das bestmögliche Ergebnis zu erreichen sei, und er habe damit beabsichtigt, dass die Vertreter der SED-Bezirksleitung dieses umsetzen in dem Sinne, dass die Erhöhung der Wahlbeteiligung erfolgt und eine Verringerung der erhobenen Gegenstimmen. Nach den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft ist dies auch geschehen, und zwar in Berlin und in Dresden. Insoweit wird dem Angeschuldigten Schabowski vorgeworfen, dass er dafür gesorgt hätte, dass die Aufforderung von Dohlus in Berlin umgesetzt worden ist; und letztlich sollen dann Dohlus und Krenz das offizielle Wahlergebnis in einem Bericht bestätigt haben, und zwar in Kenntnis der Fälschungen, die vorgenommen worden sind in Dresden und in Berlin."

    Tatsächlich vor Gericht verhandelt wurde diese Anklage nie, denn die betroffenen Herren hatten sich wegen viel schwerer wiegender Vorwürfe, der Todesschüsse an der Berliner Mauer zu verantworten. Für den Historiker Stefan Wolle machte die DDR-Führung mit der Fälschung der Kommunalwahl einen großen Schritt hin zu ihrem eigenen Untergang.

    "In dem Moment, wo die ihre Schwindelzahlen öffentlich proklamierten, war mir klar, es war die letzte Wahl, die nach diesem Muster abgelaufen sein wird. So etwas wird nicht mehr möglich sein. Bei kommenden Wahlen werden die Bürger ihr Recht wahrnehmen, dagegen stimmen, nicht zur Wahl gehen und die Auszählung kontrollieren. Da war die Niederlage des Staates schon offensichtlich."

    Evelyn Zupke, eine der Aktivsten beim Nachweis der Wahlfälschung im Mai 1989, ist fast auf den Tag genau 20 Jahre später von der Bundestagfraktion Bündnis90/Grüne dazu ausersehen, die Bundespräsidentin oder den Bundespräsidenten im Berliner Reichstag in geheimer Abstimmung zu wählen. Auf besondere Weise schließt sich da der Kreis.

    "Wahlen in der DDR habe ich nie wirklich als Wahlen empfunden. Das ist eher irgendetwas Theoretisches, was existierte, was ein Symptom dieses vermaledeiten Staates war, was so oder so ausgefüllt wurde. Wahlen heute sind etwas völlig anderes. Es hat etwas miteinander zu tun, aber ich empfinde es nicht so."