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Der arabische Frühling aus der Distanz und als beobachtender Teilnehmer

Hamed Abdel Samad ist Ägypter und kam mit 23 Jahren nach Deutschland - er arbeitete als Wissenschaftler, jetzt als freiberuflicher Autor. Volker Perthes ging als Politikwissenschaftler in den Nahen Osten. Heute ist er Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik. Beide haben Bücher über den arabischen Frühling geschrieben.

Von Ralph Gerstenberg | 14.11.2011
    Wie jede Publikation, die derzeit über den arabischen Frühling erscheint, ist Volker Perthes' Buch "Der Aufstand" eine Momentaufnahme, die jedoch dazu beitragen kann, die zukünftigen Entwicklungen besser zu verstehen. Als "historisches Großereignis", vergleichbar mit der Systemwende in den Ostblockstaaten, sieht Perthes den Aufstand der Menschen in der arabischen Welt. Nicht nur Armut trieb sie auf die Straße, sondern auch Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Volker Perthes:

    "Alle Regime haben gedacht, dass es im Wesentlichen Brotrevolten sind. Alle haben sofort begonnen, Subventionen auf Lebensmittel zu erhöhen, also Lebensmittelpreise durch staatliche Subventionen niedriger zu machen, Benzinpreise niedriger zu machen, weil sie gedacht haben, das ist der Schlüssel, um den Protest enden zu lassen. Aber das war nicht so. Die Menschen haben gesagt: Ja, ihr könnt uns die Gehälter erhöhen, ihr könnt den Brotpreis niedriger machen, aber wir gehen trotzdem auf die Straße. Es geht um Würde, und es geht um Freiheit."

    Präzise beschreibt Volker Perthes die politische Situation in den jeweiligen Ländern und die dynamischen Prozesse, die die Revolte dort in Gang gesetzt hat. Alle diese Staaten erleben einen demografischen Wandel. Mindestens zwei Drittel der Menschen, die dort leben, sind unter 36 Jahre alt. Volker Perthes schreibt daher von einem "Aufstand der Jugend", deren Bildungsniveau steigt und die medial gut vernetzt ist. Den Begriff der "Facebook-Revolution" möchte er allerdings relativiert sehen.

    "Viele Aktivisten haben Facebook benutzt. Aber dann haben wir uns nicht überlegt, dass sie in Ägypten immer noch 30 Prozent Analphabetismus haben, dass der größte Teil der Ägypter, auch derer, die auf die Straße gegangen sind, keinen Zugang zum Internet haben und schon gar nicht Facebook benutzen. Und deshalb muss man das relativieren und sagen: Ja es gibt Gruppen von Aktivisten, die hochgebildet sind, die gut vernetzt sind, die Facebook benutzen, Aber die große Masse derer, die schließlich auf die Straße gegangen sind und das Regime zu Fall gebracht haben, das sind nicht alles Facebook-Nutzer."

    Perthes' Buch ist informativ, gut strukturiert und beschäftigt sich nicht nur mit den Veränderungen im gesamten arabischen Raum, sondern auch mit deren Auswirkungen auf Europa. Den Westen, der die Demokratisierungsbemühungen in arabischen Staaten bislang bestenfalls halbherzig unterstützt hat, sieht er jetzt in der Verantwortung. Islamisten wie die ägyptischen Muslimbrüder - so Perthes - befänden sich derzeit in einem Realitätstest.

    "Die müssen sich plötzlich damit auseinandersetzen, dass sie regieren oder mitregieren werden. Die müssen Antworten auf Fragen geben, mit denen sie sich nie zuvor beschäftigt haben. Die waren vorher die tolerierte, halb tolerierte oder unterdrückte Opposition, die immer sagen konnten: Die Regime machen das falsch. Unsere Lösung liegt im Islam, aber keine konkreten Antworten geben mussten. Jetzt werden sie plötzlich Minister werden für Wirtschaft, Finanzen, Soziales, Tourismus und sagen müssen: Was machen wir denn nun, um die ägyptische Wirtschaft aus dem Tal herauszuholen? Das heißt, sie stehen plötzlich unter dem Test, konkrete Antworten auf die Fragen geben zu müssen, die die alten Regime nicht ordentlich beantwortet haben."

    Im Gegensatz zu Volker Perthes war Hamed Abdel-Samad im vergangenen Frühjahr von Beginn an dabei, als der revolutionäre Funke von Tunesien auf seine Heimat Ägypten übersprang. Im ersten Drittel seines Buches "Krieg oder Frieden - die arabische Revolution und die Zukunft des Westens" berichtet er tagebuchartig von den Demonstrationen und Eskalationen auf dem Tahrir-Platz in Kairo. Die Revolution, deren Beginn punktgenau auf Facebook angekündigt worden war, hielt der seit 15 Jahren in Deutschland lebende Politikwissenschaftler zunächst für einen Witz, wie er auf der Frankfurter Buchmesse gestand.

    "Ich hab zunächst gelacht und gesagt, die Ägypter waren niemals pünktlich. Wie soll das funktionieren. Wie kann man eine Revolution ankündigen in einem Polizeistaat das kann nicht gut gehen. Das ist die eine Seite. Die andere Seite: Ich hab' immer Reformen gefordert, ich hab' immer gewünscht, dass sich etwas verändert und ich wollte es nicht verpassen. Ich hab' gesagt: Auch wenn es eine kleine Bewegung ist, dann will ich dabei sein, will mir nicht im Nachhinein vorwerfen, dass ich das Ganze aus der Ferne beobachtet habe. Und als ich da ankam, da ging's sofort los. Ich war überwältigt von soviel Mut und soviel Kraft von vielen Frauen und Männern, Jungen und Alten, die auf die Straße gegangen sind."

    "Meine arabische Revolution" heißt das Kapitel, in dem Hamed Abdel-Samad jene Tage beschreibt, die in seiner Heimat zum Umsturz führten. Er schildert die Straßenkämpfe, das harte Vorgehen der Polizei sowie den beherzten Schulterschluss seines Volkes über Konfessionen, soziale Zugehörigkeiten und Altersgrenzen hinweg.

    " 'Freiheit' hieß früher Freiheit des Kollektivs als Nation, von Kolonialismus oder von ausländischen Mächten. Jetzt definieren junge Menschen Freiheit individuell. Das ist ein Novum. Diese Revolution hat das Schönste, was Ägypten und alle anderen arabischen Saaten zu bieten haben, ans Tageslicht gebracht, aber auch das Hässlichste. Es ist zwar richtig, dass wir eine neue Generation haben, die anders leben will. Aber wir haben auch andere Generationen und Kräfte, die sich dagegen wehren. Die auch sehr stark sind. Deshalb spreche ich von diesem inneren Kampf der Kulturen. Die Erde wird gerade gepflügt und es kommt alles raus."

    Für Hamed Abdel-Samad steht die arabische Welt an einem Scheideweg: Entweder die demokratischen Kräfte werden sich durchsetzen, oder die Region versinkt in Chaos, Korruption, religiösem Fanatismus und Terror. Er beschreibt die Veränderungen der arabischen Medien durch das Internet, die Strukturen des Bildungswesens, geht auf die Rolle der Frauen und - so wie Perthes - auf den Einfluss der Muslimbruderschaft ein, deren politische Praxistauglichkeit er ebenfalls anzweifelt. Überhaupt liegen Volker Perthes und Hamed Abdel-Samad in ihren Einschätzungen oft dicht beieinander. Beide fordern von der europäischen Staatengemeinschaft mehr Offenheit und Hilfe beim Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen. Doch während Perthes eine sachlichere und umfassendere Analyse bietet, schildert Abdel-Samad den arabischen Transformationsprozess vor allem am Beispiel Ägyptens oft im leidenschaftlichen Ton eines Beteiligten. Es lohnt sich also, beide Bücher zu lesen.

    Volker Perthes
    Der Aufstand - Die arabische Revolution und ihre Folgen. Pantheon 2011, 224 Seiten 12,99 Euro, ISBN: 978-3-570-55174-5

    Hamed Abdel-Samad
    Krieg oder Frieden: Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens, Verlag Droemer, 240 Seiten, 18,00 Euro, ISBN: 978-3-426-27558-0