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Der Arzt als Detektiv

"Der Uexküll" steht heute in den Bücherregalen vieler Medizinstudenten. Richtig heißt der Titel des 1500 Seiten schweren Lehrbuchs: "Psychosomatische Medizin. Modelle ärztlichen Denkens und Handelns". Für seinen Autor gehören körperliche und seelische Leiden zusammen. Thure von Uexküll wurde zum Begründer der psychosomatischen Medizin in Deutschland.

Von Martin Winkelheide | 15.03.2008
    Die Welt sieht für einen Regenwurm anders aus als für einen Hund oder einen Menschen. Sie leben in verschiedenen Umwelten. Das lernte Thure von Uexküll früh von seinem Vater, dem Biologen Jakob von Uexküll. Und als er als Medizinstudent in Hamburg einmal krank wurde, merkte er: Ein kranker Mensch erfährt und erlebt die Wirklichkeit anders als ein Gesunder.

    "Es ist ein sehr eindrucksvolles Erlebnis für mich gewesen, wie man als Schwerkranker in einer ganz anderen Welt lebt, die von der Welt der Gesunden geschieden ist. Und es ist auch eindrucksvoll zu erfahren, dass die Ärzte und die Schwestern, die einen behandeln, das eigentlich nicht zur Kenntnis nehmen."

    Ärzte fragen nach körperlichen Beschwerden, sie lassen Blut oder Urin untersuchen und andere Laborwerte erheben.

    "Dabei wurde mir klar, dass wir bei der üblichen medizinischen Untersuchung und Erhebung der Vorgeschichte über den Patienten, über den Menschen, der als Patient vor uns liegt oder sitzt, sehr wenig oder gar nichts erfahren."

    Am 15. März 1908 in Heidelberg geboren arbeitete Thure von Uexküll zunächst als Assistenzarzt in Berlin. Seine Hochschulkarriere - er hatte sich geweigert, der NSDAP beizutreten - konnte er erst nach dem Zweiten Weltkrieg in München aufnehmen. 1955 wurde er als Professor für Innere Medizin nach Gießen, 1966 schließlich an die Reformuniversität Ulm berufen.

    Thure von Uexküll verstand sich vor allem als Arzt. Ein guter Arzt, so seine Überzeugung, wird nicht einfach nach einem Defekt in der "Maschine Mensch" suchen und versuchen, diesen Defekt zu beheben. Denn zu einer Krankheit führen nie allein nur biologische - also "somatische" Faktoren. Und allein nach psychischen Faktoren zu suchen, wäre ebenso einseitig.

    "Man kann, glaube ich, mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass bei allen Krankheiten somatische und psycho-soziale Faktoren eine Rolle spielen, dass aber bei jeder Krankheit und bei jedem Kranken das Gewicht der einzelnen Faktoren verschieden ist."

    Der klassischen Schulmedizin setzte Uexküll eine spezielle Deutungskunde entgegen: Der Arzt hat es mit dem höchst individuellen Leiden einer unverwechselbaren, konkreten Patientenpersönlichkeit zu tun. Wie ein Detektiv muss er also Indizien sammeln, um zunächst rätselhafte Vorgänge erklären zu können. Ob ein Patient arm ist oder reich, gut oder schlecht ausgebildet, ob er Arbeit hat und aufgehoben ist in einem sozialen Netz - oder nicht. All das kann Einfluss haben darauf, welches Ausmaß eine Krankheit annimmt, wie sie verläuft und sogar wie schnell sie zum Tode führt.

    "Diese Tendenz, psychosomatische Medizin eben nicht als Spezialgebiet, sondern als integrierender Teil jeder ärztlichen Betreuung von Kranken aufzufassen, die hat sich sehr bewährt."

    Als Thure von Uexküll am 29. September 2004 im Alter von 96 Jahren starb, gab es bereits an jeder medizinischen Fakultät in Deutschland eine Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie.

    "Meine Arbeit wird Gott sei Dank an vielen Stellen fortgeführt."

    Die Grundlagen des von Uexküll geschaffenen Fachs sind in einem 1500-Seiten-schweren Lehrbuch zusammengefasst: "Psychosomatische Medizin. Modelle ärztlichen Denkens und Handelns". Für Studenten einfach: "Der Uexküll". Eine Erfolgsgeschichte - vordergründig.
    Dennoch gibt es nach wie vor Missverständnisse. Psychosomatische Krankheiten, so eine gängige Vorstellung, seien solche, für die die Schulmedizin noch keine Erklärung gefunden hat. Ein weiteres Klischee: Psychosomatik sei ein altmodisches Fach, von Grund auf technikfeindlich.

    "Ein bekannter Arzt hat das einmal sehr schön ausgedrückt, er hat gesagt: Technik ist für die Medizin sehr notwendig und sehr hilfreich. Und es hat gar keinen Sinn, über die Technik zu schimpfen. Aber, sagt er, je mehr Technik - um so mehr Arzt ist notwendig."

    Wissenszuwachs sah Uexküll nicht als Bedrohung an für eine psychosomatisch ausgerichtete Medizin. Er wusste: Der Arzt als Detektiv wird mehr denn je gebraucht.