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Der Arzt Werner Forßmann legt sich den ersten Herzkatheter

Heute wird so viel gesprochen von der Teamarbeit. Ich glaube aber, diejenigen, die die Wissenschaft wirklich weiterbringen sind individuelle Arbeiter. Sie sind Menschen, denen etwas einfällt, denen im Laufe der Entwicklung eine gütige Hand einen Schleier vor den Augen nimmt, so dass sie etwas sehen, das wohl auf der Straße liegt, an dem aber die anderen vorbeigegangen sind.

Von Kay Müllges | 05.11.2004
    Werner Forßmann war so ein individueller Arbeiter. Mit einem Selbstversuch zur Herzkatheterisierung, dessen Ergebnisse er am 5. November 1929 in der Klinischen Wochenschrift publizierte, setzte er medizinische Maßstäbe. Doch beinahe wäre es dazu gar nicht gekommen, denn nach dem Abitur wollte der Sohn eines Versicherungsangestellten eigentlich eine ganz andere Laufbahn einschlagen. Erst sein Klassenlehrer brachte ihn auf den rechten Weg, wie er später in einem Vortrag zum Besten gab:

    Ich sagte: ich will Kaufmann werden! Da schlug er das Buch zu und sagte kommen sie nach der Stunde zu mir. Ich sage Jawohl, Herr Studienrat. Und nach der Stunde sagt er zu mir. So, Herr Forßmann, sie wollen also Kaufmann werden. Da will ich Ihnen eins sagen: wenn sie Kaufmann werden, verdienen alle Leute Geld, bloß sie nicht! Zum Kaufmann werden sind sie viel zu dämlich, sie müssen studieren, studieren sie Medizin!

    Nach erfolgreichem Abschluss des Studiums führte ihn eine seiner ersten beruflichen Stationen an das Krankenhaus in Eberswalde. Dort entwickelte er die Idee der Herzkatheterisierung. Anfang des letzten Jahrhunderts war das Herz für die Chirurgen eine ähnliche Herausforderung wie die höchsten Himalaja-Gipfel für einen Bergsteiger. Es existierten außer dem EKG keinerlei verlässliche Verfahren mit denen sich Krankheiten des Herzens diagnostizieren ließen. Zwar hatten französische Ärzte bereits tierexperimentelle Erfahrungen mit Herzkathetern gemacht, doch am Menschen hatte das noch niemand ausprobiert. Viel zu gefährlich, lautete die einhellige Meinung. Sein Chef untersagte dem damals 25jährigen Arzt deshalb kategorisch, einen solchen Eingriff zu versuchen. Doch Forßmann trickste alle aus. Zunächst gewann er das Vertrauen einer Operationsschwester, die sich erbot, als Versuchskaninchen zu fungieren. Dann hinterging er auch sie:

    Also sie legte sich auf den Operationstisch. Ich machte ihr die Beine fest und machte ihr die Arme fest. Und hinter ihrem Kopf, wo sie das nicht sehen konnte, stand das Zeug und da hab ich mir das schnell eingespritzt und zack! Hatte ich die Venaesectio gemacht und hatte das Ding drin.

    Mehr als sechzig Zentimeter führte Forßmann den Katheter durch eine Armvene bis zum Herzen vor und stieg anschließend in den Keller, um das Ergebnis im Röntgenbild zu dokumentieren. Er hatte bewiesen, dass es völlig ungefährlich war, einen Katheter zum Herzen zu legen. Sein unerschrockener Selbstversuch wurde sogar in der Tagespresse gefeiert. Heute sieht man das ein wenig kritischer. In einem Artikel der Ärzte-Zeitung zu Forßmanns 100. Geburtstag in diesem Jahr heißt es:

    Forßmann besaß 1929 keinerlei tierexperimentelle Erfahrungen. Ein Forschungsprogramm existierte nicht einmal in Ansätzen. Forßmanns einziges konkretes Ziel bestand darin, die Ungefährlichkeit der Herzkatheterisierung beim Menschen durch ein spektakuläres Experiment zu beweisen, um sich dadurch für eine akademische Karriere ins Gespräch zu bringen.

    Und das schien zunächst auch zu gelingen, denn der weltberühmte Ferdinand Sauerbruch holte ihn an seine Klinik, die Charite in Berlin. Allerdings kam es schnell zum Zerwürfnis, denn Sauerbruch sah den Wert des Verfahrens für die Chirurgie nicht:

    Mit solchen Kunststückchen habilitiert man sich im Zirkus und nicht an einer anständigen deutschen Klinik!

    Die Nazi-Jahre verbrachte Forßmann, übrigens NSDAP-Mitglied seit 1932, als Oberarzt an verschiedenen Kliniken und während des Kriegs als Sanitätsoffizier. Nach 1945 wegen seiner Parteimitgliedschaft mit einem dreijährigen Berufsverbot belegt, praktizierte er danach als Landarzt in einem kleinen Schwarzwalddorf, ab 1950 in Bad Kreuznach. In Deutschland war sein Selbstversuch in Vergessenheit geraten. In den USA allerdings wurde die Katheterisierung in den vierziger Jahren zu einem klinischen Standardverfahren weiterentwickelt. Und die amerikanischen Mediziner Andre Frederic Cournand und Dickinson William Richards, die das maßgeblich taten, betonten stets, dass Werner Forßmann der Pionier auf diesem Gebiet gewesen sei. 1956 erhielt er gemeinsam mit den beiden den Medizin-Nobelpreis. Spätestens jetzt wurde seine Geschichte zur Legende.