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Der Astrophysiker und Muslim Nidhal Guessoum
Wie Islam und Wissenschaft zusammenpassen

Warum schneiden Unis in islamischen Ländern so schlecht ab? Nur eine Handvoll schafft es in internationalen Ranglisten unter die Top 500. Nidhal Guessoum will das ändern. Er sagt: Islam und moderne Wissenschaft passen zusammen. Nidhal Guessoum ist selbst Muslim und Astrophysiker.

Von Thomas B. Ibrahim | 26.04.2021
Zwei Wissenschaftlerinnen mit Maske, eine mit Hijab, arbeiten in einem Labor
Wie lassen sich Religion und Wissenschaft in Einklang bringen? Der Astrophysiker und Muslim Nidhal Guessoum setzt auf Dialog (IMAGO / Science Photo Library)
Nidhal Guessoum hat ein starkes Sendungsbewusstsein. Der 1960 in Algier geborene Astrophysiker hat feine Züge; eine schlichte Brille rahmt seine wachen, dunklen Augen. In Sharjah, einem kleinen Emirat direkt an der Straße von Hormus, lehrt er seit 20 Jahren an der "American University". In seinen zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen geht es um Gamma-Strahlung, das Leben und Sterben von Positronen, Mikroquasare und andere Phänomene, über die Astrophysiker nun mal forschen.

Religion und Wissenschaft in Einklang bringen

Doch neben der Astronomie verwendet der Forscher und gläubige Muslim seit Jahren einen Großteil seiner Zeit auf eine weitere Frage: Wie lassen sich Religion und Wissenschaft in Einklang bringen?
"Wenn man die Frage betrachtet, wie sich Religion und moderne Wissenschaft zueinander verhalten, stößt man schnell auf Ian Barbour. Ein amerikanischer Physiker, der später Philosoph und Theologe wurde und viel zu diesem Thema geschrieben hat. Er sagte, die Beziehung zwischen Wissenschaft und Religion kann sich im Wesentlichen in vier unterschiedliche Richtungen entwickeln: erstens Konflikt, zweitens Unabhängigkeit, drittens Dialog und viertens Integration."
Der Astrophysiker und Muslim Nidhal Guessoum
Der Astrophysiker und Muslim Nidhal Guessoum (IHSAN)
Fest steht, so Nidhal Guessoum, dass, wer Religion und Wissenschaft in Beziehung setzen möchte, zu irgendeiner Lösung kommen muss. Der Schlüssel dazu liegt für ihn im Dialog und in der Integration wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Religion.
"Zu den Themen, die mit der physischen Welt zu tun haben – Astronomie, Kosmologie, Biologie, Chemie et cetera – hat die Wissenschaft viel zu sagen. Und zu bestimmten Themen hat ausschließlich die Wissenschaft etwas zu sagen. Deshalb müssen gerade religiöse Menschen solchen wissenschaftlichen Erkenntnissen mit Interesse und Respekt begegnen."

Zielgruppe: junge Muslime

Von welcher Seite sich Nidhal Guessoum diesem Dialog nähert, wird noch deutlicher, wenn man sich den Titel seines jüngsten Buches zum Thema anschaut: "The Young Muslim's Guide To Modern Science". Mit diesem "Wegweiser" wendet er sich als Wissenschaftler an junge Muslime, die moderner Wissenschaft fragend, skeptisch oder sogar ablehnend gegenüberstehen. Eine Haltung, die Guessoum in einer falschen Lesart religiöser Texte begründet sieht.
"In dem Teil der Welt und in der Gesellschaft, in der ich lebe, will ich vor allem Menschen erreichen, die religiöse Texte wörtlich auffassen und deshalb durcheinanderbringen, was eine Quelle naturwissenschaftlichen Wissens und was eine Quelle der religiösen Botschaft ist. Die heftigsten Auseinandersetzungen habe ich mit denen, die denken, dass religiöse Texte naturwissenschaftliche Informationen enthalten, und die deshalb bei manchen wissenschaftlichen Erkenntnissen ihr Veto einlegen. Dann sagen sie oft: 'Nein, ich kann das nicht akzeptieren, denn in meinem heiligen Buch steht' oder 'in dem und dem Vers heißt es …'. Gerade auf diese Leute habe ich es abgesehen."
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Denn Konflikte zwischen Religion und Wissenschaft können in der islamischen Welt eine Brisanz entwickeln, die leicht unterschätzt wird. Guessoum: "Es besteht kein Zweifel daran, dass der Islam und Religion eine größere Rolle in den arabisch-muslimischen Gesellschaften spielt als in Europa. Solche Diskussionen sind in diesem Teil der Welt in der Regel packend, spannend und relevant für die Gesellschaft."
Nidhal Guessoum will eine gemeinsame Diskussionsgrundlage schaffen. Als praktizierender Muslim kennt er die Fallstricke und Missverständnisse, die dafür aus dem Weg geräumt werden müssen.
"Ich versuche nicht, Leute zu konvertieren. Ich will niemanden in eine bestimmte Richtung drängen. Ich sage immer, dass ich ein Lehrer bin. Und der Job eines Lehrers ist es, zu lehren und nicht Leute einer Hirnwäsche zu unterziehen. Wir haben die Aufgabe aufzuklären. Und wenn ich einer Person meine Sichtweise wirklich umfassend dargelegt habe und ich merke, dass sie meine Gedanken verstanden hat, liegt es an diesem Menschen, was er damit macht. Meine Arbeit ist dann erledigt."

Negative Folgen des Kolonialismus

Wer nach den Gründen sucht, warum Islam und moderne Wissenschaft sich so schwertun, muss in die Geschichte schauen. Denn es war auch schon mal anders: Kurz nach der Entstehung des Islam entwickelte sich die muslimische Welt zum Zentrum wissenschaftlichen Fortschritts. Ideen und Konzepte aus jenen Regionen, die man gerade unterworfen hatte, wurden gesammelt, übersetzt und weiterentwickelt - ein zentraler Faktor für die Jahrhunderte währende Vorherrschaft der Muslime in Zentralasien, dem Nahen Osten und rund ums Mittelmeer.
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Doch dann kam es zum langsamen Niedergang; und in Zeiten des Kolonialismus und Imperialismus machten Muslime traumatische Erfahrungen mit dem, was sie als "den Westen" bezeichneten. So entstand eine ambivalente Sicht auf die moderne Wissenschaft. Einerseits wurden wissenschaftliche Errungenschaften und Bildung verknüpft mit der eigenen glorreichen Vergangenheit und der Möglichkeit eines gesellschaftlichen Aufstiegs, andererseits spielten sich die fortschrittlichsten wissenschaftlichen Entwicklungen größtenteils in den Nationen ab, von denen man sich befreien wollte.
"Es stimmt, dass nach dem Ende des Kolonialismus nach einer eigenen Identität gesucht wurde. Nehmen wir meine Heimat Algerien als Beispiel: In den ersten 20 Jahren nach der Unabhängigkeit ging es darum, sich auf die eigene Identität und die eigenen Wurzeln zurückzubesinnen, auf die eigene Sprache, die eigene Geschichte. Der sogenannte Westen wurde abgelehnt. Und das trug dazu bei, dass sich eine unbewusste Befangenheit gegenüber allem entwickelte, das aus dem Westen kam", sagt Nidhal Guessoum.

"Es geht nicht um 'westliche' Wissenschaft"

Diese Haltung sei besonders in konservativen religiösen Kreisen verbreitet. Und es ist diese Sichtweise, der sich der Astrophysiker entgegenstellt: "Das ist einer der Gedanken, die ich im 'Young Muslim’s Guide To Modern Science' vermitteln will. Ich versuche zu erklären, dass es nicht um 'westliche' Wissenschaft geht, sondern um 'moderne' Wissenschaft. Und ich versuche darzulegen, warum 'moderne' Wissenschaft ihrem Wesen, Prinzipien und Methoden zufolge universell ist. Die wissenschaftlichen Methoden sind rund um die Welt die gleichen! Sie sind nicht 'westliche'. Aber weil die Entwicklung der modernen Wissenschaft und 99 Prozent der Fortschritte in diesem Feld sich im Westen abgespielt haben, sehen viele Leute den ganzen Bereich als etwas 'Westliches'."
Nidhal Guessoum ist ein renommierter Wissenschaftler. Warum es ihm überhaupt so wichtig ist, mit religiösen Menschen in Dialog zu treten, will ich wissen. "Wissenschaft liefert uns Wissen. Sie hat keine Botschaft für uns Menschen. Aber Religion und Glaube kann uns Bedeutung geben. Die zwei lassen sich kombinieren, aber das eine kann nie ein Ersatz für das andere sein."