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"Der Aufstand des Gewissens"

Sophie und Hans Scholl haben sich nicht bewusst fassen lassen, um so ein Zeichen der Selbstaufopferung zu setzen, sagt Ulrich Chaussy. Darauf deuten die Vernehmungsprotokolle hin, die der Journalist als Ko-Autor eines Buches über die Widerstandskämpfer der "Weißen Rose" ausgewertet hat.

Ulrich Chaussy im Gespräch mit Christoph Heinemann | 22.02.2013
    Christoph Heinemann: Heute vor 70 Jahren starben Christoph Probst sowie Sophie und Hans Scholl in München. Am gleichen Tag hatte sie der sogenannte Volksgerichtshof unter Vorsitz des extra aus Berlin angereisten Richters Roland Freisler zum Tode verurteilt. Die Geschwister Scholl waren vier Tage zuvor vom Hausmeister der Universität München entdeckt worden, als sie Flugblätter gegen die Herrschaft der Nazis verteilten. Nach einem längeren Verhör übergab Walther Wüst, der Rektor der Universität, beide der Gestapo. Zusammen mit dem Militärhistoriker Gerd Ueberschär hat der Journalist Ulrich Chaussy gerade das Buch vorgelegt "Es lebe die Freiheit. Die Geschichte der Weißen Rose und ihrer Mitglieder in Dokumenten und Berichten." Nachzulesen sind dort unter anderem die Vernehmungsprotokolle von Sophie und Hans Scholl, von Christoph Probst, Alexander Schmorell, Wilhelm Graf und Kurt Huber. Dass die Geschwister ihre Schriften am helllichten Tag verteilten und sie sich von einem Pedell abführen ließen, deutete der Publizist Joachim Fest so, dass Sophie und Hans durch einen Akt der Selbstaufopferung ein weithin sichtbares Zeichen setzen wollten. Das glaubt der Journalist Ulrich Chaussy nicht.

    Ulrich Chaussy: Dass die beiden sich nicht opfern wollten, kann man auch daraus entnehmen, dass sie, nachdem sie nun fast erfolgreich sämtliche 1800 Flugblätter ausgelegt hatten und am Ende wahrscheinlich sogar nur aus Versehen ein Stapel runterflog in den Lichthof, dass sie, als sie dann zur Gestapo kamen, nicht gesagt haben, wir erklären, wir haben diese Aktion gemacht deswegen und deswegen, und ihre Motive gleich ausbreiteten, sondern sie haben eine sehr erfolgreiche Leugnung eigentlich begonnen, abgesprochen die beiden miteinander, obwohl sie getrennt verhört waren. Und erst ein verhängnisvoller Fehler von Hans Scholl, dass er nämlich bei dieser Aktion, übermüdet und überanstrengt, wie sie waren, einen Flugblattentwurf, einen handschriftlichen Flugblattentwurf von Christoph Probst bei sich trug, der diesem dann zugeordnet werden konnte durch einen Schriftvergleich, und da dann die verrückte Situation entstand, dass Hans und Sophie quasi noch nichts nachzuweisen war, aber ihr im Hintergrund gehaltener Freund, der Familienvater Christoph Probst, nun für alles hätte geradestehen müssen, dann haben sie sich erst in der Nacht vom 18. auf den 19. Februar zum Geständnis entschlossen und haben dann versucht, möglichst viel auf sich zu nehmen.

    Heinemann: Sie haben von den Motiven gesprochen. Wodurch und wann wurden Sophie und Hans Scholl zu Gegnern des NS-Regimes?

    Chaussy: Das war ihnen offenbar gar nicht in die Wiege gelegt. Sie wollten bei der neuen Zeit dabei sein. Sie begeisterten sich für die Hitlerjugend. Hans Scholl brachte es da selbst bis zum Fähnleinführer. Und erst innere Widersprüche, dass zum Beispiel die Riten und Gewohnheiten der bündischen Jugend, die den Gruppen viel Eigenständigkeit gab, in der Hitlerjugend nicht weiter gelebt werden konnte, dass die Literatur, mit der sie aufgewachsen waren, die Kunst, die expressionistische Kunst, die ihnen sehr nahe war, dass also all das, was für sie zu einem lebenswerten Alltag hinzugehörte, systematisch durch die gleichgeschaltete Hitlerjugend und ihre Formationen eigentlich ihnen verboten und verwehrt war. Und diese inneren Widersprüche sind es gewesen, zusammen mit Beobachtungen, das Verschwinden der jüdischen Schulkameraden aus der Klasse, das Verschwinden von geistig behinderten Kindern, die dann als tot gemeldet wurden, in ihrer Umgebung, diese Dinge sahen sie, sie guckten nicht weg, und das hat sie sukzessive in eine widerständige Haltung gebracht. Der Schritt selbst zum aktiven Widerstand war dann noch mal etwas anderes. Der erfolgte erst im Sommer 1942 und das war eigentlich eine Entscheidung, die bei Alexander Schmorell und Hans Scholl in München anzusiedeln ist, die sozusagen die Initialzündung dafür gegeben haben, diese ersten vier Flugblätter der Weißen Rose miteinander alleine zu verfassen, zu verfertigen und zu verbreiten.

    Heinemann: Waren die beiden, Hans Scholl und Alexander Schmorell, die Wortführer der Weißen Rose?

    Chaussy: Wir wissen, dass Hans und Alexander Schmorell den Anfang machten. Wir wissen, dass Sophie mitbekam, als sie ab Juni ´42, nämlich in den Wochen, als Hans und Alexander diese ersten vier Flugblätter produzierten, überhaupt erst dazustieß in München, durch Diskussionen mit dem Bruder schon auch bemerkt hat, dass da ein Gleichklang war. Dann fürchtete Sophie um ihren Verlobten, Fritz Hartnagel, der in Stalingrad als Offizier abgeschnitten war und mit dem sie über Jahre hinweg eine Debatte über "was ist man dem Vaterland schuldig und was nicht" geführt hat. In ihrer Stellung zum Kriege nämlich – das wissen wir aus ihrer individuellen Entwicklung – war Sophie Scholl den Männern der Gruppe durchaus voraus. Sie hat sich zum Beispiel geweigert, Winterkleidung für die Soldaten zu stiften, weil sie frühzeitig davon ausging, Deutschland muss diesen Krieg verlieren, damit dieses Blutvergießen ein Ende hat. Dass das in diese Flugblätter Eingang gefunden hat, hat mehr zu tun mit den Erfahrungen dieser jungen Männer, die ja zwar in einer sogenannten Sanitätskompanie der Wehrmacht sich befanden, aber eben den Krieg an verschiedenen Fronten miterlebt haben. Und sie waren ja auch die einzigen und ersten, die in dem zweiten Flugblatt bereits der Weißen Rose, formuliert von Alexander Schmorell, die Ermordung der Juden öffentlich in Deutschland angeprangert haben.

    Heinemann: Was ist aus den Verfolgern der Weißen Rose geworden, etwa aus Walther Wüst, dem Dekan und Rektor, dem damaligen, der Universität München?

    Chaussy: Walther Wüst ist relativ glimpflich davon gekommen. Er hatte durchaus ein Spruchkammerverfahren, er wurde als Belasteter auch verurteilt zu drei Jahren Arbeitslager. Das war durch seine Internierung abgegolten. Er war dann wieder ab Anfang der 50er-Jahre Professor ohne Geschäftsbereich. Diejenigen, die als Verfolger dann ganz wichtig waren, die Gestapo-Verhörer, Robert Mohr, der die Frauen verhörte, der Sophie Scholl verhörte, der ist nach dem Krieg kurz von den Franzosen interniert worden, kehrte dann in seine pfälzische Heimat zurück in der Nähe von Pirmasens und beschloss, sein Leben als Angestellter der Kurverwaltung in Bad Kissingen.

    Noch ärger war die Geschichte mit Anton Mahler, dem Verhörer von Hans Scholl und vieler der Männer in der Weißen Rose. Anton Mahler hat den Prozess gemacht bekommen wegen Misshandlungen in seiner Funktion als Gestapo-Vernehmer nach den Weiße-Rose-Untersuchungen und ist sogar vom Landgericht München zu einer Zuchthausstrafe von vier Jahren im Jahre 1949 verurteilt worden. Allerdings tauchte er kurz vor der Urteilsbegründung unter, war verschwunden und trat in die Dienste der Amerikaner, des CIC, des Vorläufers des CIA, um für die Amerikaner nun seinem alten Handwerk nachzugehen. Er war aus der Abteilung Kommunistenbekämpfung und die Amerikaner setzten Mahler nun ein, um nach der Wende hin zum Kalten Krieg ihn sozusagen mit seinem Spitzelsystem wieder in Dienst zu stellen. Anton Mahler hat seine Strafe nie verbüßen müssen. Er führte übrigens kurzfristig das Büro von Klaus Barbie, diesem berüchtigten Gestapo-Chef von Lyon, der ja auch in CIC-Diensten in Augsburg war. Er hat aus diesem Untergrund heraus ans Gericht appelliert, man möge sein Verfahren wieder aufnehmen, er sei verleumdet worden, und er hat an Robert Scholl, den Vater der Geschwister Scholl, sich gewandt, der habe doch Robert Mohr, dem anderen Vernehmer, gesagt, seine Kinder hätten bezeugt, sie seien nobel behandelt worden von der Gestapo, das soll er ihm bitte auch bezeugen.

    Robert Scholl, wund gescheuert durch den Verlust seiner Kinder und noch eines weiteren Sohnes Werner, der ja auch im Krieg vermisst war dann im Osten, der hat nur noch Frieden haben wollen und hat sogar diesem Zyniker den Persilschein ausgestellt. Ein Mann, der übrigens die Weiße Rose in seinen internen Verhören als Eintrittsticket zum CIC als bolschewistische und perverse Organisation, also eine Sammlung perverser Persönlichkeiten bezeichnet hat.

    Heinemann: Über diese "noble Behandlung" geben wahrscheinlich auch die Vernehmungsprotokolle Auskunft, die ja über Moskau in die DDR gelangten. Ein Teil lagerte im Archiv der Stasi. Wie ist die DDR-Geschichtsforschung mit der Weißen Rose umgegangen?

    Chaussy: Das ist ganz merkwürdig. Offenbar Anfang der 50er-Jahre haben die Sowjets die Akten des Volksgerichtshofes, die sie in toto mitgenommen hatten nach Moskau, wieder zum größten Teil rückerstattet, eben an die entstehende DDR, und ganz am Anfang haben die DDR-Forscher wohl auch noch Zugang. Es gibt einen frühen Aufsatz des Historikers Karl-Heinz Jahnke, der Zitate aus den Vernehmungsprotokollen aufführen kann. Und dann reißt das ab und westliche Historiker kommen bis zur Wende überhaupt nicht da heran. Die Erklärung dafür muss man wohl darin sehen, dass der Widerstand der Weißen Rose dieses Monopol der Kommunistischen Partei oder dem Widerstand der ruhmreichen Kommunistischen Partei da zugestanden werden musste, dass man das wohl nicht gefährden wollte.

    Heinemann: Herr Chaussy, die "Süddeutsche Zeitung" schrieb in dieser Woche, "Die Studenten Sophie und Hans Scholl stehen heute jüngeren Menschen näher als etwa Graf Stauffenberg und dessen Mitstreiter, deren Gesellschaftsschicht samt Denken versunken ist." Verkörpern die Geschwister Scholl, verkörpert die Weiße Rose mehr und mehr den Widerstand?

    Chaussy: Der Aufstand des Gewissens, wenn man davon reden will, der war sensibler und früher und deutlicher ausgeprägt bei der Weißen Rose. Die haben nicht erst unter dem Eindruck der militärischen Niederlage sich kritisch mit Deutschland und seiner damaligen politischen Ausrichtung auseinandergesetzt, sondern sie merkten, das ist eine Gesellschaft, die wir nicht haben wollen, also eine Gesellschaft, die von einer Ideologie der Ungleichheit ausgeht, dass man den Juden in Deutschland das Lebensrecht bestreitet und das Leben nimmt, dass man den Völkern Europas das Lebensrecht bestreitet oder beziehungsweise sie vorsieht in einem deutsch dominierten Weltreich, sozusagen auf der Galeeren-, auf der Sklavenbank zu sitzen.

    Im fünften Flugblatt der Weißen Rose wird formuliert, dass man ein vereintes Europa, eine Zusammenarbeit der Völker haben will, dass man einen föderalistischen Staat haben möchte, einen Rechtsstaat haben möchte, alles unglaublich interessante Positionen, wo man sagen kann, das ist ein Gründungsdokument eines Rechtsstaates, eines demokratischen Rechtsstaates. Ich weiß nicht, ob da die Leute vom 20. Juli so schnell hingekommen wären. Gut: Da war natürlich auch der Kreisauer Kreis dabei, Goerdeler war dabei. Da gab es schon auch Leute, die, wenn ihr Aufstand Erfolg gehabt hätte, dann in eine politische Auseinandersetzung getreten wären um die Form eines künftigen deutschen Staates.

    Aber so eine klare Negation dieses Unrechtsstaates, wie wir sie bei der Weißen Rose finden, haben wir bei den anderen, glaube ich, tun wir uns schwer, das zu finden, und ich spreche als einer, der sich seit über 25 Jahren mit Widerstand auseinandersetzt und eigentlich nach dieser langen Zeit schon findet, dass uns die Weiße Rose da am meisten zu bieten hat.

    Heinemann: Der Journalist Ulrich Chaussy, Ko-Autor des Buchs "Es lebe die Freiheit. Die Geschichte der Weißen Rose und ihrer Mitglieder in Dokumenten und Berichten."

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.