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"Der Aufstand" von Franco Berardi
"Demokratie als solche spielt keine Rolle mehr"

Der Finanzkapitalismus hat endgültig gesiegt und eine Finanzdiktatur errichtet, deren Zerstörungskraft an die von Kriegen heranreicht. So lautete bereits 2011 der niederschmetternde Befund von Franco Berardi in seinem Essay "Der Aufstand". Zu den Schuldigen an dieser Entwicklung zählt der italienische Philosoph auch das Internet.

Von Aureliana Sorrento | 16.04.2015
    "Liebe ist wichtiger als Geld" steht auf dem Plakat eines Occupy-Anhängers in Frankfurt am Main.
    "Liebe ist wichtiger als Geld" steht auf dem Plakat eines Occupy-Anhängers in Frankfurt am Main. (picture alliance / dpa / Boris Roessler)
    Franco Berardi: "Was ist denn der Finanzkapitalismus? Wertakkumulation ohne Produktion. Eine Geldvermehrung, die allein durch Geldzirkulation zustande kommt, ohne dass das Geld über den Umweg der Realwirtschaft und der Produktion geleitet werden müsste."
    Profite werden nicht mehr durch die Herstellung von Gebrauchsgütern generiert, sondern einfach durch Geldwert, der sich selbst reproduziert. In die Sprache der Semiotik übersetzt heißt das, dass sich der monetäre Signifikant seiner Funktion der Referenz auf reale Dinge entledigt hat.
    Darin sieht Berardi den Höhepunkt eines Abstraktionsprozesses, der im 20. Jahrhundert gelaufen ist und alle Lebensbereiche erfasst hat. Dessen Keimzelle macht er interessanterweise nicht etwa in der Sphäre der Ökonomie aus, sondern in jener der Poesie: im französischen und russischen Symbolismus.
    Tausch von (Geld-)Zeichen
    Es waren ja symbolistische Dichter, die zum ersten Mal das denotativ-referenzielle Bindeglied zwischen dem Wort und der Welt zerbrachen. Sie proklamierten die Autonomie der Sprache - und setzten damit einen Abstraktionsprozess in Gang, der im heutigen "Semio-Kapitalismus" kulminierte: einem System, das auf der Produktion und dem Tausch von Zeichen statt realer Dinge basiert - und dabei Realität zerstört.
    Berardi: "Der Großteil Europas befindet sich heute im Zustand materiellen Elends und psychischer Depression. Es herrscht Verzweiflung und ein Gefühl der Aussichtslosigkeit. Die Jugendarbeitslosigkeit hat in Italien und Spanien Höchstwerte von 40 Prozent erreicht. Ein Viertel des italienischen Produktionsapparats ist in den letzten fünf Jahren verschwunden, während das Bruttosozialprodukt Griechenlands um 26 Prozent schrumpfte. Bedenkt man, dass das deutsche Bruttosozialprodukt am Ende des Zweiten Weltkriegs um 29 Prozent gesunken war, heißt das, dass Griechenland in ökonomischer Hinsicht einen Zerstörungskrieg erlitten hat. Das zeigt, dass dem Finanzkapitalismus eine Zerstörungskraft innewohnt, die jener des Krieges gleichkommt."
    Darin sieht der Philosoph weniger ein Resultat der neoliberalen Politik der letzten 30 Jahre - gegen die er jedoch reichlich polemisiert - als eine immanente Folge der technologischen Entwicklung. Erst das Internet hat die Zusammenkunft zwischen Individuen in einem solchen Maß virtualisiert, dass Empathie und Solidarität aus dem gesellschaftlichen Körper verschwunden sind. Wie sollte denn das isolierte Individuum Widerstand leisten? Auch konnte dank der digitalen Revolution die zwischenmenschliche Kommunikation durch techno-linguistische Automatismen ersetzt werden.
    Die Informatik als Vasall der Finanzwirtschaft
    Berardi: "Der techno-linguistische Automatismus ist die Verwandlung eines kommunikativen Prozesses in eine Kette von Zahlen und Algorithmen. Diese Automatisierung der Kommunikation ist heute möglich, weil Computer jede Äußerung in eine algorithmische Serie verwandeln können. Und da sich die Finanzwirtschaft die Informatik einverleibt hat, finden ökonomische Verhandlungen nicht mehr zwischen Menschen, sondern zwischen technischen Automaten statt. Politisch hat das eine große Bedeutung. Wenn Herr Varoufakis sich bei der Europäischen Zentralbank vorstellt und sagt: 'In Griechenland verhungern die Menschen, Tausende sind obdachlos geworden, ein Drittel der Arbeitnehmer ist von der Gesundheitsversorgung ausgeschlossen', gibt es dort niemanden, der ihm zuhört. Man sagt ihm, er solle mit dem Computer reden. Das geschieht nicht, weil ein Bürokrat böse ist. Bürokraten und Politiker sind weder gut noch böse. Sie spielen einfach keine Rolle mehr. Die griechische Demokratie spielt keine Rolle mehr. Die Demokratie als solche spielt keine Rolle mehr. Unsere Wahlentscheidung zählt nichts vor den Computern der Europäischen Zentralbank."
    Trotz dieses niederschmetternden Befunds hält Franco Berardi weiterhin nach einem Aufstand Ausschau. Damit meint er keinen gewaltsamen Umsturz, das stellt er im Buch klar, sondern einen Akt der subjektiven und zugleich gesamtgesellschaftlichen Befreiung von den Zwängen der Finanzdiktatur. Eine Chance wittert er in der Poesie. Denn sie ist ein Übermaß der Sprache, das, was sich nicht auf Informationen reduzieren lässt und nicht austauschbar ist - im Gegensatz zu den stets rekombinierbaren Zeichen der heutigen sozialen Kommunikation. Berardi schreibt der Poesie die Fähigkeit zu, einen "ganz neuen gemeinsamen Raum des Verstehens" zu schaffen; vertraut aber auch auf ihre therapeutische Wirkung: Die Poesie könne Sensibilität, Empathie und Solidarität reaktivieren, meint er - die Voraussetzung einer Wiederbelebung des gesellschaftlichen Körpers.
    Poesie als Ausweg
    Die Proteste, die seit 2010 immer wieder ausbrechen, könnten gegen die Finanzdiktatur nichts unmittelbar ausrichten, glaubt der Philosoph. Aber er erkennt in ihnen einen ersten Schritt hin zur Wiederbelebung des gesellschaftlichen Körpers, eine Art Einübung in Zusammensein und Solidarität.
    Berardi zitiert Antonio Gramsci zwar nicht, setzt ihn aber offenbar voraus: Auf eine Änderung der hegemonialen Ideologie kommt es letztlich an. Das ist eine sehr langfristige Perspektive, für friedliebende Menschen jedoch die einzig mögliche. Und so bizarr es auch Berardis Vorschlag klingen mag: Was könnte die im ideologischen Korsett der Finanzherrschaft eingezwängten Zeitgenossen von ihren Denkschablonen befreien, wenn nicht die Poesie? Was kann den Menschen in Regionen entführen, wo das Erdenken einer anderen Wertordnung, einer anderen Welt möglich ist, wenn nicht die Poesie?
    Die Frage "Was tun jetzt, sofort, eine Minute von der Katastrophe?" beantwortet Berardis Essay aber nicht. In den letzten Kapiteln hat man den Eindruck, als wäre der Autor selbst davon enttäuscht, als suchte er verzweifelt nach einer Antwort und fände sie nicht:
    "Der Eindruck ist nicht ganz unbegründet. Ich suche nach Auswegen und weiß zugleich, dass es sie nicht gibt. Ich spreche von Poesie. Vielleicht sollte ich von Verzweiflung, Tod und Krieg sprechen: Das steht in unserer Zukunft. Es sei denn, wir sind in der Lage, etwas zu erfinden, das es in meinem Buch noch nicht gibt."
    Franco "Bifo" Berardi: "Der Aufstand. Über Poesie und Finanzwesen"
    Aus dem Englischen von Kevin Vennemann. Matthes & Seitz Berlin, 2015, 187 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, 22,90 Euro / 31,80 CHF