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Der Ausbruch des Tambora
Wie das "Jahr ohne Sommer" Europa veränderte

Vor 200 Jahren ereignete sich der größte Vulkanausbruch der Geschichte: Am 10. April 1815 erreichte die katastrophale Eruption des Tambora in Indonesien ihren Höhepunkt. Unmittelbare Folge war im Jahr darauf das "Jahr ohne Sommer" in Mitteleuropa - die letzte große Hungerkrise. Sie beschleunigte einen dramatischen historischen Umbruch.

Von Matthias Hennies | 09.04.2015
    In den Sommermonaten 1816 grassierte in der Schweiz eine furchtbare Hungersnot. "Es gibt Berichte, dass die Menschen auf den Weiden zusammen mit dem Vieh gegrast haben." Menschen aßen Gras wie ihre Rinder, weil die Getreideernte ausgefallen war, berichtet Daniel Krämer, Umwelthistoriker an der Universität Bern. Im Sommer 1816 war es so kalt, dass das Korn nicht reifte und die Getreidepreise in der Schweiz um 600 Prozent stiegen. In manchen Gemeinden, vor allem im Osten des Landes, starben zehn Prozent der Einwohner am Hunger.
    Erst viel später fanden Wissenschaftler heraus: Die Ursache lag auf der anderen Seite der Erdhalbkugel. Ein Jahr zuvor, vom 5. bis 10. April 1815, hatte in Indonesien eine gewaltige Eruption des Vulkans Tambora stattgefunden. Es war der größte Ausbruch der letzten 10.000, vielleicht sogar 25.000 Jahre, ausgelöst durch die Bewegung der tektonischen Platten der Erdkruste, erklärt Professor Frank Sirocko von der Universität Mainz. "Man kennt diesen Ring of Fire um den Pazifik herum, das ist eine Zone, wo eine ozeanische Platte in den Erdmantel hinein absinkt. Dabei wird diese Platte aufgeschmolzen und in dem Bereich gibt es dann entsprechende Vulkane und viele der indonesischen Inseln bestehen halt aus solchen Inselbögen und Vulkanketten."
    In der Region verloren mehrere Zehntausend Menschen das Leben. Vom Kegel des Vulkans stand nach der Eruption nur noch die Hälfte. Eine Staubwolke stieg bis zu 40.000 Meter hoch in die Stratosphäre und verteilte sich um die Erde, berichtet Sirocko, Experte für das Paläoklima, das Klima der Vergangenheit. "Die klimatischen Folgen des Tambora waren wohl besonders stark in Nordostamerika und Mitteleuropa. Man weiß noch gar nicht genau, warum nicht Afrika zum Beispiel auch stark darauf reagiert hat. Die gesamte Nordhemisphäre hat das Signal gespürt, in Nordamerika und Mitteleuropa war es am stärksten und da waren es etwa fünf Jahre, in denen die Sommertemperaturen um mehrere Grad niedriger waren."
    Europa steckte in einem dramatischen Umbruch
    Das Folgejahr 1816 ging als "Jahr ohne Sommer" in die europäische Geschichte ein. Warum gerade die östliche Schweiz so schwer betroffen war, hat der Historiker Daniel Krämer in seiner Dissertation untersucht. "In der Ostschweiz hat sich seit dem Mittelalter eine Gewerberegion ausgebildet, da kam die Textilindustrie dazu, das hat dazu geführt, dass die Bevölkerungsdichte zunahm und gleichzeitig wurde die Landwirtschaft zurückgedrängt. Das heißt, man hat sehr viel Getreide aus dem süddeutschen Raum importiert und gleichzeitig Textilien exportiert."
    Diese doppelte Abhängigkeit machte die Region verwundbar: Textilien ließen sich nicht mehr nach Süddeutschland verkaufen, weil die Menschen ihr Geld dort für Lebensmittel brauchten, zugleich riss die Getreideeinfuhr ab, weil die Landesherren in Bayern, Baden und Württemberg das Korn für ihre eigenen Untertanen behielten. In Süddeutschland verhungerten dann auch nicht so viele Menschen wie in der Schweiz, aber in der Not entschied sich ein großer Teil der Bevölkerung, auszuwandern: vor allem in die USA, aber auch nach Russland. Allein in den ersten Monaten des Jahres 1817 verlor Süddeutschland beinahe 20.000 Menschen – und letztlich profitierte die Region sogar davon. "In Mittel- und Westeuropa ist die Bevölkerung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts relativ stark gestiegen und der Auswanderungsdruck war auch vorhanden, weil die Bevölkerungsdichte zugenommen hat. Das war eher eine Entlastung für viele Gebiete."
    Europa steckte in einem dramatischen Umbruch. In Großbritannien, Belgien und der östlichen Schweiz hatte bereits die Industrielle Revolution eingesetzt. Die Schlacht von Waterloo, nur zwei Monate nach dem Ausbruch des Tambora, besiegelte das Schicksal Napoleons. Die Ideen der Französischen Revolution waren gescheitert, Europa wurde auf dem Wiener Kongress nach altem Muster neu geordnet, die Herrschaft der Fürsten wiederhergestellt. Angesichts dieser Veränderungen drängt sich eine Frage auf, meint der Klimaforscher Sirocko: "Ist das, was wir in Europa wirtschaftlich gesehen haben, eine Sache der sozialen, der politischen Entwicklung nach einem solchen großen Umbruch oder ist es wirklich das Klima?"
    Krise beschleunigte Modernisierung der Landwirtschaft
    Die Frage hat grundlegende Bedeutung: Seit die Klimaforschung boomt, bringen Historiker gesellschaftliche Krisen früherer Jahrhunderte gern mit klimatischen Veränderungen in Verbindung. Vom Untergang Trojas und der bronzezeitlichen Kulturen am Mittelmeer bis zum Ende der Maya in Mittelamerika: Zur Erklärung verweisen sie jetzt oft auf Dürren, Kälteperioden oder Umweltschäden. Die Debatte steht noch am Anfang: Wie viel Anteil das Klima an den Umbrüchen der Vergangenheit hatte, wird sehr kontrovers diskutiert. Frank Sirocko äußert sich eher skeptisch - am Zusammenhang zwischen dem Ausbruch des Tambora und dem Jahr ohne Sommer 1816 hat er allerdings keinen Zweifel.
    In den Folgejahren beschleunigte die letzte große Hungerkrise in Mitteleuropa die Modernisierung der Landwirtschaft: Die Stallfütterung, neue Düngemittel und neue Futterpflanzen wurden eingeführt. Nicht zu vergessen, ergänzt Daniel Krämer, die Draisine, das Laufrad, das der Karlsruher Erfinder Karl Drais 1817 entwickelte. "Aufgrund der hohen Haferpreise hat er sich überlegt, dass es nicht sinnvoll ist, die Pferde mit Hafer zu füttern und dass es möglicherweise sinnvoller wäre, wenn die Menschen sich selbst schneller bewegen könnten und er hat da die Draisine erfunden, das ist ein Vorläufer des Fahrrads."