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Der Autor als Gastgeber

Meir Shalevs Roman "Fontanelle" erzählt die Geschichte der Joffe-Familie. Dabei entsteht jedoch kein klassischer Familienroman, man lernt die handelnden Personen vielmehr nebenbei kennen. Ebenso werden kleine Geschichten immer wieder en passant eingestreut. Dabei gelingt Shalev ein poetischer Erzählstil, der den Leser in gute Stimmung versetzt. Viele Passagen lesen sich wie Lyrik, sind intensiv, schön und geheimnisvoll.

Von Alexander von Bormann | 22.07.2005
    Meir Shalev gilt als Israels großer Fabulierer. Seine Werke, von Ruth Achlama mustergültig in ein farbiges, reiches Deutsch gebracht, an das man kaum mehr glaubte, seine Werke erscheinen im Diogenes-Verlag. Der hat nun auch seinen neuesten Roman vorgelegt: "Fontanelle". Ein merkwürdiger Titel: Fontanelle heißt die Lücke zwischen den Schädelknochen bei Neugeborenen. Sie schließt sich gewöhnlich im zweiten Lebensjahr. Bei unserem Erzähler aber, Michael Joffe, blieb sie offen. Wir haben das als Zeichen für eine besondere Empfänglichkeit zu nehmen, Michael ist auf diese Weise mit einer Art sechstem Sinn begabt. Mit gutem Grund also hat Shalev ihn als Erzähler des recht verschlungenen Romans eingesetzt.

    Wohl ist er nun Mitte fünfzig, und die Prophezeiungen treten ein wenig hinter den Erinnerungen zurück, was er bequem findet: "Abgesehen von der umgekehrten Blickrichtung besteht ja kein großer Unterschied zwischen Prophetie und Erinnerung. Beide entstammen einem inneren Drang, einem lodernden Feuer, das keine Ruhe gibt. Beide wollen Geschehen zu anderen Zeiten wissen, und beiden gelingt das nicht immer. Beide kämpfen mit der großen, uralten Versuchung, die an ihrer Schwelle lauert – zu trügen, zu tarnen, zu erdichten;" und einzusetzen "das Fauchen der Personalpronomen, des 'er' und des 'sie' und des 'sie allesamt' und des 'ich' und des 'du'."

    Shalevs Roman entwickelt uns die Geschichte der Joffe-Familie. Aber wer nun einen halbwegs klassischen Familienroman erwartet, der täuscht sich. Shalev lädt den Leser ein, auf den Hof zu kommen, wo die Familie wohnt. Dort trifft man den einen oder die andere, und sozusagen halblaut souffliert uns Shalev, wer das gerade ist. Wenn die Pause etwas größer wird, streut er Geschichten ein. Der Autor als Gastgeber. So sorgt er auch für eine gute Stimmung, soll man doch nicht zu früh den Empfang verlassen. Er tut das mit einem wunderbar poetischen Erzählen, viele Passagen lassen sich wie Lyrik lesen, sind intensiv, schön, überraschend, geheimnisvoll. Es gehört zur Gastgeberrolle des Erzählers Michael Joffe, dass er stolz genug auf die Familie ist, um deren Fehler und Probleme nicht zu verschweigen, so wird der Leser als Gast ernst genommen. Mit einer solchen Familie hast du keine Wahl, sagt sich der Erzähler, der Gärtner ist: "Man muss sich so erinnern, wie man einen Wildstrauch mitten im Garten hält: unvermittelt, zwischen all den properen Immergrüns, Fresien und Dahlien – ein dorniges Poterium, ein hartnäckiger Kapernstrauch, ein unrasierter Kassienbusch." In der Familie Joffe erinnern sich alle an alles.

    Und Michael selber ist ein verrücktes Huhn, hoch sympathisch, etwas zerstreut, mit einer Kriegsverletzung und einem großen Kindheitserlebnis: Er war in einem brennenden Weizenfeld eingeschlossen, die Familie stand am Rand und schrie. Aber eine junge Frau, Anja, die Frau des Dorschullehrers, wie wir später erfahren, rannte zu ihm und rettete ihn, nicht ohne selber Brandwunden davonzutragen. Sie gab ihm den Namen, auf den er seitdem hält: "Fontanelle".

    "Ihre Finger betasten mein versengtes Haar. Brennende Anemonen auf ihrem Kleiderstoff, ihre Lippen sagen: "Deine Fontanelle ist noch offen." Dann fällt mir auch ihr Flüstern ein: "Das ist ein Zeichen, dass Gott dich liebt." Und ihr Lachen: "Und wenn Gott, dann auch ich." Und ihre Umarmung: Sie zieht mich heran, hält mich fern, guckt und drückt mich erneut an die Brust. Sie war eine junge Frau, einundzwanzig Jahre alt, ich ein kleiner Junge von genau fünf Jahren, und die langsam fließenden Wasser der Zeit haben mich aufwachsen und reifen und sie altern und sterben lassen." Michael bleibt sein Leben lang verliebt in Anja, die selber, wie wir nebenher erfahren, kein gutes Leben gehabt hat.

    Der Vater des Erzählers ist witzig, charmant, die Mutter eine etwas verrückte Vegetarierin. Sie ist eine Joffe und hält ihm vor: "Du könntest einer von uns werden." Er antwortet: "Nicht nötig, Hanna, mir genügt es schon, einer von dir zu sein." Die zentrale Figur des Romans ist der Großvater David Joffe. Er ist der Gründer des Hofs und indirekt auch des Dorfs, das inzwischen eine Stadt geworden ist. Und die Familiengeschichte erzählt so ein wenig auch die Geschichte Israels. Das Land, "heute drangvoll und verschwitzt", war damals noch fast leer: "Viele Menschen gingen damals zu Fuß, waren im ganzen Land unterwegs, zogen auf Wanderschaft, wollten einen Ort, an dem sie Wurzeln schlagen konnten, suchten Arbeit, suchten Antworten, handelten mit Ideen und Prophetien." David Joffe aber, einfacher gestrickt, faßte alles ganz wörtlich auf, auch den Spruch "eine Frau nehmen". Er ging in ein Dorf, nahm das Mädchen, das ihn auch wollte, auf den Buckel, und trug es in vielen langen Tagesmärschen durch das Land, bis es "hier" sagte: Dort entstand der Joffe-Hof und sammelte sich der Clan.

    Der Erzähler Michael, ein Enkel, ist wie gesagt Gärtner, und er liebt die verschlungenen Pfade, was er auch für sein Erzählen in Anspruch nimmt: Wortpfade, "die dich mit Windungen und Wendungen leiten, () dich aber weiterführen von etwas, was zum Thema gehört, zu etwas anderem, was nicht, mit Irrungen und Wirrungen, bis du nicht mehr unterscheidest zwischen Fehlassoziationen und Erinnerungsfallen..." Der Leser folgt diesen Pfaden, die sich wie bei Borges verschlingen, nur allzu gern – sie gewähren immer neue Aussichten, Ansichten, Einsichten. Und wenn Michaels Tochter einen neuen Kavalier empfängt und ihm den Joffe-Hof erläutert, wird auch für uns einmal mehr etwas Übersicht geschaffen.

    In der zweiten Hälfte des Romans werden einige der Hauptpersonen mit eigenen Kapiteln geehrt. Dazu gehört auf jeden Fall Aaron, der Sohn des Ehepaars Landau, das durch einen merkwürdigen Vertrag mit auf den Hof gekommen war. Er hatte die schöne Pnina, die älteste Joffe-Tochter, geheiratet und unterhielt den gesamten Clan mithilfe seiner ingeniösen Erfindungen. Im Alter wuchs seine Angst, und er unterwühlte des gesamten Hof, indem er eine unterirdische Fluchtburg anlegte, für den Fall, dass die Araber kämen. Sein Hinken, sein unattraktives Aussehen, seine schöne Frau lassen ihn als Nachbildung des Hephäst erscheinen, des olympischen Schmieds und Gatten der Aphrodite. Ihm wird die schärfste Kritik am modernen Israel in den Mund gelegt, das sich so weit von seinen Anfängen entfernt hat.

    Das Selbstbewusstsein des Joffe-Clans und die relative Abgeschiedenheit des Hofs – er ist von hohen Mauern umgeben – führen zu einem eigenen Biotop, zu einer ganz eigenen Gesetzgebung. Das ist poetisch höchst ergiebig, lauter Seltsamheiten werden als ganz normal kommuniziert: eine Tante kann nicht allein schlafen, seitdem ihr Bräutigam totgeschossen war; so bekommt sie jede Nacht einen männlichen Joffe ins Bett, damit sie nicht fremd geht. Der schöne Gabriel, ein Ergebnis von Pninas Fehltritt, bringt sich vom Militär eine Geliebten-Mannschaft mit, und die jungen Männer wohnen seitdem auch auf dem Joffe-Hof. Michaels Vater entwickelt sich zum Don Juan, die Mutter zu einer irren Vegetarierin. Der Erzähler bleibt in seiner Kinder-Liebe gefangen, "immer untätig und ganz der ihre": "Ihre Nichtnarbe ist in mein Fleisch eingegraben, ihre Stimme mir um den Hals geschlungen, ihr Geruch ein brennendes Kleid auf meiner Haut."

    Ihr Tod gehört zu den Schmerzen, die das Erzähler-Ich zusammenfügen, aber auch enden lassen. Michael Joffe betrachtet sich als in ihre Welt eingegangen: "im Schatten des indonesischen Süßzitronenbaums und unterm Blutorangenbaum aus Spanien, völlig normal, verheiratet, Vater zweier Kinder, bin ich der einzige Tote auf der Welt, dessen Fontanelle noch offen ist". Jedenfalls hat er uns so gut und so gewissenhaft wie möglich und zugleich hochpoetisch alles berichtet, was es zu erzählen gibt, ohne je geschwätzig zu werden. Dem Leser bleibt eine Mitarbeit durchaus nicht erspart. Es ist eine wunderbare Lektüre, ein ausführlicher Besuch in einer anderen Welt, einer anderen Kultur, einer anderen Zeit. Meir Shalev ist einer der bedeutendsten und anmutigsten Erzähler unserer Zeit.