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Der Beitritt kann gar nicht schnell genug kommen

Nur 16 von über 3000 Bürgermeistern in der Türkei sind Frauen. 14 von ihnen kamen diese Woche nach Brüssel. Die grüne Europa-Abgeordnete Heide Rühle hatte sie ins EU-Parlament eingeladen, um zu diskutieren. Dabei ging es auch um den EU-Beitritt der Türkei.

Von Ruth Reichstein | 01.09.2005
    Bei der Ankunft im Brüsseler Hotel gestern Mittag mussten die türkischen Bürgermeisterinnen erste Schwierigkeiten überwinden: Verwirrung bei der Zimmerbelegung und Sprachprobleme. Nur eine der 14 angereisten Politikerinnen spricht englisch. Trotzdem sind die Frauen begeistert - für fast alle ist es der erste Besuch in der europäischen Hauptstadt.

    "Ich finde diese Gebäude überwältigend. Alles hier ist schön und groß. Ich bin das erste Mal in Europa und sehr froh, hier zu sein. Wir erwarten von Brüssel, dass es uns Bürgermeisterinnen in unserer Arbeit unterstützt."

    ... sagt Cihan Sincar aus der südöstlichen Provinz Mardin. Sie trägt als einzige ein Kopftuch und ein weites Kleid. Ihre Kolleginnen wirken wie Geschäftsfrauen auf Auslandsreise. Sie tragen Hosenanzüge und ziehen ihre Rollikoffer hinter sich her.

    Die Einladung der grünen Europa-Abgeordneten Heide Rühle nach Brüssel haben sie gerne angenommen. Und das nicht nur aus politischen Gründen.

    "Natürlich bin ich wegen der Beitrittsverhandlungen hier, die am 3. Oktober beginnen sollen. Aber ich will auch einfach die Welt sehen. Ich will reisen, andere Dinge kennen lernen, Erfahrungen sammeln. Deshalb ist es für mich sehr wichtig, hier in Brüssel zu sein."

    Songül Erol Abdil kommt aus Tunceli im Südosten der Türkei. In ihrer Heimatstadt tobten bis vor rund einem Monat noch Kämpfe zwischen Regierungsgruppen und PKK-Anhängern. Die Bürgermeisterin ist froh, einen Tag lang die unbeschwerte Atmosphäre in Brüssel genießen zu können. Aber sie hofft auch auf mehr Aufmerksamkeit für die Probleme ihrer Region:

    "Es ist jetzt ruhiger als vor einem Monat. Aber die Militärpräsenz ist noch immer sehr hoch. Wir mussten sogar unser Kulturfestival absagen. Wir haben schon Angst, dass wir wieder die gleichen Zustände bekommen wie 1993/94, als wir schwere Kämpfe in unserer Region hatten. Es gibt zurzeit sehr große Spannungen. Aber wir hoffen, dass wir das Kurden-Problem auf demokratische Art lösen können. Und wir wollen hier in Brüssel um Unterstützung werben."

    Beim Mittagessen tauschen sich die Frauen untereinander aus. Sie alle sind mit ganz unterschiedlichen Erwartungen und Forderungen nach Brüssel gekommen. Aber alle haben sie ein Projekt in der Tasche: Als Computer-Präsentation, auf CD oder als Broschüre. Alle hoffen auf Fördergelder - zum Beispiel um die Gesundheitsversorgung speziell für Frauen in den jeweiligen Regionen zu verbessern. Nurgül Ucar aus der Urlaubsregion Izmir hat ein ganz spezielles Anliegen:

    "Ich leite in der Türkei einige Projekte mit behinderten Menschen. Wir haben sogar Schulpartnerschaften mit deutschen Schulen. Aber wir brauchen natürlich Geld und Material. Vielleicht kann ich hier etwas bekommen. In der Türkei gibt es nicht genügend Schulen für Behinderte. Ich hoffe also, dass ich mit der Unterstützung der EU diesen Menschen weiter helfen kann."

    Nur 16 von über 3000 Bürgermeistern in der Türkei sind Frauen. Nach wie vor ist es schwierig für sie, in wichtige politische Ämter zu gelangen. Die Männer mögen das nicht, meint Nurgül Ucar. Frauen würden sich viel zu genau an ihre Wahlversprechen halten.

    Nach dem Mittagessen führt eine Parlamentsmitarbeiterin die Frauen durch das Brüsseler Europaviertel und erklärt Ihnen, in welchen Gebäuden die Kommissare Günter Verheugen und Olli Rehn sitzen. Günter Verheugen hatte den Beitrittsprozess mit der Türkei angestoßen. Nach der Umbesetzung der Kommission im vergangenen Jahr hat der Finne Olli Rehn die Aufgabe "EU-Erweiterung" übernommen. Der Beitritt kann für die meisten Frauen gar nicht schnell genug kommen. Am besten schon nächstes Jahr, meint eine Politikerin, und lacht.

    Die Frauen staunen über die großen Gebäude und machen ein Foto nach dem anderen. Natürlich ist der Beitritt für sie wichtig. Aber vor allem wollen sie bei ihrem Besuch konkrete Anregungen für ihre Städte und Regionen mitnehmen. Das gilt auch für die Stadtplanung. Und da, sagt Songül Erol Abdil, ist nicht alles optimal gelöst:

    "Brüssel ist eine sehr bekannte Stadt. Weltweit. Für mich ist es wichtig ihren Aufbau zu begutachten: Wie funktioniert die Begrünung? Was hat diese Stadt für eine Wirkung? Wie fließt der demokratische und europäische Geist in die Gebäude ein? Da bin ich aber etwas enttäuscht, weil ich nicht erwartet habe, dass so viele verschiedene Baustile nebeneinander hoch gezogen worden sind und das Grün dabei vergessen worden ist. Damit habe ich nicht gerechnet."