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Der besondere Fall
Der allergische Schock

Herbst 2007, Klinikum Minden. Seit wenigen Minuten operiert Dr. Hinrich Seesko einen 25 Jahre alten Mann. Irgendetwas befindet sich in seiner Leber, was dort nicht hingehört. Das Computertomogramm zeigt Zysten mit unklarem Inhalt, teilweise hat sich die Flüssigkeit schon in den Bauchraum ergossen. Ein Notfall.

Von Mirko Smiljanic | 07.07.2015
    Die Vorbereitung sowie die Anästhesie in einem OP.
    Was die Ärzte bei ihrem Patienten finden, lässt ihnen den Atem stocken (picture-alliance / dpa / Klaus Rose)
    "Na ja, Gelb auf Rot schaltend."
    Vorsichtig bahnt sich der Chirurg einen Weg zur Leber.
    "Da gibt es zwei Möglichkeiten, dass man es entweder genau in der Mittellinie macht, genau über dem Bauchnabel, oder aber dass man unter dem rechten Rippenbogen den Schnitt macht, dass man unmittelbar zur Leber kommt."
    Vier Stunden zuvor ist der Patient in denkbar schlechtem Zustand in die Notaufnahme der Klinik gebracht worden.
    "Der stand nicht mehr, sondern der wurde mit dem Notarzt mit instabilen Kreislaufverhältnissen, das heißt, mit einem massiven Blutdruckabfall und Zeichen eines allergischen Schocks zugewiesen, ...
    Gesicht, Lippen und Zungen sind massiv geschwollen, so Oberarzt Dr. Bernd Wejda, wegen verengter Bronchien hat der Patient wie bei Asthma-Anfällen dramatische Atemnot, sein Blutdruck sackt ab, während gleichzeitig der Puls rast.
    "Und das ist auf jeden Fall ein Zeichen einer lebensbedrohlichen Situation."
    Über zwei Zugänge bekommt der Patient "unter Druck" – also mit hoher Geschwindigkeit – Infusionen. Medikamente stabilisieren den Kreislauf und schwellen die verengten Bronchien ab.
    Was ist geschehen? Niemand weiß es! Nur soviel hat der Notarzt herausbekommen: Der Mann stammt aus Georgien, er spricht kaum Deutsch, bisher, sagen seine Freunde, war er gesund.
    "Es war so, dass er in einem Freundeskreis in einem Asylbewerberheim sich mit anderen eine Tütensuppe – die Firma sage ich nicht – einverleibt hat, danach erst Bauchschmerzen bekam und dann umfiel."
    Eine Lebensmittelvergiftung? Nicht wahrscheinlich, weil typische Symptome wie Brechdurchfall fehlen und die beobachtbaren Symptome viel zu dramatisch sind.
    Mit Mühe stabilisieren die Ärzte den Kreislauf des Patienten auf niedrigem Niveau, akute Lebensgefahr besteht nicht mehr. Die Ursache des allergischen Schocks ist aber immer noch unklar. Bis Bernd Wejda bei der Untersuchung den Bauch des Patienten berührt - der Patient leidet fürchterlich! Sofort schaut der Arzt sich mit einem Ultraschallgerät das Innere des Bauchraumes an und ruft aufgeregt einen Kollegen zu Hilfe. Was sie sehen, ist sehr selten.
    "Wir sahen in der Leber eine Ansammlung ungewöhnlich anmutender kleiner Flüssigkeitsholräume, sogenannter Zysten, die durchzogen waren von bindegewebigen Strukturen, das letztlich so aussahen wie ein Schweizer Käse, mit unregelmäßig verteilten Löchern mitten in der Leber."
    Ein Fall für den Chirurgen, der eine Notfalloperation ansetzt.
    Mittlerweile hat sich Hinrich Seesko bis zur Leber des 25-jährigen vorgearbeitet. Vorsichtig saugt er die aus der Leber in den Bauchraum eingetretene Flüssigkeit ab und nimmt anschließend die immerhin sechs Mal acht Zentimeter große Zyste genauer in Augenschein.
    "Das war schon von außen sichtbar durch die Vorwölbung und durch die Öffnung, wo ein Teil der Flüssigkeit ausgetreten war, die ja ursächlich waren für die Beschwerden des Patienten."
    Mit einem Schnitt weitet er die Öffnung der aufgeplatzten Zyste. Was er und sein Assistent sehen, stockt ihnen fast den Atem: Die gesamte Zyste ist gefüllt mit Hundebandwürmern.
    "Das ist kein Wurm, der da aufgekringelt ist, wie eine Schlange in ihrem Nest, sondern das sind viel Tausend kleine Schnitzel, die nicht größer sind als Sägespäne, die da eingebettet sind, in dieser Zyste gefangen sind."
    Der Chirurg saugt die Zyste erst leer und spült sie anschließend mit hyperosmolarer Lösung. Hyperosmolare Lösungen enthalten entweder Zucker oder Salz in hoher Konzentration und töten so die sie umspülenden Zellen ab – in diesem Fall Reste des Bandwurmes.
    "Und dann wird die Wand dieser Zyste aus der Leber ausgeschält, das ist ein bisschen zeitaufwändig, da muss man eine sorgfältige Blutstillung machen, die Leber ist ja ein sehr gut durchblutetes Organ, das alles, was man da rausnimmt, wird dann eingeschickt zur Begutachtung durch den Pathologen."
    ... der die Resultate des Chirurgen bestätigte: Massiver Befall der Leber durch einen Hundebandwurm, der unbemerkt zu einer sich immer weiter ausdehnenden Zyste heranwuchs, die schließlich platzte und den allergischen Schock auslöste.
    "Man muss sich das so vorstellen, dass der Körper eine Abkapselung des Erregers anstrebt. Er kann ihn nicht abtöten, er kann ihn nicht ganz eliminieren, und da der Erreger, wenn er über die Nahrung aufgenommen wird, sich in der Leber niederschlagen kann, ist der Hauptort der Abkapselung die Leber."
    Ein in Deutschland seltener Fall, in Kombination mit einem allergischen Schock extrem ungewöhnlich.
    "Der Patient hatte diese Notfalloperation und in der Folge – es war ein sonst gesunder junger Mann – gut überstanden. Wichtig ist, dass wir den Patienten, den wir dann auf unserer Infektionsstation nachbetreut haben, noch mit Medikamenten, mit sehr speziellen Medikamenten, über einen langen Zeitraum behandelt, damit eventuell in die Bauchhöhle bei diesem Riss verstreute Erreger nicht wiederum weitere Zysten machen, das sind leider Komplikationen, wie sie bei einem Riss der Zyste beschrieben sind, der junge Mann hat über unsere Nachverfolgung auf jeden Fall Glück gehabt, der ist komplett geheilt worden!"