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Der besondere Fall: DYT12
Plötzliche Bewegungstörungen mit bizarren Formen

Es kam ganz plötzlich: heftige Zuckungen am Körper, Verlust der Sprachfähigkeit. Doch woran leidet der Patient? Nach langem Suchen kristallisiert sich eine Diagnose heraus: Rapid-onset Dystonie-Parkinsonsyndrom. Dafür gibt es keine Therapie - aber die Krankheit hat eine günstige Eigenschaft.

Von Mirko Smiljanic | 15.01.2019
    Eine Hand zeigt auf Kontrollmonitore, die die Gehirnströme (EEG) von an Epilepsie erkrankten Patienten anzeigen.
    Ein junger Patient mit Zuckungen - da liegt zunächst der Verdacht auf Epilepsie nahe, doch diese Diagnose trifft nicht zu (picture alliance / Friso Gentsch)
    Melsungen bei Kassel, 7. Dezember 2010 gegen 18.00 Uhr. Die Familie Petkau - Vater, Mutter, die 13 Jahre alte Tochter Patricia und der 17-jährige Sohn Christian - sitzen beim Abendessen. Gelöste Stimmung, jeder erzählt, was er tagsüber erlebt hat. Plötzlich geschieht etwas Seltsames. Von der einen Sekunde zur nächsten zuckt Christians Körper.
    "Ich habe einen Schrecken bekommen, was da passiert, das war zuvor nie so gewesen, dass Christian Zuckungen oder Spastiken, so spastikartige Zuckungen gehabt hat in der linken Körperhälfte. Es hat im Fuß angefangen, hoch in den Arm bis ins Gesicht."
    Erinnert sich Christians Mutter Maria Petkau. Vorsichtig bringen sie und ihr Mann den Jungen zur Couch in der Hoffnung, dass er einfach nur Ruhe braucht. Erst jetzt merken noch etwas anderes: Christian kann nicht mehr richtig sprechen.
    "Ja, hingelegt auf die linke Seite in der Hoffnung auf Besserung, hat nichts gebracht, dann sofort einen Notarzt Bescheid gesagt und dann ins Krankenhaus gefahren."
    "Die haben erstmal das Blut untersucht und haben eine Computertomografie vom Kopf her gemacht, haben ein EEG gemacht und so das übliche in der Kinderneurologie, aber uns ohne Diagnose nach zwei Tagen wieder entlassen."
    Kein Befund, also kommt der Psychiater
    Christians Körper vollführt seltsame Zuckungen, phasenweise kann er gar nicht mehr sprechen. Woran leidet er? Niemand weiß es genau, so Professor Stephan Klebe, Leitender Oberarzt der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Essen.
    "Natürlich denkt man bei Jugendlichen, die Zuckungen haben, nicht an eine schwerere Erkrankung, auch nicht an eine bösartige Erkrankung, geschweige denn an eine vererbbare Erkrankung. Man denkt an Krampfanfälle, an epileptische Anfälle, auch an Dinge, die Jugendliche haben können, ohne dass gleich eine organische Sache dahintersteckt."
    Epilepsie und Schlaganfall werden rasch ausgeschlossen, gleiches gilt für mögliche Entwicklungsstörungen oder traumatische Erlebnisse. Irgendwann geschieht, was in solchen Fällen häufig passiert: Wenn es keine somatischen Ursachen gibt, schaut sich ein Psychiater den Patienten genauer an.
    "Natürlich gibt es Erkrankungen aus dem Schizophrenen Formenreis, wo Leute Wahnvorstellungen haben, wo Leute Halluzinationen haben, die plötzlich auftreten können. Bei einem 17-jährigen sind psychosomatische Erkrankungen, sprich, wo der Körper einem etwas vorspielt, erkrankt zu sein, extrem selten, da muss man vorsichtig sein."
    Auf der Suche nach einer Diagnose
    In welche Richtung die Psychiater auch untersuchen, sie finden nichts. Was auch bedeutet: Christians Leben ändert sich abrupt. Regelmäßiger Schulbesuch war nicht mehr möglich.
    "Ne, konnte ich nicht. Ich war dann sehr lange im Krankenhaus und krank geschrieben, hab aber versucht, das Schuljahr noch irgendwie zu beenden."
    Mit Erfolg. Christian ist ein optimistischer Mensch und besitzt viel Energie! Eigenschaften, die ihm noch zugutekommen sollen. Eine korrekte Diagnose gibt es aber immer noch nicht. Über einige Umwege bekommt er schließlich einen Termin in der Universitätsklinik Göttingen. Alles wird dort untersucht, was irgendwie zur Klärung beiträgt. Das Ergebnis sind gleich mehrere mögliche Diagnosen.
    "Verdacht unter Tickstörung, atypische Neurodegenerationen mit Eisenablagerungen im Gehirn, auch psychische Sachen wurden nicht ausgeschlossen, ein chronisches, hirnorganisches Psychosyndrom hat man da in Frage gestellt."
    Seltene Erkrankung: DYT12
    Keine dieser Diagnosen stimmt, bis auf eine, die immer mehr ins Blickfeld der Mediziner gerät. Sie trägt den kryptischen Namen "Rapid-onset Dystonie-Parkinsonsyndrom" abgekürzt "DYT12"." Um wirklich sicher zu gehen, bemüht sich Familie Petkau um eine zweite Meinung. Sie macht einen Termin bei Professor Stephan Klebe von der Klinik für Neurologie des Universitätsklinikums Essen, einem Spezialisten für Bewegungsstörungen. Er bestätigt die Diagnose.
    "Rapid onset, plötzlicher Beginn, so wie Christian das beschrieben hat und die Eltern das beschreiben, dass das von jetzt auf gleich angefangen hat. Und in dem zweiten Wort der Erkrankung, nämlich Dystonie-Parkinsonsyndrom, versteckt sich dann auch die klinische Symptomatik, das heißt Dystonie ist eine Bewegungsstörung mit teils bizarren Bewegungsformen, und Parkinson als Erkrankung ist bekannt, dass da eine Bewegungsverlangsamung teilweise vorherrschen kann."
    Es ist eine seltene, genetisch ausgelöste Erkrankung. Wie viele Patienten es weltweit gibt, weiß niemand, die Dunkelziffer sei hoch. Therapeutisch können man im Moment allerdings nur wenig machen, so Klebe.
    "Man kann natürlich logopädische Übungen machen, man kann Physiotherapie machen, aber was zum Beispiel Medikamente angeht, sind die Optionen recht eingeschränkt, auch die sogenannte Tiefe Hirnstimulation, sprich, dieser Hirnschrittmacher, der häufig bei Dystonien eingesetzt wird, der sehr häufig eingesetzt wird bei Parkinson, wirkt bei dieser Form der Erkrankung, das wissen wir mittlerweile sehr gut, leider gar nicht."
    Für Christian spielen diese Informationen zunächst keine große Rolle.
    "Ich war mit allem überfordert, die Diagnosen gingen ins eine Ohr rein und ins andere Ohr wieder raus. Meine Prioritäten war, das Laufen wieder zu erlernen und das Sprechen wieder hinzubekommen."
    Seit Jahren trainieren Physiotherapeuten und Logopäden mit Christian, rasch machte er Fortschritte. Und zwar auch deshalb, weil seine Krankheit, das "Rapid-onset Dystonie Parkinsonsyndrom", eine durchaus günstige Eigenschaft hat. Im Gegensatz zu vielen anderen neurologischen Leiden verschlimmert es sich nicht. Wer fleißig trainiert, verbessert seine Situation spürbar. Genau das macht der heute 24-jährige Tag für Tag mit großem Erfolg.
    "Im Laufe von knapp acht Jahren ist es viel besser geworden, ich laufe fast wieder wie ein normaler Mensch, außer an schlechten Tagen."
    Und die werden immer seltener.