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Der besondere Fall
Hohe Schilddrüsenwerte, aber keine Symptome

Ein seltsamer Fall: Im Blut eines jungen Mannes maßen Endokrinologen zwar sehr hohe Werte des Schilddrüsenhormons Thyroxin, trotzdem litt er nicht an den typischen Symptomen des Morbus-Basedow-Syndroms. Erst umfangreiche Untersuchungen am Uniklinikum Essen brachten die Lösung.

Von Mirko Smiljanic | 05.11.2019
Eingangsbereich der Universitätsklinik Essen
In der Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Stoffwechselerkrankungen am Universitätsklinikum Essen wurde der Fall untersucht (Roland Weihrauch/dpa)
Herbst 2012, ein Sportplatz in Essen. Der 22 Jahre alte Martin - aus Datenschutzgründen ist sein Name anonymisiert - hat sich wie jeden Samstag mit Freunden zum Fußballspielen verabredet. Er ist schlank, durchtrainiert und schnell, präzise Pässe sind seine Spezialität. Martin ist ein guter Spieler - aber seit einiger Zeit stimmt mit ihm etwas nicht.
"Ich habe einfach gemerkt, dass ich sehr aufgewühlt bin, hatte einen hohen Puls, vor allem wenn ich Fußball gespielt habe, das ist mein großes Hobby, habe ich gemerkt, dass nach der Warmmachphase ich eigentlich schon körperlich komplett ausgelaugt war, und hab dazu dann noch gemerkt, dass ich mit der Zeit peu à peu immer mehr abgenommen habe."
Der BWL-Student müsste zum Arzt. Doch er sträubt sich, verschiebt den Termin von Woche zu Woche. Glücklicherweise ist seine Freundin gesundheitsbewusster. Sie recherchiert die Symptome ihres Freundes im Internet und kommt zu dem Ergebnis: Möglicherweise stimmt etwas mit seiner Schilddrüse nicht. Martin müsste zu einem Endokrinologen.
Endokrinologen beschäftigen sich mit Hormonen
"Endokrinologen beschäftigen sich ganz einfach ausgedrückt mit einem Zuviel oder Zuwenig an Hormonen." Professor Lars Möller, Oberarzt an der Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Stoffwechselerkrankungen am Universitätsklinikum Essen. Die Schilddrüse produziert aus Jod und Eiweiß Thyroxin, ein Hormon, das viele Bereiche des menschlichen Körpers steuert: den Stoffwechsel, das Herz-Kreislauf-System, den Magen-Darm-Trakt, Nerven und Muskeln.
"Dann bin ich zum Endokrinologikum nach Bochum-Wattenscheid, hab ich mir einen Termin geben lassen. Dort sind dann zigfach erhöhte Schilddrüsenwerte erkannt worden, das war dann das Morbus-Basedow-Syndrom."
Eine Autoimmunerkrankung der Schilddrüse, die zu einer übermäßigen Produktion von Thyroxin führt, Endokrinologen sprechen von Hyperthyreose. Das ist unangenehm, aber behandelbar. Martin bekam Medikamente, nach und nach normalisierte sich sein Gewicht, ein Jahr später trat die Remission ein, das heißt, die Erkrankung kam zum Stillstand. Ende gut, alles gut? Nicht ganz, die Geschichte nahm eine unerwartete Wendung.
"Meine beiden Brüder sind auch relativ schlank, und meine Mutter hatte die Vermutung, vor allem bei dem Kleinen, weil, da war es schon relativ grenzwertig mit dem Gewicht, dass der Kleine wahrscheinlich dann auch irgendwas mit der Schilddrüse hat."
Der jüngere Bruder stellte sich ebenfalls bei einem Endokrinologen vor. Und tatsächlich hat er auch bei ihm einen zu hohen Thyroxin-Wert im Blut gemessen. Lag eine familiär vererbte Schilddrüsenüberfunktion vor? Klarheit sollten Untersuchungen in der Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Stoffwechselerkrankungen am Universitätsklinikum Essen bringen. Lars Möller untersuchte den jungen Mann und bestätigte zunächst einmal die hohen Schilddrüsenwerte.
Typische Symptome des Morbus-Basedow-Syndroms fehlten
"Das Auffällige war aber, dass bei dem kleinen Bruder das TSH nicht vermindert war, das ist eigentlich das Hormon aus der Hirnanhangsdrüse, das der Schilddrüse sagt, mach Hormone, sodass eigentlich bei der typischen Überfunktion das TSH vermindert ist."
Und noch etwas anderes fiel ihm auf. Der jüngere Bruder hatte zwar hohe Konzentrationen an Schilddrüsenhormonen im Blut, es fehlten aber die typischen Symptomen des Morbus-Basedow-Syndroms, also Herzrasen, rasche Erschöpfung und so weiter. Ein kniffliger Fall.
"Die erste Überlegung war, dass möglicherweise eine sogenannte Schilddrüsenhormonresistenz vorliegt. Das heißt, dass der Rezeptor für Schilddrüsenhormone Beta einen Defekt hat, dadurch die Rückkopplung zwischen Schilddrüse und Hirnanhangsdrüse gestört ist und dadurch die peripheren Schilddrüsenhormone erhöht sind und das TSH nicht vermindert."
Eine weitere Erklärung für das seltsame Phänomen sind gutartige Tumore in der Hirnanhangsdrüse. Gleichgültig, was der Essener Endokrinologe auch untersuchte, keine der Vermutungen traf zu. Selbst die Möglichkeit fehlerhafter Laborwerte zog Lars Möller in Betracht. Eine Erklärung blieb allerdings noch.
"Die Schilddrüsenhormone im Blut liegen nur zu einem sehr kleinen Teil frei vor. Die meisten Schilddrüsenhormone sind an Proteine gebunden, und eines der Eiweiße im Blut, an das Schilddrüsenhormone gebunden sind, ist das Albumin. Albumin bindet an sich das Schilddrüsenhormon aber nur sehr locker. Wenn man aber eine besondere Mutation im Albumingen hat, dann kann das Albumin plötzlich ganz viel Schilddrüsenhormon binden."
Mutter und drei Söhne: Träger einer seltenen Genmutation
In solchen Fällen zeigen Laboranalysen tatsächlich hohe Thyroxin-Werte, allerdings sind sie biologisch nicht wirksam. Biologisch wirksam sind nur freie Schilddrüsenhormone. Deren Konzentration war aber - anders als die Messwerte anzeigten - völlig unauffällig, was erklärt, dass Martins Bruder keine Symptome zeigte. Nach einer Analyse der gebundenen und freien Schilddrüsenhormone und vor allem nach einer Untersuchung des Albumingens bestätigte sich der Verdacht: Der junge Mann - und mit ihm seine beiden Brüder und seine Mutter - leiden an FDH.
"Die Abkürzung heißt in diesem Fall "Familiäre Dysalbuminämische Hyperthyroxinämie", also eine familiär vererbbare, Hyperthyroxinämie, also eine Erhöhung des Schilddrüsenhormons im Blut, Dysalbuminämisch, aufgrund einer Veränderung des Albumins."
"Familiäre Dysalbuminämische Hyperthyroxinämie" klingt nach einer schweren Erbkrankheit – ist es glücklicherweise aber nicht. Die Patienten haben keinerlei Symptome, werden also auch nicht behandelt. Zwei Punkte müssen sie allerdings wissen. Sie können die Genmutation mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent an ihre Kinder vererben, und zweitens sollten sie jedem Arzt sagen, dass sie Träger der Mutation sind - sonst beginnt die aufwändige Diagnostik von vorne, sollte der Mediziner unerklärlich hohe Werte des Schilddrüsenhormons messen.
Außerdem könnte es ja wie bei Martin sein: Er ist Träger der harmlosen Mutation, leidet daneben aber auch am weniger harmlosen Morbus-Basedow-Syndrom.
Fußball spielt Martin übrigens wieder mit vollem Elan, sein Endokrinologe hat die Schilddrüsenüberfunktion gut in den Griff bekommen.