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Der besondere Fall
Mehr als nur müde

Von Beginn an verläuft ihre Schwangerschaft ungewöhnlich - die junge Frau ist extrem müde und antriebslos. Zunächst wird eine falsch liegende Plazenta diagnostiziert. Doch das ist nur die halbe Wahrheit: Ein eigentlich harmloser Virus hat Mutter und Kind infiziert.

Von Christina Sartori | 12.03.2019
Ultraschall-Untersuchung einer Schwangeren Babyscreening *** Ultrasound examination of a pregnant woman Babyscreening
Die Müdigkeit und die Konzentrationsschwäche ihrer Patientin hielten die Ärzte zunächst für die ganz normalen Begleiterscheinungen einer Schwangerschaft (imago / Margit Wild)
Schon zu Beginn ihrer Schwangerschaft merkte Sabine Leitner, dass irgendwas nicht stimmig war: "Ich war schon im ersten Monat müde, schlapp, antriebslos und das ging dann immer weiter."
Kein Vergleich mit ihrer ersten Schwangerschaft: "Beim ersten Mal lief das alles reibungslos. Da bin ich noch im neunten Monat zum Olympiastadion hoch und hab mir ein Hertha-Spiel angeguckt und bei der zweiten ging das überhaupt gar nicht."
Aber ihr Frauenarzt, dem sie von ihrem Zustand erzählt, hielt die Müdigkeit und Konzentrationsschwäche für normale Begleiterscheinungen einer Schwangerschaft. Also schleppte sie sich nach Hause und versuchte trotz ihrer Abgeschlagenheit den Alltag zu überstehen:
"Dann kamen erste Blutungen dazu, das war schon im zweiten Monat und da habe ich wieder gesagt, da müsste ja mal langsam was passieren und habe dann nach zehn Jahren Treue den Frauenarzt gewechselt."
Ein Problem wird erkannt – aber nicht das zweite
Ihre neue Frauenärztin wusste auch keine Erklärung – aber sie erkannte, dass irgendetwas nicht stimmt und überwies daher Sabine Leitner ins Krankenhaus. Dort entdeckt man, dass die Plazenta, über die der Fötus mit dem Blutkreislauf der Mutter verbunden ist, falsch liegt.
"Da hat man mir gesagt, dass ich eine vorgelagerte Plazenta habe und dass die Blutung dann von der Plazenta kommen könnte und dass es so aussieht – das kann sich im Laufe der Zeit noch ein bisschen schieben – dass sie sich komplett vor den Ausgang legt und dann kann diese Schwangerschaft eine Risikoschwangerschaft werden."
Mit dieser Information und dem Rat sich absolut zu schonen, so viel wie möglich im Bett zu liegen, wurde sie nach Hause entlassen.
"Und dann hat sich das bei mir langsam gebessert, Konzentrationsfähigkeit kam wieder, ich wurde ein bisschen fitter, aber die Blutungen, die nahmen immer mehr und mehr zu."
Als sie im vierten Monat war, musste sie ins Krankenhaus. Dort stellte man fest: Die Situation war ernst. Weil die Plazenta falsch lag, kam es zu den Blutungen. Es bestand die Gefahr, dass die Plazenta einreißt – und dass dann das Kind nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt würde. Die Mutter könnte verbluten. Ab jetzt musste Sabine Leitner im Bett liegen, durfte sich kaum bewegen. Immer wieder wurde kontrolliert, ob die Blutversorgung für das Kind ausreicht.
"Man hat im 4. Monat schon gesagt: Das wird schwer. Da haben wir quasi um jeden Tag gekämpft."
Das Kind wird zur früh geboren
Eines Tages war es so weit: Starke Blutungen, Transport in den Operationssaal, Not-Kaiserschnitt.
"Frau Leitners Tochter kam in der 27. Woche zur Geburt, 26 Wochen plus vier Tage hatte die Schwangerschaft gedauert."
Prof. Rainer Rossi, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, leitet die Kinderklinik im Berliner Vivantes Klinikum Neukölln. Er erinnert sich: Mit diesem Geburtstermin und einem Gewicht von 900 Gramm handelte es sich bei der Kleinen um eine extreme Frühgeburt. Sie musste beatmetet werden, keine Seltenheit bei extrem Frühgeborenen. Aber schnell zeigte sich: Das war nicht das einzige Problem:
"Da musste noch was sein, weil es sich nicht so ganz im üblichen Rahmen von Lungenproblemen bei Frühgeborenen ging. Es war komplizierter und unerwarteter im Verlauf."
Die Lunge entwickelt sich ungewöhnlich
Bei manchen Frühgeborenen, die beatmet werden müssen, kommt es zu einer unerwünschten Veränderung der Lunge, die bronchopulmonale Dysplasie heißt. Doch irgendwie schien das hier nicht der Fall zu sein. Ein Röntgenbild der Lunge bestätigt die Zweifel. Rainer Rossi:
"Das Röntgenbild hat einfach ein bisschen anders ausgeschaut, als bei einem Kind, das eine unreife Lunge hat und diesen Umbau in Richtung bronchopulmonale Dysplasie hat. Und das hat uns auf diese grundsätzliche Fährte gebracht. Und dann sind die Untersuchungen in die Wege geleitet worden."
Rainer Rossi vermutete eine Infektion. Die über beide Lungenflügel verteilten kleinen Entzündungsherde ließen ihn dabei an ein ganz bestimmtes Virus denken:
"Man kann nach so einer Infektion suchen, in dem man bei der Mutter Abwehrstoffe, also Antikörper nachweist. Da haben wir bei der Mutter gesehen, dass die eine frische Infektion hatte. Beim Kind kann man das auch untersuchen, aber da kann man auch gucken: Scheidet das Kind diese Viren im Urin aus. Das geht mit PCR, so einer molekularbiologischen Methode relativ gut."
Nicht nur zu früh, sondern auch krank
Die Ergebnisse bestätigten seinen Verdacht: Ein Virus war der Übeltäter, das sogenannte Cytomegalievirus. Sabine Leitner hatte sich während der Schwangerschaft mit dem Virus angesteckt, daher ihre Müdigkeit und Konzentrationsschwäche. Ihr Körper hatte das Virus bekämpft, während er sich gleichzeitig auf die Schwangerschaft einstellte. Und auch das ungeborene Kind wurde infiziert. Unter anderem hatte das Virus seine Lunge befallen, daher die außergewöhnlichen Lungenprobleme.
"Ab diesem Zeitpunkt war es eben nicht nur ein extrem Frühgeborenes, sondern ein extrem frühgeborenes krankes Kind und das hat unsere Situation dann doch sehr verändert. Man konnte uns nicht sagen ob sie das überleben wird, sie hatte große Probleme mit der Atmung, sehr lange musste sie beatmet werden…", so Sabine Leitner.
Es gibt ein Happy End
Normalerweise ist eine Infektion mit dem Cytomegalie-Virus nicht gefährlich, etwa jeder zweite Erwachsene in Deutschland hat so eine Infektion einmal durchgemacht, aber die meisten wissen davon nichts: denn die Symptome sind schwach oder unverdächtig, wie z.B. Müdigkeit, leichte Fieber und Kopfschmerzen. Für ein ungeborenes Kind kann eine solche Infektion aber schwere Folgen haben, z.B. Hörverlust oder mehrfach andere Behinderungen. Wochenlang war nicht klar, ob Sabine Leitners Tochter überleben würde. Die ersten Jahre waren hart. Aber Sabine Leitner und ihr Mann unternahmen alles was möglich war, um die Kleine zu fördern:
"Ich bin sehr dankbar für alle diese Einrichtungen und Möglichkeiten, denn nach einer anderen Anfangsphase in einer besonderen Schule ist jetzt der ganz normale Weg geebnet auf einer Regelschule und sie geht Richtung Abitur. Sie ist eben von Anfang an eine kleine große Kämpferin gewesen."