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Der besondere Fall
Schwarzer Urin

Vormittags spielte die Achtjährige noch auf der Straße, kurze Zeit später konnte sie sich vor Schmerzen kaum noch bewegen. Sofort gingen die Eltern mit dem Mädchen zum Arzt, der zwei weitere schwere Symptome feststellte: Ihre Nieren schmerzten, außerdem hatte sie fast schwarzen Urin.

Von Mirko Smiljanic | 14.05.2019
Teststreifen liegt auf einem Plastikbecher mit Urin.
Verfärbungen des Urins lassen häufig auf eine Krankheit schließen - bei schwarzem Urin ist die Niere betroffen - wegen eines Muskelzerfalls (imago stock&people)
Es gibt Schicksalsschläge, die alle Betroffenen an ihre Grenzen bringen. So wie bei einer jungen Familie im sächsischen Riesa bei Meißen. 1983 bekommen sie einen Sohn. Martin, so sein Name, wächst vier Jahre lang gesund und munter auf, bis er 1987 von einer Stunde zur anderen krank wird. "Er ist aufgestanden, er war bei der Oma zu der Zeit, und hatte Knieschmerzen, ihm taten die Knie weh. Er hatte am Tag vorher draußen ziemlich rumgetobt, und da hat die Oma gedacht, na ja, so ein bisschen Muskelkater oder sowas", erinnert sich die Mutter des Jungen.
"Aber wenn man sich dann freiwillig ins Bett legt, dann ist was faul. Der Oma, der war ein bisschen Angst, und dann hat sie einen Arzt angerufen, die kamen auch und haben ihn mitgenommen, das war so 12.30 Uhr circa. Mich hat sie dann angerufen auf Arbeit, ich bin von Arbeit ins Krankenhaus gefahren und war circa 13 Uhr im Krankenhaus. Ich durfte ihn dann kurz sehen an der Scheibe, damals war das ja alles ein bisschen abgetrennter wie heute, und bin dann wieder zurück mit der Oma nach Hause. Und gegen 14 Uhr kam der Krankenwagen und hat uns abgeholt. Da war es schon zu spät. 13.40 Uhr ist er verstorben."
Schwester hat die gleichen Symptome
Woran Martin gestorben ist, wurde nie endgültig geklärt. Herzstillstand stand lapidar in den Berichten. Ein Schock, der bis heute nachwirkt, das eigene Kind zu verlieren, zählt zum Schlimmsten, was Eltern passieren kann! Der Schmerz verblasste erst, als Heidi zur Welt kam, das zweite Kind des Paares aus Riesa in Sachsen. Die Eltern, beide arbeiten als Stellwerker bei der Deutschen Bahn, sind glücklich und zufrieden, bis ihrer Tochter 1996 mit acht Jahren Ähnliches passiert wie ihrem verstorbenen Sohn.
"Ich weiß bloß noch, dass ich früh auf der Couch saß und mich nicht mehr alleine anziehen konnte, weil der Rücken weh tat und mir alles weht tat. Und dann sind wir zur Kinderärztin gefahren. Die hat mich untersucht, ich musste pullern gehen und da war er schon dunkel und flockig. Sie hatte ganz schwarzen Urin, das sah aus wie Bohnenkaffee im Nachttopf. Und dann hat unsere Kinderärztin vermutet, dass es zusammenhängt mit den Nieren irgendwie, sie hat auch auf den Rücken gedrückt, und wo sie in die Nierengegend kam, hat Heidi auch geschrien, dass ihr das weh tut."
Schwarzer Urin mit Schmerzen in der Nierengegend! Woran die Achtjährige genau leidet, weiß die Kinderärztin nicht, weshalb sie das in dieser Situation wohl einzig Richtige tut: Sie überweist Heidi ins Krankenhaus. Helfen kann ihr aber auch dort niemand, die Ärzte sind ratlos. Allerdings kennen sie die Geschichte von Heids Bruder Martin, weshalb sie das Mädchen umgehend in die Universitätskinderklink Dresden verlegen.
"Ich denke, wir haben alle Angst gehabt und hatten das Gefühl, wir müssen jetzt herausfinden, was Heidi hat, und wir müssen es schnell herausfinden, denn offensichtlich ging es damals ja sehr schnell." Professor Maja von der Hagen, Leiterin der Abteilung für Neuropädiatrie an der Universitätskinderklinik Dresden. Nach der ersten Untersuchung fällt eines sofort auf: Die Muskelwerte im Blut des Mädchens – nicht zu verwechseln mit den Leberwerten – sind um das 5.000-Fache erhöht. Was ist passiert?
"Muskelzellen können zerfallen, richtig kaputt gehen und die Inhaltsstoffe aus der Muskelzelle werden frei. Die werden ins Blut freigeschwemmt, dadurch wird der Muskelwert so hoch, die zerfallenen Zellen gehen dann in den Urin über und verfärben den Urin." Betroffen ist die quergestreifte Skelettmuskulatur, die Herzmuskulatur und das Zwerchfell, was bei Heidi und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch bei ihrem Bruder Ursache der starken Schmerzen war. Die Ursachen des Muskelzellzerfalls, so Maja von der Hagen, können vielfältig sein.
Gendefekt verantwortlich für Muskelzerfall
"Dieses Phänomen heißt medizinisch Rhabdomyolyse, das heißt, der Muskel zerfällt, dafür gibt es sehr viele verschiedene Ursachen. Das ist auch etwas, was man erwerben kann, zum Beispiel nach einem Verkehrsunfall oder nach Drogen, nach Alkohol, nach Infektionen, und es gibt auch eine Gruppe von vererbten Rhabdomyolysen."
Weder eine Infektion noch ein Verkehrsunfall kommen als Auslöser des Muskelzerfalls in Frage, Drogen- und Alkoholkonsum scheiden bei der achtjährigen Heidi natürlich auch aus. Die vererbte Form rückt immer mehr in den Fokus, zumal ja ihr Bruder sehr wahrscheinlich ebenfalls an der Krankheit gelitten hatte. Genau genommen sind das in den ersten Tagen aber nur akademische Fragen. Im Mittelpunkt steht das Überleben Heidis.
"Sie hat ganz viel Flüssigkeit gekriegt, um die Niere zu spülen, wir haben geguckt, dass die Salze im Blut im Normbereich blieben, weder zu hoch, noch zu niedrig, wir haben auf Herz geguckt. Das Entscheidende war das Überwachen der Herzfunktion und das Überwachen der Nierenfunktion."
Womit niemand wirklich rechnen konnte, tritt ein: Nach knapp vier Wochen wird Heidi mit klarem Urin und ohne Schmerzen nach Hause entlassen. Ist sie endgültig geheilt? "Wir sind ja froh, dass es soweit geblieben ist, das es nicht wieder aufgetreten ist."
Mittlerweile ist Heidi 30 Jahre alt, sie ist verheiratet und hat einen fünfjährigen Sohn – außerdem kennen sie und ihre Eltern den Auslöser der Rhabdomyolyse. Dass ein Gen die entscheidende Rolle spielt, war klar, aber welches?
"2008 ist ein neues Gen gefunden worden, zunächst in einer arabischen Familie beschrieben worden, wo man festgestellt hat, da waren mehrere Kinder betroffen, die den Muskelzellzerfall hatten, und da hat man ein Gen gefunden, das sogenannte LPIN1-Gen. Das ist ein Gen, das für den Fettstoffwechsel mit verantwortlich ist, Ressourcen in Energiekrisen zur Verfügung zu stellen. Und als ich das las beziehungsweise als in der Kinderklinik darüber gesprochen wurde, da habe ich an Heidi gedacht."
Nach einer genetischen Untersuchung steht fest, dass sie Träger des Gendefektes ist. Übertragen von ihren Eltern, die beide Träger des LPIN1-Gens sind. Heidi wohnt heute in Riesa, sie ist Produktberaterin für Textilien und führt bis auf einige kleine Einschränkungen ein ganz normales Leben.
"Ja, dass ich Extreme meide, wie zum Beispiel einen Saunagang und danach in den Schnee legen, das würde ich jetzt vermeiden, aber alles andere, ja, alles in Maßen, alles in Maßen und nichts übertreiben, wie das im Leben so sein sollte, mit allem."