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Der besondere Fall
Weltweit nur zehn Patienten bekannt

Eine 28-Jährige hat frühzeitige Wehen, der Ultraschall zeigt einen gekrümmten Oberschenkelknochen bei ihrem Baby. Aber auch Experten für frühkindliche Knochenkrankheiten haben zunächst keine Erklärung, als das Kind wenig später gehörlos zur Welt kommt - eine Spur führt schließlich zu einer extrem seltenen Stoffwechselstörung des Knochens.

Von Mirko Smiljanic | 21.03.2017
    Mit der Entdeckung eines gekrümmten Oberschenkelknochens im Ultraschall begannen die Probleme des weltweit extrem seltenen Krankheitsbildes von Myasthenia gravis.
    Mit der Entdeckung eines gekrümmten Oberschenkelknochens im Ultraschall begannen die Probleme des weltweit extrem seltenen Krankheitsbildes von Myasthenia gravis. (imago/blickwinkel)
    Universitätsklinikum Essen, Station K 2. Privatdozentin Dr. Corinna Grasemann, Kinderärztin und Koordinatorin des "Zentrums für seltene Erkrankungen" erklärt:
    "Hier auf dieser Station finden sich insbesondere Kinder mit seltenen neurologischen Erkrankungen wie zum Beispiel der kindlichen Myasthenia gravis."
    Extrem seltene Erkrankung im Knochenstoffwechsel
    Helle Farben dominieren, die Zimmer sind kindgerecht gestaltet: "Der Ole ist ein jetzt dreijähriger Junge, der eine extrem seltene Erkrankung im Knochenstoffwechsel hat. Diese Erkrankung betrifft nicht ausschließlich den Knochenstoffwechsel, aber das ist der Teil der Erkrankung, der die größten Probleme macht. Er bekommt hier seine Infusionstherapie, das bekommt er zurzeit einmal monatlich und muss dann jeweils zwei bis drei Tage im Krankenhaus bleiben."
    Natürlich mit seiner Mutter Marlies Nadermann-Peitz, die den aufgeweckten Jungen in ihren Armen hält. Offen und freundlich lächelt Ole, aber er sagt nichts.
    Ole ist auch gehörlos, kann also nicht sprechen. Trotzdem hat Marlies Nadermann-Peitz Glück: Sie kennt die Krankheit ihres Sohnes, und es gibt nach allem, was man heute weiß, eine wirksame Therapie.
    Gekrümmter Oberschenkelknochen im Ultraschall
    Alles begann während der Schwangerschaft der damals 28-Jährigen, nichts deutete in den ersten Monaten auf mögliche Komplikationen hin.
    "In der Schwangerschaft bekam ich auf einmal Wehen frühzeitig, und da wurde im Ultraschall festgestellt, dass er einen gekrümmten Oberschenkelknochen hat. Da ging das Ganze dann los, dass vermutet wurde, dass irgendetwas im Argen ist, vorher war mit der Schwangerschaft alles in Ordnung."
    Monatelange, belastende Suche nach der Geburt
    Ein Schock für die jungen Eltern, die ihr zweites Kind erwarten. Und eine beständig nagende Unsicherheit. Während der restlichen Schwangerschaftswochen kann ihnen niemand sagen, woran der Junge leidet.
    "Nach der Geburt wurde dann alles Mögliche in meiner heimatlichen Klinik angestellt, um herauszufinden, was er hat, aber da kamen wir irgendwann nicht zu einem Ergebnis. Er ist im Oktober geboren und bis Januar haben wir rumgedoktert, vier Monate, und er war viel am Weinen, und man wusste halt nicht, warum."
    Es gibt weltweit maximal zehn Patienten
    Verzweifelt suchen Oles Eltern im Internet nach Experten für frühkindliche Knochenkrankheiten – und werden schließlich an einem großen Krankenhaus in Nordrhein-Westfalen fündig. Sie stellen den Jungen vor, er wird untersucht und behandelt. Hoffnung keimt.
    Doch das Resultat ist ernüchternd: Auch hier kennt niemand die Krankheit. Was immer die Mediziner auch versuchen, die Symptome bleiben unverändert. In dieser ausweglosen Situation wurde Ole auf einem Kongress vorgestellt als Fall:
    "Und da hat sich Dr. Grasemann gemeldet hier aus der Uniklinik Essen und gesagt, ich hab schon mal sowas ähnliches gehabt, seitdem sind wir hier in Essen, seit anderthalb Jahren."
    "Es war in diesem Fall ein glücklicher Zufall, dass wir hier in Essen noch einen anderen Patienten mit dieser Erkrankung behandeln und deswegen die Röntgenbilder von Ole relativ schnell gezeigt haben, dass das dieselbe Erkrankung ist. Das ist aber entgegen jeder Voraussage, es sind weltweit im Moment maximal zehn Patienten mit dieser Erkrankung beschrieben," erklärt Grasemann.
    Das entscheidende Protein fehlt
    "Juveniles Paget Syndrom" heißt die Krankheit, eine Stoffwechselstörung des Knochens, deren Ursache das Fehlen eines bestimmten Proteins ist. Weltweit sind zwar nur zehn junge Patienten bekannt, wahrscheinlich gibt es noch weitere, die irgendwo unerkannt leben. Es gibt kaum Mediziner, die das "Kindliche Paget Syndrom" diagnostizieren können.
    "Das größte Problem, das im Moment besteht, ist der ganz massiv erhöhte Knochenumsatz, das können Sie sich vorstellen wie eine beständige Entzündung im Knochen. Die Kinder haben deswegen Schmerzen, Knochenschmerzen, so wie wenn man die Grippe bekommt und einem alle Glieder wehtun. Und wenn man das weiß, kann man sich auch vorstellen, dass das eine normale motorische Entwicklung wirklich stört. Als wir Ole kennengelernt haben, da war er ein Jahr alt und konnte im Prinzip nur auf dem Rücken liegen, das ist ein Alter, in dem andere Kinder gerade das Laufen lernen und durch die Wohnung flitzen.
    Ole ist taub und spricht nicht
    Schwierig sei zudem, dass Ole taub ist und deshalb nicht spricht. In diesem Fall hat Ole aber großes Glück: Die gesamte Familie bis hin zu seiner Tante lernt die Gebärdensprache. Seine Mutter erklärt:
    "Also, es ist schon schwer, auf jeden Fall, es ist eine ganz andere Sprache, gerade für die Erwachsenen, für die älteren Erwachsenen ist es eine riesen Herausforderung. Die Kinder, die damit aufwachsen und die Gebärdensprache lernen, die lernen das viel, viel schneller und nehmen das ganz einfach auf und setzen das ganz schnell um, aber für uns ist das schon ein Lernprozess."
    "Frau Nadermann-Peitz übersetzt, wenn ich mit Ole kommuniziere, und ich glaube, die Ertaubung des Kindes ist ein ganz, ganz wesentlicher belastender Faktor hier für die Familie. Die Familie macht das fantastisch und kümmert sich auch darum, dass tatsächlich Ole zum Beispiel eine Frühförderung bekommt, die auch der Gebärdensprache mächtig ist", betont die Ärztin. Für Oles Eltern eine Herausforderung:
    "Mein Mann ist den ganzen Tag arbeiten, hat an Wochenenden halt Zeit für die Kinder, und da ist dann auch das Problem, dass ich ihm als Frau und Mutter, die ständig mit dem Kind zu tun hat, in der Gebärdensprache natürlich weit voraus bin. Man kann sich das gar nicht vorstellen, wenn man selbst nicht betroffen ist, für jeden ist es selbstverständlich, mit seinem Kind kommunizieren zu können, aber wenn man die Sprache seines eigenen Kindes nicht beherrscht gibt es ganz oft Konflikte und Kommunikationsprobleme."
    Die Therapie ist eher eine Reihe von Versuchen
    Wie aber wird eine so extrem seltene Krankheit behandelt? Punktgenaue Therapien gibt es nicht, die Essener Kinderärztin Corinna Grasemann tastet sich langsam mit bekannten Medikamenten vor:
    "Das ist alles eine Reise des behandelnden Arztes mit der Familie, da muss man gemeinsam ausprobieren, was hilft dem Kind, welche Dosis ist für das Kind richtig, Kinder entwickeln sich, die wachsen, dann muss man die Dosis verändern, da muss man vielleicht auch mal ein anderes Medikament – ich möchte fast mal sagen – versuchen, um zu sehen, ob das vielleicht den Knochenstoffwechsel besser kontrolliert."
    Trotzdem kein Handicap für Ausbildung und Leben
    Oles Zukunft sehen seine Eltern übrigens trotz aller Probleme auf einer Regelschule:
    "Er ist halt vom Kopf her und kognitiv absolut auf der Höhe, deswegen wollen wir ihn fördern, wo es nur geht und ihm auch den Weg des Lebens so gut wie möglich erleichtern. Warum soll er nicht so lernen, wie hörende Kinder es auch tun, nur weil er gehörlos ist?"
    "Sie haben ihn jetzt kennengelernt, er ist ein ganz bezaubernder Junge, der sehr intelligent mit uns seine Späßchen macht, und ich hoffe, dass der Knochen mitmacht und der sich weiter so gut entwickelt, wie er das die letzten zweieinhalb Jahre getan hat," sagt die Ärztin.