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Der Blogger des Waldes

65 Prozent des Inselstaats Japan sind von Wald bedeckt, die Forstwirtschaft seit vielen Jahrhunderten ein wichtiger Wirtschaftszweig. Doch die modernen Städter in den Metropolen verlieren den Bezug zum Wald. Das will Akio Fujiwara mit seinem Projekt Cyberforest ändern.

Von Jenny von Sperber | 19.01.2011
    Akio Fujiwara stapft zwischen Laubbäumen den steilen Hang hinauf Richtung Forschungsgelände. Hier im Universitätswald Chichibu, etwa 90 Kilometer von Tokio entfernt, studieren Wissenschaftler seit 1916 das Leben des Waldes und sammeln peinlich genau die Daten von gut 10.000 Bäumen:

    "Da, alle Bäume haben eine Nummer. Wir messen alle fünf Jahre ihre Größe. Jeder neue Baum bekommt eine neue Nummer, und wenn einer stirbt, halten wir das auch fest. Wenn man das Jahrzehnte lang fortsetzt lernt man das Leben des Waldes verstehen. Die weißen Netze dort fangen alles auf, was runterfällt. Äste, Blätter Samen. Die sammeln wir ein, zählen sie und notieren alles."

    Seitdem der Klimawandel und seine Folgen ins Interesse der Öffentlichkeit gerückt sind, werden Langzeitstudien wie diese viel stärker beachtet. Sie können Antworten liefern auf Fragen nach den schleichenden Veränderungen in der Natur.

    Und genau diese Antworten möchte Fujiwara in Zukunft geben können. Allerdings nicht nur der Wissenschaft, sondern allen Menschen. Gerade denen, die vielleicht nie in einem Wald gewesen sind. Oder Kindern. Deswegen hat er das Projekt Cyberforest initiiert:

    "Heute ist es doch so, dass man sich über alle Nachrichten, die man hört, informieren kann. Sogar über den Krieg im Irak zum Beispiel. Man kann ins Internet gehen und sich Blogs von Irakern durchlesen und sich ein eigenes Bild machen. Wenn man will, kann man an Informationen der Betroffenen selbst gelangen und nach Fakten suchen. Was aber den Wald angeht, den kann man nicht nach seiner Erfahrung fragen oder nach seiner Meinung zu dem, was in den Nachrichten über ihn gesagt wird. Deshalb will ich einspringen und quasi der Blogger des Waldes sein."

    Und dafür braucht Fujiwara Fakten. Hinter ihm ragt ein hoher Beobachtungsturm aus dünnen Stangen bis hinauf in die Baumkronen. Oben filmt eine seiner Roboterkameras den Wald. Sie schwenkt, sie zoomt. Und sie bezieht ihre Energie von Solarzellen unten am Waldweg.

    Ihre Bilder sind nicht nur für das Archiv der Wissenschaftler. Alles ist wenige Sekunden später im Internet zu betrachten. Die Wipfel, die herbstlich bunten Blätter, der Blick über bewaldete Hügel und im Frühling hier und da eine japanische Kirschblüte. Auch Stereomikrofone sind am Turm angebracht. Gut geschützt, damit sich die Affen daran nicht zu schaffen machen.

    Ein Stück weiter unten im Wald steht ein kleines Häuschen am Wegrand. Professor Kaoru Saito schließt gerade die Tür auf: Es ist von oben bis unten mit technischen Geräten gefüllt:

    "Hier steht der Streaming Server. So sind wir ans Netzwerk angeschlossen. Wenn die Stromversorgung angeschaltet ist und ich diesen Knopf bediene, werden alle Aufnahmen des Waldes codiert und sind etwa 30 Sekunden später auf der Website zu hören."

    Diese Masse an Bild- und Tonmaterial, die die Entwicklung des Waldes über Jahrzehnte hinweg dokumentiert, ist für die Forst- und Klimaforscher von morgen eine Fundgrube an Informationen. Mehr noch als die uralten Aufzeichnungen zu Baumhöhen, gefallenen Blättern und Samen. So haben Fujiwara und seine Kollegen mit Filmaufnahmen der letzten 15 Jahre zeigen können, dass sich die Blütezeit der Kirschblüte hier in Chichibu nicht nach vorn verschoben hat - das hatte nämlich der meteorologische Dienst bekannt gegeben und damit indirekt auf den Klimawandel hingewiesen. Die Forstwissenschaftler vermuten, dass die verfrühte Kirschblüte bisher nur in Städten vorkommt. Jetzt möchten sie herausfinden, ob die Blütezeit der Kirschblüte überhaupt ein verlässlicher Indikator für den Klimawandel sein kann.

    Aber interessiert sich der normale Städter für solche Daten?

    "Ich glaube schon, wenn man es richtig aufbereitet. Wir haben vor, Künstler und Videospiel-Erfinder mitmachen zu lassen. Sie sollen unsere Daten so aufbereiten, dass viele Menschen Spaß daran haben. Wenn das klappt, würden endlich korrekte Informationen über den Wald viele Menschen erreichen."

    Einen ersten Versuch haben Fujiwara und seine Kollegen bereits unternommen und aus den Aufnahmen der Roboterkamera in den Baumwipfeln Spielkarten gemacht. Hübsche Karten, die 24 Jahreszeiten beschreiben. Die 24 traditionellen Jahreszeiten Japans, die heute in der Stadt längst in Vergessenheit geraten sind. Abgesehen vielleicht von der Zeit der Kirschblüte.

    Übersichtsseite zum Japanschwerpunkt in Forschung aktuell
    In Bild und Ton erfassen japanische Wissenschaftler für das Projekt Cyberforest den Zustand des Waldes.
    In Bild und Ton erfassen die Wissenschaftler den Zustand des Waldes. (Jenny von Sperber/dradio.de)