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Der Börsencrash von Vancouver

Mathematik. - Die Mathematik bildet das Rückgrat von Naturwissenschaft und Technik. Und viele ihrer Erkenntnisse finden sich unmittelbar in der Wirtschaft wieder. Dort könnten Fehler jedoch folgenschwere Konsequenzen haben.

Von Frank Grotelüschen | 03.06.2008
    Montag, 28. November 1983. Die Finanzwelt reibt sich verwundert die Augen. Der Aktienindex der Börse von Vancouver vollführt einen dramatischen, geradezu mysteriösen Sprung. Am Ende des Freitags hatte er noch bei 524,811 Punkten gestanden. Doch nun, am Montagmorgen, steht die Anzeige plötzlich auf 1098,892. Eine glatte Verdopplung, ein unglaubliches Plus von über 100 Prozent! Was war passiert? Nun – die Geschichte beginnt ein gutes Jahr zuvor, im Januar 1982. Damals führte die Börse von Vancouver, auf der Penny-Stocks, also Billig-Papiere, gehandelt wurden, einen Aktienindex ein. Ein Aktienindex fasst die wichtigsten Papiere zusammen und gibt wie ein Barometer darüber Auskunft, ob die Börse rauf geht oder runter.

    "Das kann man sich vorstellen wie den Dax-Index: Das ist ein Durchschnittswert über die Kursentwicklung, die an der Börse stattfindet. Da möchte man sehen: Wie bewegt sich der Markt insgesamt,"

    sagt Jörg Liesen, Mathematiker an der Technischen Universität Berlin. Im Januar 1982 legten die Börsenchefs den Startwert für den Index fest auf einen Wert von genau 1000 Punkten. Dann wurde gehandelt und gefeilscht. Die Börse florierte recht anständig, die meisten Werte legten im Laufe der Monate zu. Doch seltsam – der Index fiel. Und zwar tiefer und tiefer, so stetig wie ein Jumbojet beim Landeanflug.

    "Er hat sich nicht von 1000 nach oben entwickelt, sondern sank immer tiefer. Nach einem Jahr hat man gedacht: Das kann irgendwie nicht sein! Da stand der Index ungefähr bei 520. Also ein Indexverlust von 48 Prozent! Und dann hat man Experten rangeholt, die sich mit der Index-Berechnung befassten."

    Fachleute aus Toronto und Kalifornien wurden eingeflogen. Sie grübelten, analysierten, rechneten nach. Und dann, im November 1983, hatten sie den Fehler aufgespürt:

    "Jedes Mal, wenn sich ein Aktienkurs veränderte, was ungefähr 3000 Mal am Tag geschah, wurde der Index neu berechnet. Dann wurde der Index auf die vierte Nachkommastelle berechnet."

    Aber, und jetzt kommt’s:

    "Bei der Indexberechnung, immer wenn man den neuen Durchschnittswert bildete, hat man die vierte Nachkommastelle weggelassen. Man hat also nicht gerundet, sondern hat einfach weggeschmissen!"

    Ein simpler Rechenfehler – und ein ziemlich dummer dazu. Denn wie man richtig rundet, sollte eigentlich jedes Kind wissen, und nicht nur ein promovierte Mathematiker wie Jörg Liesen:

    "Ab 0,5 rundet man auf eins auf. Und darunter rundet man eben ab. Das lernt man eigentlich in der Schule!"

    Nun könnte man meinen, es sei doch ziemlich egal, ob ein Aktienindex bei der vierten Stelle hinterm Komma falsch gerundet wird. Schließlich beträgt der Fehler allerhöchstens 0,0005 – eine ziemlich mickrige Zahl. Nur: Der Index wurde ja 3000 Mal am Tag neu berechnet. Und dadurch konnte sich der Fehler hochschaukeln auf immerhin einen Punkt pro Handelstag. Über einen Zeitraum von zwei Jahren, also von Anfang 1982 bis Ende 83, hatte das fatale Auswirkungen, rechnet Jörg Liesen vor.

    "Es gibt ungefähr 20 Handelstage im Monat, also 240 Handelstage im Jahr. Nach zwei Jahren habe ich 480 Handelstage. Das ist dann das, was der Index verloren hatte – und zwar 48 Prozent."

    Drei Wochen dauerte es, bis die Experten den Fehler behoben und den korrekten Index berechnet hatten.

    "Repariert wurde der Fehler einfach durch Einfügung der korrekten Rundung in die Software. Und der tatsächliche Index-Stand war dann rund 1100 – im Gegensatz zu den falsch berechneten 520."

    Und so kam es, dass sich der Aktienindex von Vancouver binnen eines Tages auf einen Schlag verdoppelte. Doch die Börsianer hatten Glück. Große Auswirkungen hatte ihr Fauxpas nicht.

    "Anfang der 80er Jahre gab es noch nicht diese große Anzahl von Finanzderivaten und Optionen wie heute. Als der Fehler auftrat, diente der Index nur zur reinen Beobachtung des Marktes. Aber wenn es Optionen auf Indices gibt, oder Optionen auf diese Optionen, können solche Fehler katastrophale Folgen haben."

    Das bedeutet: Würde ein Rechenfehler wie in Vancouver heute passieren – der internationale Börsenhandel müsste wahrscheinlich gestoppt und Abermilliarden von Aktienwerten, Optionen und Transaktionen neu berechnet werden. Ein Desaster für die Finanzwelt – und die Börsenmakler würden noch aufgeregter übers Parkett schreien, als sie es eh schon tun.