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Der Charme der unbändigen Lebenslust

In "Jerusalem" werden Themen wie der Kampf zwischen der ungebändigten menschlichen Natur und den Zwängen einer gesellschaftlichen Ordnung abgehandelt. Vor allem aber ist das Drama ein richtig gutes Stück - mit skurrilen Charakteren, die man nicht unbedingt lieben muss und von denen man doch nicht genug bekommen kann.

Von Andreas Robertz | 10.05.2011
    Ein junges Mädchen tritt als Elfe verkleidet vor einen weißen Vorhang mit dem roten Sankt-Georgs-Kreuz, dem Wappen des mittelalterlichen Englands. Sie singt "Jerusalem", jenes idyllische Lied nach dem Text von William Blake, das wie kein anderes die britische Sehnsucht nach einem mystischen und ländlichen England verkörpert. Dann öffnet sich der Vorhang und laute Rockmusik, grelles Licht und tanzende Silhouetten zwischen Bäumen verjagen das Mädchen und lassen das Music Box Theater erzittern, dass man fast schon den Putz von der Decke rieseln sieht.

    So beginnt das Stück "Jerusalem" von Jez Butterworth in der Inszenierung von Ian Rickson, ein Stück um den modernen Zigeuner Rooster Byron und seine letzten 24 Stunden auf einer Waldlichtung nahe der fiktiven Ortschaft Flintock. Es ist der Tag an dem die Bürger von Flintock den traditionsreichen Sankt-Georgs-Tag mit einem Jahrmarkt feiern, und genau wie Sankt Georg in der Legende werden sie am Ende des Tages ausziehen, um Rooster Byron zu töten. Dazu der Autor Jez Butterworth:

    "Ich denke für uns Briten ist das Schlachten des Drachens das eigentliche Kernstück des Mythos. Der Drache repräsentiert alles, was wir fürchten und gleichzeitig alles, was wir aufregend finden."

    Rooster Byron, gespielt von dem britischen Schauspieler Mark Rylance, ist einer der letzten seiner Art: ein Gesetzloser, Draufgänger und Geschichtenerzähler. Der ehemalige Kunstfahrer einer Motorradshow lebt seit Jahren in einem Wohnwagen in dem Waldstück, verkauft Drogen an die örtliche Jugend, und lässt nichts ungenutzt, um seine Nachbarn zu provozieren und die Polizei gegen sich aufzubringen. Er ist ein moderner Falstaff, den man sich nicht in seinem Leben wünscht und der gleichzeitig doch eine tiefe Sehnsucht nach der ungebändigten Lebenslust verkörpert.

    Rooster Byron trinkt rohe Eier mit Schnaps zum Frühstück. Jedes Mal, wenn jemand ihm tief in die Augen schaut, fängt die Bühne an zu vibrieren. Er trifft Giganten auf der Autobahn von Salisbury nach London, die ihm ihre Ohrringe schenken, große Trommeln, mit denen er sie zu Hilfe holen kann. Er hat einen unehelichen Sohn, einen kleinen Jungen, vor dem er höllische Angst hat und er beschützt das Mädchen, das als Elfe verkleidet war, vor ihrem brutalen Stiefvater. Er bietet Schutz und Aufnahme jeder Seele, die noch Kontakt zu ihrer wilden, ungezähmten Natur hat. Und wie die Figur Rooster Byron ist das ganze Stück mit seinen insgesamt 16 Charakteren: unberechenbar, voller Intensität und Humor, aggressiv und mysteriös.

    Für die wunderschöne und bis ins letzte Detail naturalistische Bühne hat der britische Bühnenbilder Ultz eine Waldlichtung mit großen Bäumen und einem verbeulten silbernen Wohnwagen mit echten Hühnern und viel Plunder erschaffen.

    "Jerusalem" ist eine große Metapher für die Angst vor dem Anderen und seine Faszination zugleich und es erinnert in seiner Rohheit an die Stücke von Werner Schwab. Die britische Zeitung "The Guardian" nannte das Stück ein großes Requiem auf das ländliche England und die "New York Times" schreibt, dass das Stück unsere bisherige Vorstellung von Theater sprengt.

    Der immerhin dreistündige Abend scheint auch in New York zu funktionieren. Denn obwohl "Jerusalem" eindeutig ein britisches Stück ist, haben Themen wie das Ende nationaler Mythen, das Versagen des Gemeinwesens und der Kampf zwischen der ungebändigten menschlichen Natur und den Zwängen einer gesellschaftlichen Ordnung einen universellen Charakter. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass Jerusalem schlicht ein richtig gutes Stück ist - mit skurrilen Charakteren, die man nicht unbedingt lieben muss und von denen man doch nicht genug bekommen kann.

    Nachdem er von dem Stiefvater und ein paar Schlägern verstümmelt wurde, übergießt Rooster Byron - die lärmenden Dorfbewohner mit ihren Hunden in Hörweite - seinen Wohnwagen mit Benzin und fängt mit lautem Gebrüll an, die Trommel des Giganten zu schlagen.

    Und tatsächlich, alle Bäume fangen an zu rauschen und die Bühne vibriert ein letztes Mal – einer von mehreren Gänsehautmomenten des Abends. "Jerusalem" ist zu Recht für sechs Tonys nominiert worden, darunter bestes Stück, bester Hauptdarsteller und beste Bühne.

    Informationen:
    Jez Butterworths Drama "Jerusalem" in New York