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Der Detektiv als Ikone

Jerry Cotton gilt als eine der großen Ikonen der deutschen Populärkultur.

Von Hartmut Kasper | 07.05.2004
    Einer Ikone steht ihrer Definition gemäß zwar keine Anbetung, wohl aber Verehrung zu, gilt sie doch als gnadenhaftes Abbild eines heiligen Urbildes.

    Die Ikonenmalerei selbst hat denn auch den Rang einer liturgischen Handlung und ist deshalb einer streng vorgeschriebenen, durch Malerbücher weitergegebenen Typisierung unterworfen.
    Das ist bei Jerry Cotton nicht anders. Die Jerry Cotton-Romane sind Ich-Erzählungen des Titelhelden.

    Wer immer also einen Jerry Cotton-Roman schreibt – und das waren mittlerweile etwa 150 Autorinnen und Autoren – , der legt den eigenen Namen ab und die Sprechmaske des großen Agenten an.

    Und damit dennoch all die vielen hundert Cottons, die bislang für´s FBI ermittelt haben, für alle Leser deutlich der eine Jerry Cotton sind und bleiben, hält man sich an das Urbild, den Prototyp, wie er vom Exposé fest geschrieben ist – mehr oder weniger.

    Jerry Cotton ist nämlich nicht gerade auf den Mund gefallen. Der G-Man geht, so die Fiktion in der Fiktion, einer schöngeistigen Nebenbeschäftigung nach, von der wir annehmen dürfen, dass sein Dienstherr, der väterliche Mr. High, sie ihm dienstrechtlich genehmigt hat: Seit einem geschlagenen halben Jahrhundert schickt der auf ewig fünfunddreißigjährige imaginäre Polizist einen Durchschlag seiner Berichte an den Bastei-Lübbe-Verlag und publiziert sie in der nach ihm benannten Heftromanserie – Jerry Cotton.

    Jeremias also heißt der Mann, der da aus der Provinz in die große Stadt geht, um Gerechtigkeit zu üben. Denn so steht es geschrieben im Buch der Bücher, der Bibel, Jeremia, 1, 7-.8
    Der Herr sprach: "Sag nicht, ich bin noch so jung. Wohin ich dich auch sende, dahin sollst du gehen, und was ich dir auftrage, das sollst du verkünden. Fürchte dich nicht vor ihnen, denn ich bin mit dir, um dich zu retten."

    Ins ferne New York also. Hier löst er seine Fälle, und löst er sie anderswo, denn er ist weltweit im Einsatz, dann kehrt er hierhin zurück. Denn, so steht es geschrieben, wer es hier schafft, der schafft es überall.

    Und Cotton schafft so einiges in den 50 Jahren – seinen mittlerweile etwa 2500 gelösten Fällen, darunter so spektakuläre wie – wir zitieren einige Romanhefttitel:

    Ich stürzte den Senator

    Ich erschoss den letzten Inka

    Ich – oder der Satan

    oder, um keinen auszulassen: Ich gegen alle.

    Manchmal fällt, wie unter vier Augen, das trauliche Du
    Jetzt musst du leider sterben, Darling.

    Jerry Cotton kommt viel herum: 14 Stunden in der Hölle

    Seine Welt ist weit und geheimnisvoll: Der Teufel und die Tennis-Lady

    edel: Die Kronprinzessin der Cosa Nostra,

    musikalisch: Der Popstar und die Killer-Meute,

    scheinbar kaltblütig: Der Todeskuss der Viper,

    unter der Oberfläche aber lodert ein Feuer wie in der russischen Seele: Die Puppe aus Moskau.

    Das Böse, das er bekämpft, hat sich immer auf dem Laufenden gehalten. Hatte Cotton es in den 1960er Jahren mit der bodenständigen Mafia zu tun und den Ausläufern des Kalten Krieges, so waren es in den 70ern Rassenkonflikte, in den 90ern marodierende Ostblockbanden, korrupte Politiker und – im Zuge der X-Akten, die offenbar auch das FBI im Keller hatte – irgendwie mysteriöse Fälle.

    Sieht man einmal vom allgegenwärtigen Terrorismus ab, hat das Böse heute kein klares Profil mehr. wie der Jerry Cotton-Gelehrte Professor Dr. Klaus Göbel sagt: "Wir, unsere Gesellschaft, wissen nicht mehr so recht, wo wir stehen. Die Welt verbirgt sich in einem Nebel von Schicksal und Fatum, wie in Urzeiten."

    Gut, wenn dann wenigstens der Edelmann Jeremias Cotton wie ein Fels in der Brandung schicksalhafter Nebel steht und ein Fünkchen Hoffnung auch für seine Leser herausschlägt.
    Er und seine Familie, die Einsatztruppe mit Phil Decker, dem deutschstämmigen Joe Brandenburg, dem Indianer Zeerookah oder Annie Geraldo, die "zierliche Latina mit der wilden Schwarzhaarmähne".

    So multikulturell-kooperativ wollen wir ihn haben, den Schmelztiegel alles Guten und Bösen New York. In diesem imaginären New York lebt Jerry Cotton beklagenswert allein, in einem serienspezifischen Zölibat, seine sporadischen Lebensgefährtinnen versinken beizeiten in der Unterwelt.

    Warten wir ab, wie es Sara ergehen wird, deren Arbeitstitel übrigens nicht Sara war, sondern Mary Cotton. Aber für den Fall der Fälle: Wofür hat man Freunde? Und Jerry hat mit seinem Kollegen Phil Decker einen ganz besonderen Freund - so besonders, dass vor einiger Zeit das Fandom etwas argwöhnisch wurde, ob sich hier nicht mehr als bloße Freundschaft entwickelte. Als deshalb Jerry Cotton 1965 zum ersten Mal verfilmt wurde, hatte man, so erzählt Heinz Werner Höber, einer der Hauptautoren der Serie, "panische Furcht davor, Cotton als Homosexuellen erscheinen zu lassen. In den Romanen musste er deswegen seine gemeinsame Wohnung mit Phil Decker aufgeben."

    Der US-amerikanische Schauspieler George Nader sollte tough guy Jerry Cotton geben. Nader reiste mit seinem Privatsekretär an: "Bei den Dreharbeiten fiel das nicht auf. Nur abends nach Drehschluss, wenn die beiden gelegentlich in der Bar saßen, hielten sie sich am Händchen."
    Nun ja. Nader ist damals dennoch das Gesicht von Jerry Cotton geworden, und für viele Leser ist er es bis heute geblieben.

    So wie Phil für Jerry, ist Jerry auch für Phil nicht nur ein, sondern der Freund. Er ist sozusagen jedermanns bester Freund. Der ideale Freund, eben. Also gehen wir doch gelegentlich mit Jerry Cotton ein Bier trinken, in diesem utopischen New York, in dem am Ende, wie in allen Märchen, das Gute siegt. Oder französisch essen. Oder italienisch. Was wohl Mr. High dazu sagt?