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Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten

Ein Gespenst geht um im deutschen Blätterwald, die "Pop-Literatur". Seit fünf Jahren geistert dieses Phänomen durch die Feuilletons, aber auch durch Gesellschaftsteile und Talkshows, sehr zum Unmut der Apologeten eines schönen, wahren, guten Literaturbegriffs.

Enno Stahl | 06.05.2002
    Und jetzt entsteht bereits eine Sekundärliteratur dazu. Zunächst handelte es sich um schmalere Publikationen, die mehr dem Zeitgeist und der Dokumentation verpflichtet waren. Mit "Der deutsche Pop-Roman" legt nun erstmalig ein Germanist eine wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung mit der umstrittenen "Schnösel-Literatur" vor. Moritz Baßler, Dozent in Rostock, fußt in seiner Untersuchung auf einem Zitat des Kulturtheoretikers Boris Groys. Dieser konstatierte, dass heutzutage "neu" nurmehr das sei, was im überindividuellen Kontext, nämlich in Bezug auf die kulturellen Archive der Gegenwart neu ist.

    Davon ausgehend, analysiert Baßler die literarischen Erzeugnisse von Autoren wie Andreas Mand, Thomas Brussig und Benjamin von Stuckrad-Barre, inwieweit sie unseren zeitgenössischen Wissensbestand organisieren und archivieren. Ein interessanter Ansatz. Ermöglicht er doch zum Beispiel Stuckrad-Barre einmal unabhängig von seinen vorhandenen oder nicht vorhandenen erzählerischen Fähigkeiten als einen modernen Enzyklopädisten zu interpretieren. Dieser demonstriere in seinem Roman "Soloalbum" in beispielhafter Weise ein, Zitat, wildwucherndes Assoziieren entlang den Verschaltungen der kulturellen Enzyklopädien". Stuckrad-Barres Ausfälle gegen bestimmte Stilformen, Musiksorten oder Labels bringen nämlich ein Wissen zum Ausdruck, das andere Zeitgenossen, seine Leser, mit ihm teilen.

    Die Stärke eines solchen Pop-Textes läge, so Baßler, gerade nicht im abstrakten Überbau einer fiktionalen Geschichte, dem Narrativen, sondern in der Aneinanderreihung konkreter Realitätsbestandteile. Entgegen einem platten Realismus, den Baßler anhand von Autoren wie Bernhard Schlink und Christoph Peters als unzeitgemäß klassifiziert, verkörpere der pop-literarische Zugriff einen neuartigen dritten Weg zwischen unverständlicher Moderne und filmischem Realismus. Dieser Mittelweg bediene sich locker der Oberflächen und Warenzeichen der Dingwelt, und zwar nicht bloß aus übersteigertem Detailrealismus. Warennamen heute verfügen über kulturelle Bedeutungshöfe, die in dieser Literatur bewusst mitschwingen. Es geht also um Stil-Zitate, die ein Feld diskursiver Hinweise entfalten.

    So weit, so gut. Dass Baßler aber dieses Merkmal, ob Texte Markennamen verwenden oder nicht, zum Unterscheidungskriterium zwischen alt und neu erhebt, erscheint übertrieben. Zudem drängt sich die Frage auf, inwieweit eine Literatur, die sich exzessiv auf dieses Gleis begibt, nicht bloß Symptom bleibt für eine historische Phase des Markenkapitalismus. Dann unterläge sie aber denselben geschichtlichen Schwankungen wie das ökonomische System, ohne zu dessen Deutung beizutragen. Auch Baßler überlegt daher, ob diese Strategie auf Dauer Erfolg haben kann. Seine Antwort auf diese Problematik ist einigermaßen verblüffend: er sieht sie ausgerechnet im Wirken des österreichischen Krimiautors Wolf Haas. Dessen sicher ansprechende Thriller beherbergten all jene konzeptuellen Verfahren der Pop-Literatur, ohne sich von der Hochkultur gänzlich abzukoppeln. Dies sei vielleicht nicht ihr alleiniger Ziel- und Höhepunkt, aber doch die deutsche Literatur der Jetztzeit.

    Uneingestanden führt dieses Plädoyer für eine intelligente Genreform zurück auf den amerikanischen Literaturkritiker Leslie A. Fiedler, der als Erster, nämlich 1968, von der Notwendigkeit einer Pop-Literatur gesprochen hatte. Trotz aller theoretischen Finesse beißt sich die Katze also am Ende in den eigenen Schwanz. Auf dem Weg dahin gewährt Baßler aufschlussreiche Einblicke in die zeitgenössische Arbeit an den kulturellen Archiven. Zugute halten kann man ihm auch, dass er in einer für die Germanistik ungewöhnlich kurzen Zeitspanne auf die aktuellen Entwicklungen reagiert hat. Und er hat dies auf überaus unterhaltsame Weise getan, die Witze und Slogans ebenso wenig ausspart wie Songtexte und Rückgriffe auf eigene Erfahrungen. Damit hat er eine dem Vorgehen der Pop-Literatur analoge Methode für die literaturwissenschaftliche Analyse entdeckt. Schon deswegen ein lesenswertes Buch.