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Der Drache der Diktatur

Natascha Estimirowa wurde ermordet, weil sie eine Stimme sein wollte für die zahlreichen Verschleppten und Getöteten in Tschetschenien. Doch das Erbe der Leiterin der Menschenrechtsorganisation Memorial lebt weiter - auch in Berlin.

Von Barbara Lehmann | 21.10.2009
    "Kein Empfang" - steht an der schweren Holztür. Hinter der Tür verbirgt sich das Büro der Menschenrechtsorganisation Memorial in Grosny. Seit dem Mord an seiner Leiterin Natascha Estimirowa sind die Räume versiegelt und die Regale leergeräumt. Nichts erinnert mehr an die Hunderte von Aktenordnern, die dank Natascha Estimirowas unerschrockener Recherchen die Morde und Verschleppungen in Tschetschenien in den letzten Jahren dokumentierten. Nataschas Kollegen sind in Sicherheit gebracht worden, teilweise leben sie nun außerhalb Tschetscheniens. Um das Gedenken an die Tote und ihre Arbeit wachzuhalten, ist ihr früherer Kollege Alexander Tscherkassow nach Berlin gekommen:

    "Natascha war tapferer als viele tschetschenische Männer. Sie sprach das aus, worüber andere schwiegen: dass in Tschetschenien nach wie vor die Menschen gefoltert werden. Doch sie beließ es nicht bei Worten; sie hat die Menschen auch tatkräftig aus geheimen Gefängnissen befreit. Sie lebte wie ein Dissident: als freier Mensch in einem nicht freien Land. So sorgte sie auch dafür, dass die Informationen über die Wellen der Gewalt in Tschetschenien über die Republikgrenzen hinaus verbreitet wurden. Nach dem Mord an ihrer Freundin Anna Politkowskaja hat sie in der "Nowaja Gaseta" Artikel veröffentlicht, sie ist im Rundfunk aufgetreten. In sowjetischen Zeiten kam man dafür ins Gefängnis, jetzt wird man dafür erschossen. Natascha hat zu gut gearbeitet. Dafür hat die 'andere Seite' sie mit fünf Kugeln belohnt."

    Memorial hat nach der Ermordung von Natascha Estimirowa die Arbeit in Tschetschenien eingestellt. Die Verbrecher, so bemerkte Tscherkassow sarkastisch in Berlin, wollten sich vor strafrechtlicher Ermittlung schützen – und wie sie sich schützen, das habe man gesehen. Ein Monitoring über Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien ist damit nicht mehr möglich; Tschetschenien wird vorerst ein weißer Fleck auf der Landkarte bleiben. Unter den wenigen noch verbliebenen tschetschenischen Menschenrechtlern geht die Angst um, keiner wagt mehr, seine Stimme zu erheben. Mehr noch: Die Menschen in Tschetschenien haben sich daran gewöhnt, mit dem Drachen der Diktatur zu leben. Nun verteidigen sie diesen Drachen sogar gegen vermeintliche Angriffe von außen – und riskieren dafür sogar das Leben derer, die sie von der Diktatur befreien wollen.

    "Wir alle haben zu Natascha gesagt: 'Komm nicht wieder - das ist zu gefährlich!' Doch es war für sie eine Frage der Ehre. Von diesem Weg war sie nicht abzubringen. Sie hat das Schicksal, das Leiden des tschetschenischen Volkes auf sich genommen. Auf diese Weise hat sie die Verantwortung übernommen. Dabei war sie keine Nationalistin. Sie gehörte verschiedenen Kulturen an. Doch in den letzten Jahren hat sie sich auf die Seite der tschetschenischen Opfer geschlagen, weil sich sonst kaum einer für sie starkmachte. Die Tschetschenen sind heutzutage die Juden Europas."

    In die unübersichtliche tschetschenische Gemengelage zwischen islamistischen Unabhängigkeitskämpfern, prorussischen Sicherheitsorganen und russischen Militärs brachte die mädchenhaft wirkende 50-Jährige Klarheit. Sie überschritt Grenzen, riskierte, was keiner wagte: Sie fuhr in Krankenhäuser, wo Entführte unter martialischer Bewachung lagen und verschaffte sich zu ihnen Zugang. Sie spürte Folteropfer in Geheimgefängnissen auf und setzte ihre Befreiung durch. Dank ihrer akribischen Recherchen benannte sie in vielen konkreten Entführungs- und Mordfällen die Täter und erreichte in einigen Fällen sogar ihre Bestrafung – selbst vor dem Europäischen Gerichtshof in Straßburg. Und sie erhob sogar die Stimme gegen Tschetscheniens allmächtigen Staatschef Ramsan Kadyrow, jenen Statthalter von Putins Gnaden, der in ihren Augen in den letzten Jahren eine diktatorische Schreckensherrschaft entfaltet hat.

    "Die wichtigste Tradition in Tschetschenien ist die Freiheit. Seit dem 16., 17. Jahrhundert gibt es dort keine Aristokraten. Keiner außer den älteren Verwandten kann einem Tschetschenen vorschreiben, wie er sich zu verhalten habe. Keiner darf sich in die familiären Angelegenheiten einmischen. In diesem Sinn war Natascha Estimirowa eine Traditionalistin im besten Sinne des Wortes. Sie war ein Mensch einer neuen, einer offenen Welt. Einer Welt, die gleichzeitig ihre Wurzeln kennt: im vergangenen Leid der Deportation, im von Kolonialismus und Kriegen gezeichneten Leben der letzten Jahrhunderte."

    In anderen kaukasischen Regionen wird Memorial seine Arbeit fortsetzen; das Büro in Grosny jedoch bleibt bis auf weiteres geschlossen. Die Einreise von internationalen Menschenrechtlern nach Tschetschenien, so Tscherkassow in Berlin, werde von Russland verhindert. Institutionen wie der Europarat versagten, zumal die Informationen über Menschenrechtsverletzungen nun voraussichtlich noch spärlicher würden. Aufgrund falscher Rücksichtnahme gegenüber Russland verrate Europa seine Prinzipien. Das fehlende Interesse der internationalen Gemeinschaft an Tschetschenien sei eine Tragödie für die dortigen Menschen. Er selbst klagt sich an, Natascha Estimirowa nicht von ihrem selbstmörderischen Einsatz vor Ort abgehalten zu haben:

    "Natürlich mache ich mir Vorwürfe. Sie lebt nicht mehr - ich lebe. Der Tod wählt die Besten aus. Doch ich denke nicht, dass Natascha verloren hat. Das ist eine Marathonstrecke. Sie ist noch nicht beendet."