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Der Einfluss der Mütter

In ihrem neuen Roman macht sich Sabine Scholl auf die Suche nach den Einflüssen der Großmütter und Mütter auf die heutige Frauengeneration. Entstanden ist ein Roman, der von einem feministischen Standpunkt aus das Selbstverständnis von Frauen und Müttern analysiert.

Von Claudia Kramatschek | 03.06.2013
    Fäden und Textilien bilden Verbindungslinien zwischen Generationen von Frauen. Die Häute, die ich von meiner Familie übernehme, sind eng gespannt. Sie abzuziehen tut weh. Aber sie anzubehalten schmerzt noch mehr.

    Fäden und Textilien bildeten von Anfang an die metaphorischen Schnittstellen, an denen entlang Sabine Scholl die Herstellung nicht allein weiblicher Identität in ihrem Werk rekonstruiert und vermessen hat. Keins aber ihrer vorhergehenden Bücher war so explizit persönlich angelegt wie der neue Roman. Darin kehrt die weit gereiste und an vielen Orten der Welt zugleich verwurzelte Autorin nämlich zu den eigenen Wurzeln zurück, öffnet quasi die Schatz- und Stofftruhe ihrer persönlichen Vergangenheit:

    "Als meine Tochter langsam mit der Schule fertig wurde, zeichnete sich ab, sie würde das Haus verlassen. Da habe ich mich dann sehr stark damit auseinandergesetzt, diese ganze Verbindungslinie in meiner Erinnerung noch einmal durchzugehen, wie meine Großmütter gelebt haben, wie meine Mutter gelebt hat, wie meine Schwiegermutter gelebt hat und wie sich alle diese Einflüsse in meiner Tochter irgendwie zusammenfinden."

    "Wir sind die Früchte des Zorns" ist daher angelegt als ein Familien- und Erinnerungsalbum – geschrieben und verfertigt ist es allerdings allein auf den Spuren der Mütter: Da ist die Schwiegermutter Odette, die aus einer in Paris ansässigen Industriellenfamilie stammt und den "Haut Gout" der Bourgeoisie verbreitet; ihre Mutter – Grandmamam – hatte beständig Affären und ein uneheliches Kind von einem der vielen Liebhaber; Odettes Tochter heiratet einen Aristokraten – und wird dennoch am Ende – wie ihre Mutter – die Betrogene sein. Ganz anders dagegen die beiden Großmütter Hanna und Martha – beide aus einem bäuerlichen Haushalt stammend, früh auf sich gestellt, die eine als Magd, die andere als Köchin. Als der Krieg sie ereilt, finden sich beide als Alleinerziehende wieder. Die eine verhärtet emotional, findet kein gutes Wort für die Enkelin; die andere flieht in die Welt der Geschichten, umwebt die Enkelin mit der Verheißung von schönen Kleidern, Kaufen und Konsum. Und dann ist da noch Erika, die Mutter der Erzählerin – die früh lernt, nichts zu sein außer eine Last:

    Sei froh, dass du noch lebst! Zu Anfang des Zweiten Weltkriegs geboren, hat Erika gelernt, unauffällig zu sein, nicht zu jammern, alles zu ertragen, still ihrer Arbeit nachzugehen. Andere haben es viel schlimmer! Sie lernte, nach Essen zu suchen im Wald, in den Hügeln, in der Erde, Pilze, Beeren, Rüben, essbare Pflanzen. Erikas Wert wurde nach ihrem Beitrag zum Hungerstillen bemessen: Je mehr Pilze, desto nützlicher war sie der Mutter. Doch weil alle ständig hungerten, sammelte sie nie genug.

    Scholl zeigt all diese Frauen dabei als übermächtig und ohnmächtig zugleich. Im Gefüge der Familie sind sie nichts als reine Funktion, Trägerkörper für die Bedürfnisse anderer. Sie halten die Fäden der Familie zusammen – treiben der Enkelin jedoch die Lust am eigenen Körper aus, flüstern ihr ein, dass Männer nichts sind als Dekor: überflüssig, weil nutzlos, wenn man sie braucht.

    "Das war auf jeden Fall meine Absicht, einmal die Geschichte von den Frauen her zu schreiben, weil gerade, was meine Herkunft aus dem bäuerlichen Milieu betrifft, es ja nur leere Flecken sind, die es da gibt. Ich kann nicht zurückgreifen auf irgendwelche historischen Dokumente, auf Geschriebenes dieser Frauen. Sondern ich musste mich eigentlich darum herum bewegen und nachrecherchieren, wie Frauen, die in ähnlichen Verhältnissen aufgewachsen sind, gelebt und gefühlt haben, was ihre Probleme, was ihre Leistungen auch waren. Das war mir auch wichtig: Sie haben ja einen wichtigen Beitrag geleistet, und einen Fokus daraufzulegen, diese ungeschriebene und immer auch als nicht so wichtig erachtete Geschichte der Arbeitermütter ganz bewusst hervorzukehren, indem die Männer in dieser Geschichte in den Schatten treten."

    Wie nebenbei liefert Scholl anhand der Individualgeschichte, die sich über vier Generationen hinweg erstreckt, somit auch eine Art weibliche Sittengeschichte im Wandel der Zeit. Nur ein Phänomen überträgt sich noch bis auf die Enkelin im 21. Jahrhundert, als diese schon längst geographisch das Weite gesucht hat und erst in Chicago, dann in New York mit Mann und Kind ein eigenes Familiendasein führt: Die Schuld, am Leben zu sein. Die Schuld, eine Frau zu sein.

    Ich lerne, wie wir uns von dem, was andere nicht brauchen, ausreichend ernähren. So werden wir niemandem zu viel, fallen keinem zur Last, müssen uns nicht dauernd dafür entschuldigen, dass wir existieren. Und ich bin ja schuld, so wie auch Erika schuldig ist. Ich bin schuld, dass Erika Mutter geworden ist, und Erika ist schuld, dass ihre Mutter Mutter geworden ist. Das ist die Erbschuld der Frauen.

    Scholl benennt diese Erbschuld – und schreibt zugleich mit Verve dagegen an:

    "Indem sie uns das vererben, erdrücken sie uns ja damit. Und um zum Beispiel ein Mutterleben in völlig veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen zu leben, erfordert ja neue Modelle. Und die kann man nicht erschaffen, wenn man nicht sich abgrenzen kann gegenüber diesem alten Modell. Das ist ja eigentlich das Gefährliche: Sich dessen nicht bewusst werden, weil dann wiederholt man tatsächlich die alten Muster.""
    Im Fall der Ich-Erzählerin ist dies beispielsweise die Todessehnsucht der Mutter:

    Als Erwachsene wage ich mich selten zurück ins Gebiet meiner Herkunft. Meine Faszination für verwahrloste Gegenden und Menschen ist jedoch von den Erfahrungen damals bestimmt. Während des Studiums widme ich mich selbstmörderischen und gewalttätigen Schriftstellern, bin von sich ritzenden und Blut spritzenden Künstlern fasziniert, forsche und schreibe über Wahnsinn und meine, ich hätte mich längst aus dem Einflusskreis dieses ersten Hauses entfernt.

    Als sie selbst Mutter wird, aber weiterhin als Schriftstellerin arbeiten will, begreift sie, dass ihr ein positives Rollenmodell fehlt. Als ihr Mann sie am Ende mit zwei Kindern und einer neuen Frau zuliebe alleine lässt, begreift sie, dass sie einem Bild erlegen war, dass schon lange überaltert und daher eine einzige Illusion ist: dem Bild der glücklichen Familie von Mutter Vater Kind.

    Ich habe mich gebeugt, bin in ein Muster geschlüpft, das bereitstand und mir eingetrichtert worden war seit der Kindheit. Nur solange alles gut geht, kann ich wählen, kann ich Rollen spielen. Wird es eng, greife ich auf das nächstbeste Angebot zurück, um nicht zusammenzukrachen, und erwische das Schlimmste: Die Wiederholung dessen, was immer so war.

    "Wir sind Früchte des Zorns" liefert damit zugleich einen dezidiert feministischen Standpunkt zu der wieder einmal neu entfachten Debatte über die Rolle und das Selbstverständnis als Frau:

    "Solange man in einem scheinbar funktionierenden Gefüge einer Familie mit Vater Mutter Kind lebt, stellen sich diese Fragen nicht so stark. Sie stellen sich viel stärker in dem Moment, wo die Krise auftritt, wo etwas zerbricht, woran man sich festgehalten hat. Und dann kommt man zwangsläufig wieder darauf, das auch gesellschaftlich zu analysieren und auch wieder einzufordern. Und zwar deshalb, weil ... die Rolle der Mütter etwas ist, was ja auch vom feministischen Standpunkt her definiert werden muss. Zumindest hier in Deutschland würde ich sagen. Feminismus war: Frauen schaffen sich ein Selbstbewusstsein, steigen in die Gesellschaft in gewisse Positionen ein und bestimmen mit. Aber das war überhaupt nicht verbunden mit: Was bedeutet dann Mutterschaft? Man war dann sozusagen ein Außenseiter im Feminismus, wenn man dann anfing, plötzlich ein Kind zu haben und sich Gedanken zu machen über Mutterschaft."

    Am Ende muss die Ich-Erzählerin die eigene Mutter symbolisch töten, um sich aus deren tödlichem Netz zu befreien. Das mythische Bild der Spinne bildet daher ein ebenso zentrales und wiederkehrendes Motiv wie archaische Metaphern der Todes- und Fruchtbarkeitssymbolik. Sabine Scholl hat damit – auf der Folie von Freuds Erzählmodell Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten – einen anspielungsreichen Roman erschaffen, in dem sie so luzide wie gewitzt nicht allein die eigene, auch künstlerische Selbstverortung neu dekliniert, sondern – jenseits des Zorns – die Möglichkeit einer weiblichen Freiheit im Zeichen von Nadel und Faden:

    Ich lasse meiner Zunge freien Lauf. Ich stehle die Worte der anderen, um zu überleben. Ich stückele die Geschichten, nähe sie zusammen, stopfe die Lücken. ... Für die Kinder habe ich leben gelernt. Fingern und fädeln. Wort ist Faden und Faden macht Welt.

    Literaturhinweis:
    Sabine Scholl: Wir sind die Früchte des Zorns. Roman
    Secession Verlag 2013. 164 Seiten. € 19,95