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Der Entdecker des Morphiums

Der Pharmazeut Friedrich Wilhelm Sertürner hat eine gewaltige Entwicklung losgetreten, als er Anfang des 19. Jahrhunderts erstmals eine Substanz aus rohem Opium herausfilterte und testete - zunächst am Hund, dann in einem heroischen Selbstversuch. Die Wirkung des Mittels reichte von Schläfrigkeit über Betäubung bis hin zu einem traumartigen Zustand. Sertürner nannte den Wirkstoff nach dem griechischen Traumgott "Morphium".

Von Irene Meichsner | 19.06.2008
    Zielstrebigkeit, Selbstvertrauen, jugendliche Unbekümmertheit: Mit solchen Eigenschaften gelang es einem Apothekergehilfen aus der tiefsten Provinz Anfang des 19. Jahrhunderts, die renommiertesten Pharmazeuten seiner Zeit auszustechen. In ganz Europa versuchte man damals, Pflanzenstoffe in ihre chemischen Bestandteile zu zerlegen. Friedrich Wilhelm Sertürner, am 19. Juni 1783 in Neuhaus bei Paderborn geboren, nahm sich das Opium vor, das aus den unreifen Samenkapseln von Schlafmohn gewonnen wird.

    Ärzte nutzten Opium seit Urzeiten als Schlaf- und Schmerzmittel. Als zentrale Wirksubstanz vermuteten viele eine Säure. Und tatsächlich stieß Sertürner 1804, als er eine wässrige Lösung von Roh-Opium chemisch behandelte, auf eine verdächtige Substanz, die er "Mohnsäure" nannte. Aber noch auffälliger erschien dem jungen Mann, der eben erst seine Lehre in der Paderborner Hofapotheke abgeschlossen hatte, ein "grauer Rückstand" mit alkalischen Eigenschaften. Er habe unangenehm geschmeckt, notierte Sertürner im Versuchsprotokoll - und entschied sich für einen ersten Tierversuch. Einem Hund verabreichte er:

    "Sechs Gran der rohen Substanz, so wie sie aus einer wässerichten Opiumextraktion geschieden, in drey Quentchen Akohol durchs Kochen aufgelöst, mit etwas Zuckersaft vermischt."

    Klaus Meyer, ehemaliger Präsident der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Pharmazie, schilderte 2004 in einem Aufsatz den Verlauf des Experiments.
    "Der Hund reagierte nach einer halben Stunde mit Schläfrigkeit, drohte im Stehen umzufallen und erbrach wenig später."

    Sertürner testete eine noch höhere Dosis.
    "Das Ergebnis war gleich, nur stärker. In letzter Sekunde rettete ein Gegenmittel - schwache Essigsäure - den Hund, der jedoch einen nochmaligen Versuch nicht überlebte."

    Sertürner machte die Gegenprobe. Er gab einem Hund eine Opium-Lösung, aus der er die Wirksubstanz vorher entfernt hatte - das Tier zeigte keinerlei Symptome. Nach insgesamt 57 Versuchsschritten stand für Sertürner fest:
    "Ich glaube, mit Gewissheit schließen zu dürfen, dass die große Reizbarkeit des Opiums von diesem besonderen krystallisierbaren Körper herzuleiten ist."

    Bei natürlichem Opium war die Wirkung schwer zu kalkulieren. Sertürner ahnte: Der isolierte Wirkstoff, den er später - nach dem griechischen Traumgott - "Morphium" nannte, würde hier Abhilfe schaffen.
    "Der Arzt hat nicht mehr mit der Ungewissheit und dem Ungefähren, worüber oft geklagt wird, zu kämpfen. Er wird sich immer mit gleichem Erfolg dieses Mittels bedienen können."

    Das Ergebnis wurde 1806 im "Trommsdorff'schen Journal der Pharmacie", dem führenden deutschen Fachblatt, veröffentlicht - fast ohne Echo. Sertürner wechselte ins niedersächsische Einbeck, machte sich als Apotheker selbständig und unternahm schließlich 1817 einen heroischen Selbstversuch mit seinem Morphium.
    "Der Erfolg war schnell und im höchsten Grade entschieden. Er zeigte sich durch Schmerz in der Magengegend, Ermattung und starke an Ohnmacht grenzende Betäubung. Liegend geriet ich in einen traumartigen Zustand. Nach dieser wirklich höchst unangenehmen eigenen Erfahrung zu urteilen, wirkt das Morphium schon in kleinen Gaben als heftiges Gift."

    "Dies ist eine Entdeckung, die ihrem Urheber alle Ehre macht",

    lobte ihn wenig später der Franzose Louis-Joseph Gay-Lussac, der einen Aufsatz von Sertürner aus den "Annalen der Physik" ins Französische übersetzte. Auf dem Umweg über Frankreich wurde man auf den Autor endlich auch in Deutschland aufmerksam.

    "Es ist eine leider noch zu häufige Krankheit bei uns",

    schrieb Sertürner verbittert,

    "dass wir unsere Blicke mehr nach dem gallischen und brittischen, als nach dem germanischen Boden richten, und gegen den Werth des letzteren die Augen verschließen."
    Sertürners Arbeit über das Morphium wurde in Jena als Doktorarbeit anerkannt. Sie ebnete den Weg für die großtechnische Herstellung von Morphium, das als Schmerzmittel, aber auch als Rauschdroge eine beispiellose Karriere machte.

    Durch sein systematisches Vorgehen begründete Sertürner die Arzneimittelforschung als moderne, wissenschaftliche Disziplin. Doch er konnte sich am Erfolg selber nicht mehr freuen. Ständige Auseinandersetzungen machten aus ihm einen, so der Pharmaziehistoriker Meyer, "misstrauischen Sonderling".

    Sertürner gründete eine eigene wissenschaftliche Zeitung, verbreitete sein Wissen über Flugblätter. Seit 1821 betrieb er die Ratsapotheke in Hameln. Dort starb der Entdecker des Morphiums am 20. Februar 1841 an den Folgen einer schmerzhaften Gicht.