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Der Enträtseler der Weltgeschichte

Für Leopold von Ranke war Geschichte eine "heilige Hieroglyphe". Sein Leben lang versuchte er, ihren Sinn zu entschlüsseln. Das ging so weit, dass er wünschte, sein "Selbst gleichsam auszulöschen".

Von Bernd Ulrich | 23.05.2011
    "ln aller Geschichte wohnt, lebet, ist Gott zu erkennen. Jede Tat zeuget von ihm, jeder Augenblick prediget seinen Namen, am meisten aber der Zusammenhang der großen Geschichte. Er steht da wie eine heilige Hieroglyphe."

    Bei der Abfassung des Briefes an seinen Bruder, aus dem die zitierten Sätze stammen, zählte Leopold von Ranke eben 25 Jahre. Der Sohn eines streng protestantischen Juristen, der wiederum einer langen Kette evangelischer Pfarrer entstammte, war zu jenem Zeitpunkt Lehrer am Gymnasium Fridericianum in Frankfurt an der Oder. Die erwähnte "heilige Hieroglyphe Geschichte" und deren Enträtselung sollten zum großen Lebensthema des Historikers und Urvaters der modernen Geschichtswissenschaft werden. Bereits 1817 hatte Ranke nach einem Studium der Theologie und Altphilologie mit einer Arbeit über den antiken Historiker Thukydides promoviert, und natürlich war seine Dissertation in geschliffenem Latein verfasst, das er - wie alle alten Sprachen -seit seiner Zeit auf der angesehensten der sächsischen Fürstenschulen, der Schulpforta bei Naumburg, perfekt beherrschte. In dem Briefzitat des jungen Lehrers in Frankfurt/Oder kündigte sich schon an, was er später so formulierte:

    "Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem eigenen Selbst."

    Damit war keineswegs eine gleichsam auf einen christlichen Fluchtpunkt zulaufende Heilsgeschichte gemeint. Und schon gar nicht das von Ranke vehement kritisierte Fortschrittsdenken der Aufklärung, das in seinen Augen die Vergangenheit nur insoweit wahrnahm und behandelte als sie auf eine bessere Zukunft verweisen konnte. Vielmehr ist "Gott" hier eine Metapher für eine ganze Fülle von Sinn in der Geschichte, für die göttliche Idee. Indem vor diesem Hintergrund "jede Epoche unmittelbar zu Gott" ist, kann überhaupt der spezifische Sinn, die jeweils einzigartige Individualität einer vergangenen Epoche erkannt werden. Dies gilt auch und gerade dann, wenn sie sich in ihrer so erkennbaren Sinnhaftigkeit von jener der Gegenwart vollständig unterscheidet und also einem anderen Entwicklungsprinzip folgt.

    Mit solchen methodischen Fragen hat sich der junge Ranke bereits in seinem ersten großen Werk auseinandergesetzt. Die "Geschichte der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535" erschien 1824 und brachte ihm ein Jahr später den Ruf als zunächst noch außerordentlicher Professor für Geschichte an der Berliner Universität ein. In diesem Erstlingswerk findet sich schon jene Sentenz, die gegenüber moralisch oder idealistisch begründeten Urteilen über die Vergangenheit darauf beharrt, dass alle Geschichtsschreibung vom empirischen historischen Objekt auszugehen hat:

    "Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen: So hoher Aemter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will bloß zeigen, wie es eigentlich gewesen."

    Dieser Anspruch auf absolute Objektivität schloss die erstmals von Ranke praktizierte Entdeckung und kritische Auswertung der Quellen in den Archiven ebenso ein, wie das völlige Zurücktreten des Historikers hinter seinen Gegenstand. In seiner sieben Bände umfassenden Englischen Geschichte im 16. und 17. Jahrhundert – sie entstand zwischen 1859 und 1868 – wurde Ranke noch deutlicher:

    "Ich wünschte mein Selbst gleichsam auszulöschen und nur die Dinge reden, die mächtigen Kräfte erscheinen lassen."

    Es waren solche Überzeugungen, die Rankes Ruf als staatstragenden und konservativen Historiker festigten, einem Historiker, dem alles Soziale als Wirkungskraft fremd blieb. Der Geschichtstheoretiker Jörn Rüsen:

    "Er war furchtbar obrigkeitsorientiert. Ich weiß nicht, wie viele Orden er vom Herrscherhaus bekommen hat und wie devot seine Briefe an den preußischen König waren. Aber es gibt bei Ranke zwei Züge, die auch in die Zukunft weisen, nämlich: Er war kein Nationalist und er war ein Europäer."

    Insbesondere letzteres ist Rankes konsequent europäisch vergleichender Geschichtsschreibung geschuldet. An ihr hat er Zeit seines Lebens gearbeitet - bis zu seinem Tod am 23. Mai 1886, sieben Monate vor seinem 91. Geburtstag.