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Der erste Amerikaner

Es war höchste Zeit, dass der "erste Amerikaner" endlich eine zeitgemäße Biographie erhält. Die letzte deutsche Biographie von Benjamin Franklin hat vor siebzig Jahren Eduard Baumgarten geschrieben, und das Buch des Verwandten Max Webers steckt voller Töne jenes Denkens, das 1936 in Deutschland herrschte. Dreihundert Jahre nach der Geburt des Buchdruckers, Erfinders und Diplomaten aus Boston, Massachusetts, seinerzeit auch in Europa der berühmteste Gründervater der USA, hat sich der Historiker Jürgen Overhoff nun der Aufgabe gestellt, das Leben dieser legendären Gestalt zu beschreiben. Gar nicht so leicht allerdings, diese Aufgabe zu lösen.

Von Uwe Pralle | 03.08.2006
    Obwohl sich heute in den westlichen Ländern viele als mehr oder weniger heimliche Amerikaner begreifen, ist nämlich erstaunlich, dass es von den naturwissenschaftlich ebenso wie historisch und politisch bedeutsamen Schriften Franklins kaum Übersetzungen gibt. Außerdem hat Franklin mit seiner Autobiographie an manchen Legenden von sich eifrig mitgestrickt. Erbauliche Selbstinszenierung war auch schon zur Gründungszeit der USA ein überaus beliebtes Geschäft.

    Wer eine Biographie im engeren Sinne erwartet, also neugierig auf die Lebensverhältnisse dieses ur-amerikanischen "Selfmademan" ist, wird von Overhoffs Buch kaum enttäuscht werden. Es zeichnet den Aufstieg des jüngsten Sohns eines Seifensieders zum erfolgreichen Buchdrucker, der später bahnbrechende Experimente zur Erforschung der Elektrizität unternahm und obendrein als einziger seinen Namenszug unter die vier entscheidenden Gründungsdokumente der Vereinigten Staaten von Amerika setzte, getreu nach. Dabei ist viel Wissenswertes und auch manch Neues über die Lebensstationen des Mannes zu erfahren, der den amerikanischen Traum als erster perfekt verkörperte, durch Fleiß, Gottvertrauen und Vernunft nach oben kommen zu können.

    Allerdings scheint Overhoff dem Bild von Franklin als Musterexemplar des puritanischen Geistes, das später Max Weber mitgeprägt hat, aber auch von Franklin selbst schon in seiner Autobiographie vorgebildet war, nicht allzu sehr zu trauen. Overhoff berichtet von den diversen Änderungen seiner religiösen Haltung, etwa nachdem der junge Franklin aus dem erzpuritanischen Boston ausgerissen war und ins von Quäkern dominierte Philadelphia ging, wo er als Geschäftsmann, Politiker und Erfinder sein Glück machte. Und auch auf Franklins zeitweise recht libertäre Lebenshaltung hat Overhoff hingewiesen, die kaum zum Bild vom strengen Puritanismus passt, etwa als er 1725-26 in London als Buchdrucker arbeitete, wo er ausgiebig die Rotlichtbezirke frequentierte, die Prädestinationslehre zur Rechtfertigung des Lasters bemühte, aber gleichzeitig seinen Arbeitskollegen den unter Druckern üblichen Genus von Starkbier auszureden versuchte wie ein Temperenzler und Gesundheitsapostel.

    Franklins facettenreicher Charakter und Lebensweg ist für jeden Biographen natürlich eine Einladung zum Erzählen, und allein die Fülle der Erfindungen des autodidaktischen Tüftlers, von einem neuen Ofenmodell über den berühmten Blitzableiter bis hin zur Glasharmonika, umfasst ein ganzes Kapitel der Biographie. Hinzu kommen seine gemeinnützigen Aktivitäten, denn als sich der schnell zu Reichtum gekommene Vierzigjährige aus dem Berufsleben zurückzog, hatte er längst eine Fülle politischer Aufgaben übernommen, als Abgeordneter, Rat-, Geld- und Ideengeber oder als Generalpostmeister aller Kolonien. Die Liste der Neuerungen, die auf ihn zurückgingen, ist so lang wie die der Erfindungen: öffentliche Bibliotheken, Krankenhäuser und Schulen, und in Philadelphia hat er sogar die erste Feuerwehr organisiert sowie eine Feuerversicherung eingeführt.

    Ein erzählerischer Selbstläufer in jeder Franklin-Biographie ist jedoch die Zeit seit den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts, als sich die Loslösung der Kolonien von England abzuzeichnen begann und er als Vertreter der Kolonien zuerst in London und später in Paris zur Schlüsselfigur der amerikanischen Unabhängigkeit wurde. Auch bei Overhoff liest sich diese Zeitspanne bis zu Franklins Tod 1790, nachdem er auf dem Verfassungskonvent in Philadelphia noch seine Unterschrift unter die erste bürgerliche Verfassung hatte setzen können, spannend wie die Chronik eines der magischen Momente der Weltgeschichte. Allerdings zeigt sich nicht erst hier, was Overhoffs Biographie letztlich nicht ist. Als Biograph kann man Benjamin Franklins Vita nämlich entweder als individuelles Schicksal betrachten, das von der historischen Landschaft eingefasst ist. Oder man nimmt sie als Fokus, um die Kräfte, Ideen und Mächte zu zeigen, die im 18. Jahrhundert zur Konstitution der Vereinigten Staaten von Amerika führten. Overhoff hat den ersten Weg gewählt und eher darauf verzichtet, tiefer in die höchst aufschlussreiche Historie der amerikanischen Kolonialzeit einzudringen. Weil die politische Vorgeschichte der USA so eher an den Rand gedrängt ist, bleibt aber reichlich Raum für ein illustratives Lebensbild von Benjamin Franklin.

    Jürgen Overhoff, Benjamin Franklin. Erfinder, Freigeist, Staatenlenker.
    Klett-Cotta, 314 Seiten, Euro 24,50