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Der erste Gaskrieg

Heute vor 90 Jahren kam es an der Westfront des Ersten Weltkriegs zum ersten großen Einsatz von Giftgas. Ein Rüstungswettlauf um die Entwicklung immer giftigerer Stoffe setzte ein. Die chemische Kriegführung hatte begonnen und war in ihren verheerenden Folgen nicht mehr aufzuhalten. Tausende von Menschen verloren das Leben oder die Gesundheit.

Von Bernd Ulrich | 22.04.2005
    Die deutschen Zeitungen jubelten in jenen Tagen des April 1915:

    "Großer Sturm in der Nähe von Ypern! Das ist doch mal ein richtiger Bissen! Die Gegner beschweren sich sehr über deutsche Rauchgeschosse, als ob sie nicht selbst jedes Mittel benutzten, das sie erlangen können. Chemisch freilich werden wir ihnen wohl über sein."

    An dieser Meldung war so gut wie alles falsch. Aber die Mitteilung, an der zum Stellungskrieg erstarrten deutschen Westfront bewege sich etwas, war Sensation genug, um in allen deutschen Zeitungen gefeiert zu werden. Von Rauchgeschossen indessen, von chemischer Kriegführung wird die Mehrheit der deutschen Heimatfront bis dahin kaum etwas gehört haben.

    Dabei hatte zunächst alles wie gewohnt begonnen. Am Morgen des 22.April 1915 setzte das deutsche Trommelfeuer ein. Es konzentrierte sich auf ein Gebiet in Westflandern, nördlich der belgischen Stadt Ypern. Erst am späteren Nachmittag ließ das Feuer allmählich nach, sicheres Zeichen für die hier liegenden französischen und algerischen Soldaten, dass der deutsche Angriff unmittelbar bevorstand. Aber statt deutscher Infanteristen wurde gegen achtzehn Uhr eine gelbgrüne Wolke sichtbar. In einer Breite von fast sechs Kilometern bewegte sie sich langsam, aber stetig mit dem Wind auf die französischen Gräben zu. Es handelte sich um Chlorgas, abgelassen aus über 5000 Stahlflaschen, die ein spezielles Gasbataillon Tage zuvor eingegraben hatte. Ersonnen und organisiert worden war dieser erste große Giftgaseinsatz von Fritz Haber, seines Zeichens Direktor des Kaiser-Wilhelm-Institutes für Physikalische Chemie in Berlin. Ein deutscher Offizier charakterisierte ihn so:
    Zitat:

    "In glühendem Patriotismus bewies er bei der Erprobung der chemischen Massenvernichtungsmittel Kaltblütigkeit, Unerschrockenheit und Todesverachtung."

    Das von Haber empfohlene Gas verätzte die Atemwegsorgane. Es war ein Gefühl, so ein Überlebender, als kotze man seine Lunge stückweise aus. Eine Wirkung, die durch Beimischung von Phosgen noch verstärkt werden konnte. Fast 1200 alliierte Soldaten sterben an diesem Tag daran, 3000 Männer überleben die Einatmung und bleiben mitunter ihr Leben lang geschädigt.

    Man muss nicht so weit gehen wie der Kulturphilosoph Peter Sloterdijk, der kürzlich den 22.April 1915 ein "Zentraldatum der jüngeren Weltgeschichte" nannte, weil

    "mit dem Ereignis von Ypern der Terrorismus als Element des staatlichen Normalkrieges eingeführt worden ist. Im Gaskrieg vollzog sich die Umstellung vom direkten Angriff auf den Feind zum Angriff auf die Umwelt des Feindes, auf seine Atemluft."

    Kriegsentscheidend war die am 22.April 1915 beginnende chemische Kriegführung jedenfalls nicht. Geschätzte 90.000 Tote auf allen Seiten durch etwa 115.000 Tonnen abgelassene oder verschossene Giftgase waren in der nach Millionen zählenden Todesbilanz der Urkatastrophe vernachlässigbar. Aber die so unheimliche wie demoralisierende Wirkung der Gase verdeutlichte mehr als andere Waffen den radikal neuen, Menschen zu Ungeziefer degradierenden Charakter des Maschinenkrieges. Bis 1918 folgten über 400 weitere Einsätze mit flüssigem Gas, das aus Tonnen oder Luftdruckzylindern abgelassen wurde.

    Die starke Abhängigkeit von der Windrichtung und die mögliche Gefährdung eigener Truppen lenkte das militärische Interesse bald auf die Entwicklung gasgefüllter Artilleriemunition – und immer gefährlichere Gifte. Die sogenannten "Grünkreuz"-Gase etwa waren als Lungengifte für etwa 80% aller tödlichen Gasverletzungen verantwortlich. Von der deutschen Armee wurden im Juli 1917 zudem erstmals "Blaukreuz"-Kampfgase verschossen. Diese Gifte - im Militärjargon auch "Maskenbrecher" genannt - durchdrangen die damals üblichen Gasmaskenfilter, reizten Augen, Nase und Mundschleimhaut und erzwangen das Abreißen der Gasmaske. Unmittelbar darauf wurde dann ein todbringendes Gas verschossen. Dieses sogenannte "Buntschießen" führte zu hohen Verlusten. Wilfred Owen, einer der bekanntesten englischen Kriegslyriker, hat die Opfer des Giftgases beschrieben:

    "Wenn auch Du in einem Deiner erstickenden Träume hinter dem Karren gehen könntest, in den wir ihn geworfen haben / und die weißen Augen anschaust / die in seinem Gesicht zucken, seinem zusammengesunkenen Gesicht, das dem eines Teufels gleicht, der vor Sünde krank ist, / aus seinen schaumverdorbenen Lungen kommen gurgelnd, obszön wie Krebs, bitter wie Galle, unheilbare, infame Übel auf unschuldigen Zungen. / Mein Freund, Du würdest nicht mit so viel Begeisterung den nach verzweifeltem Ruhm gierigen Kindern die alte Lüge zurufen: / Dulce et decorum est pro patria mori. "