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Der erste Transvestit

Dass ein hochdekorierter Offizier Frauenkleider trägt und darauf beharrt, mit "Madame la Chevalière" angeredet zu werden, war am Hof von Versailles eine Sensation. Charles Eon de Beaumont ging deshalb in die Fachbücher ein: "Eonismus" war unter den ersten Sexualwissenschaftlern der Terminus für Transvestiten.

Von Jochen Stöckmann | 21.05.2010
    "Unbegreiflich - was nicht begriffen werden kann, wozu der Verstand nicht ausreicht, um sich eine klare Vorstellung zu machen. So etwa das Geheimniss des Ritters d' Eon de Beaumont, wegen des Grundes seiner Verkleidung, indem man ihn für ein Frauenzimmer ausgab, und er sich auch weiblich kleidete, oder weibliche Kleidung anlegte."

    Ein Transvestit am französischen Hof - was da in einem Lexikon des 19. Jahrhunderts als "unbegreiflich" angeführt wurde, ist immer wieder ausgemalt, aber nie so recht erklärt worden: Mit tiefem Dekolleté, den Ludwigsorden zwischen üppigen Brüsten, präsentierte sich der skandalumwitterte Chevalier Eon de Beaumont auf zeitgenössischen Kupferstichen. Im eng anliegenden blauen Frack und mit verwegenem Blick schwingt er als Titelfigur einer japanischen Manga-Serie seinen Degen.

    Auch im wirklichen Leben brachte es Charles Eon de Beaumont, 1728 im Burgund geboren, zu einiger Berühmtheit: Als Botschaftssekretär in Sankt Petersburg. Dort soll er sich, so die bis heute nicht verbürgte Legende, in Frauenkleidern, als Vorleserin das Vertrauen der Zarin erschlichen haben. Ob Chevalier oder Chevalière - d'Eon bewies auf jeden Fall diplomatisches Geschick. Und wurde dafür belohnt - mit der Beförderung zum Offizier:

    "Den Feldzug von 1761 machte er als Dragoner-Hauptmann mit. Im Gefechte von Ultrop wurde er am Kopf und Schenkel verwundet. Bei Osterwick griff er ein preußisches Bataillon so kräftig an, dass es die Waffen streckte."

    Das war im Siebenjährigen Krieg - den Ludwig XV. dann an der Seite der russischen Zarin gegen Preußen und England verlor. Fortan war der französische König auf Revanche aus - und schickte seinen besten Mann nach London, den Chevalier d'Eon. Als Frau verkleidet soll er die Küste für eine französische Invasion ausgekundschaftet haben - angeblich.

    Belegt dagegen ist d'Eons aufwendige Haushaltsführung: Er war ja mehr als nur ein schlichter Gesandtschaftssekretär, agierte als Geheimagent. Ludwig XV. hatte den Offizier im sogenannten "secret du roi" aufgenommen, er war dem König direkt unterstellt - und damit hoffnungslos verstrickt in dessen Hofintrigen. Darauf verweist der Kulturhistoriker Roberto Calasso:

    "Das einzige Ziel, das Ludwig XV. in der Politik ständig verfolgte, war das der Verschwörung gegen die eigene Regierung. Die königliche Geheimpolitik war eine Art von Parallelpolitik, durch die sich Ludwig XV. oft in die Zwickmühle der eigenen Geheimnisse verstricken ließ."

    In der Zwickmühle saß auch Ludwigs Geheimagent in London: Außer Diensten und wegen seiner übermäßigen Ausgaben gerügt, hatte d'Eon in Frankreich mit Degradierung oder gar Haft zu rechnen. Die Affäre zog sich hin. Unterdessen kamen Gerüchte auf, bei dem seltsamen Franzosen handele es sich um eine Frau. Ganz offiziell wurden an der Londoner Börse Wetten auf sein Geschlecht abgeschlossen. Erst 1777, nach dem Tod Ludwig XV., konnte d'Éon nach Paris zurückkehren - als Frau, als Chevalière. So hatte er, beziehungsweise sie es ausdrücklich festlegen lassen in einem Vertrag, der den französischen Hof verpflichtete, für die Garderobe der Dame aufzukommen, die immer noch den Titel eines Hauptmanns der Dragoner führte. Nach der französischen Revolution von 1789 ließ d'Eon sich wieder in London nieder:

    "Er blieb in England, verlor als Emigrant seine Pension und musste aus Not seine Bibliothek verkaufen. Ja, er kam dahin, dass er die ihm aufgezwungene Sonderbarkeit als Erwerbsmittel benutzen musste, indem er in weiblicher Tracht Fechtstunden gab."

    So sehr ging d'Eon in seiner Rolle auf, das er anbot, im Krieg gegen Österreich ein Frauen-Bataillon ins Feld zu führen. Ein Angebot, das die Herren Revolutionäre dankend ablehnten, das aber den Gerüchten um seine wahre Identität weiter Auftrieb gab.

    "Am 21. Mai 1810 starb er. Aus der Totenschau, welche Thomas Copeland in Gegenwart der Herren Adair, Wilson und des Père Elisée, des ersten Chirurgen Ludwigs XVIII., vornahm, ergab sich, dass d'Eon vollständig ein Mann gewesen ist."

    So verschafften sich am Ende die Anatomen handfeste Gewissheit, d'Eons Psyche aber bleibt ein Rätsel, unbegreiflich.