Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Der EU-Kandidat Rumänien und seine Vergangenheit

Bukarest, 22. Dezember 1989. Der Diktator Nicolae Ceausescu hält seine letzte Rede. Er wird ausgepfiffen, flüchtet mit seiner Frau. Stunden später nimmt die Armee die beiden gefangen. Doch es ist nicht nur die Wut des rumänischen Volkes, die das Diktatorenehepaar hinweg fegt. Im Hintergrund zieht auch Ceausescus berüchtigter Geheimdienst Securitate die Fäden. Die Securitate will den verhassten Diktator loswerden, um selbst zu überleben. Drei Tage später, an Weihnachten, wird das Diktatorenehepaar insgeheim erschossen.

Von Keno Verseck | 11.05.2004
    Bukarest, heute. Eine graue, von außen unscheinbare Kaserne am Stadtrand. Sie gehört dem rumänischen Innengeheimdienst SRI, dem wichtigsten Nachfolge-Geheimdienst der Securitate. Einige Soldaten patrouillieren lässig vor dem Gebäude, abgemagerte Straßenhunde dösen in der Frühlingssonne. Innen befindet sich eine Art Hochsicherheitstrakt.

    Florin Pintilie schließt mit Spezialschlüsseln eine schwere, elektronisch gesicherte Panzertür auf und tritt in einen großen Saal, in dem ein Kilometer Akten lagert. Pintilie ist Hauptmann beim rumänischen Innengeheimdienst und Direktor des Archivs. Eines ganz besonderen Archivs - das der früheren Geheimpolizei Securitate. Pintilie spaziert zwischen den Regalen mit ihren graugelben Ordnern entlang.

    Hier steht ein Teil der Opferakten. Die Ordner enthalten Akten von Personen, die von der Securitate verfolgt wurden. Da stehen sie nun also, die Opferakten. Und stehen. Und stehen.

    Die Aufarbeitung der Securitate-Vergangenheit kommt nicht voran in Rumänien. Zwar gibt es seit vier Jahren eine Aktenöffnungsbehörde. Doch gerade einmal zweitausend Menschen konnten bisher ihre Securitate-Personalakte einsehen. Und veröffentlicht wurden die Namen von sage und schreibe sechsundvierzig ehemaligen Securitate-Offizieren. Ganze sechsundvierzig von etwa 80.000 hauptamtlichen Securitate-Mitarbeitern, die hunderttausende Spitzel betreuten und Millionen Personalakten anlegten.

    Warum ist die Bilanz so dürftig? Zieht die Ex-Securitate im Jahr Fünfzehn nach dem Sturz Ceausescus noch immer die Fäden?
    Hauptmann Florin Pintilie möchte darauf nicht antworten. Nur eines möchte der Herr der Akten klarstellen:

    Das Gesetz sagt ganz klar, dass die Aktenöffnungsbehörde alles Material übernehmen wird, das nicht die nationale Sicherheit Rumäniens berührt. Sicherlich wird die Behörde die Akten irgendwann übernehmen. Der Innengeheimdienst wehrt sich überhaupt nicht gegen die Übergabe der Akten.

    Die lange Geschichte um die Aktenöffnung und die Aufarbeitung der Securitate-Vergangenheit beginnt gleich nach dem Sturz Ceausescus. Schon damals forderten ehemalige Oppositionelle Zugang zu den Akten und legten den Entwurf eines Aktenöffnungsgesetzes vor. Doch es dauerte zehn Jahre, bis das rumänische Parlament das Gesetz verabschiedete. Ende 1999 trat das Gesetz in Kraft, im Frühjahr 2000 wurde eine Aktenöffnungsbehörde gegründet. Ihr Name: Nationaler Rat zum Studium der Securitate-Archive, abgekürzt CNSAS. Rumänien war damit das letzte EU-Kandidatenland, das die Öffnung der früheren Geheimdienstakten gesetzlich verankerte.

    Constantin Ticu Dumitrescu ist 75 Jahre alt und ein Mann mit traurigen Augen. Wegen seiner antikommunistischen Überzeugung verbrachte er unter der Diktatur zwölf Jahre in Gefängnissen und Arbeitslagern. Nach 1989 gründete er die Vereinigung der ehemaligen politischen Gefangenen Rumäniens und wurde Parlamentsabgeordneter der Bauernpartei. Er war es auch, der 1991 den ersten Entwurf eines Aktenöffnungsgesetzes ins Parlament einbrachte. Als das Gesetz Ende 1999 endlich verabschiedet wurde, blieb vom ursprünglichen Entwurf nur noch der Passus übrig, dass Betroffene das Original ihrer Securitate-Akte einsehen können. Ansonsten enthielt das Gesetz nichts mehr von dem, was Dumitrescu einst gewollt hatte.

    Mein Gesetzesprojekt wurde in seinen wesentlichen Teilen geändert. Deshalb sehe ich mich auch nicht mehr als Vater dieses Gesetzes. Ich wollte als Grundelement, dass die Geheimdienste die Securitate-Archive der Öffentlichkeit übergeben. Das ist nicht geschehen. Zum anderen wurde der Begriff der nationalen Sicherheit eingeführt. Damit behalten sich die Geheimdienste vor, jedes Dokument Seite für Seite zu überprüfen. Wenn sie glauben, dass etwas relevant für die nationale Sicherheit ist, geben sie es nicht heraus. Diese Änderungen bezwecken, das über die Securitate auch weiterhin nichts bekannt wird.

    Die Nachfolge-Geheimdienste der Securitate als Aufseher über den Prozess der Aktenöffnung. Schätzungsweise 60 Kilometer Akten müssten sie an die Aktenöffnungsbehörde übergeben. Doch eine Frist dafür ist gesetzlich nicht vorgesehen. Die Aktenöffnungsbehörde verfüge nicht über geeignete Räumlichkeiten, hören deren Mitarbeiter immer wieder. Eine Übergabe der Archive mitsamt Gebäuden und Logistik lehnen die Geheimdienste ab. Auch der Begriff "Nationale Sicherheit" ist im Gesetz nicht näher definiert. Welche Akten die Geheimdienste aus welchem Grund einbehalten - das erfahren die Mitarbeiter der Aktenöffnungsbehörde nicht. Ihnen sind seit der Gründung der Behörde vor vier Jahren ganze sechshundert Meter Material übergeben worden. Ginge es in diesem Tempo weiter, wäre die Aktenübergabe erst in einigen hundert Jahren abgeschlossen.


    Bukarest, eine Seitenstraße im Zentrum der rumänischen Hauptstadt. In einem schlichten Bürogebäude arbeiten die zweihundert Angestellten der Aktenöffnungsbehörde. Es sind wenige verglichen etwa mit den zeitweise 3.000 Mitarbeitern der Gauck-Behörde. Doch das ist nur der unbedeutendste Grund, warum die Aktenöffnung nicht voran kommt.

    So sieht es jedenfalls der 47-jährige Philosoph und Publizist Horia Roman Patapievici. Er ist einer der elf Leiter der Aktenöffnungsbehörde. Er habe vor vier Jahren wirklich an die Aktenöffnung geglaubt, erzählt Patapievici. Seither sind seine Haare ein wenig grau geworden - er sei wohl zu idealistisch gewesen, sagt er heute, und beschreibt an einem Beispiel, wie die Praxis der Aktenöffnung aussieht.

    Wir stellten einen Antrag, die Geheimdienst-Leute gingen in das Archiv und entschieden, was sie uns geben wollten. Das Material konnten wir nur im Beisein von Geheimdienst-Offizieren studieren, die uns überwachten. Ich hatte zum Beispiel eine Akte, bei der ich aufgrund des Inhaltsverzeichnisses bemerkte, dass vieles aus ihr fehlte. Ich fragte nach: Was ist mit dieser Akte geschehen? Die Antwort war: Wir haben absolut keine Ahnung.

    Nachdem Patapievici vier Jahre lang solche Situationen erlebt hat, fällt seine Schlussfolgerung knapp und bitter aus:

    Wir studieren nicht die Archive der Securitate. Wir prüfen nur das, was uns der Geheimdienst erlaubt, aus diesen Archiven zu erforschen.

    Solche Erfahrungen machen nicht nur die Mitarbeiter der Behörde, sondern auch Betroffene, die ihre Personalakte einsehen wollen. Einer, der das beantragt hat, ist der 39-jährige Historiker Marius Oprea. Dass er eine Securitate-Akte besitzt, davon ging Oprea selbstverständlich aus. 1988, als er in Bukarest Geschichte studierte, verteilte er zusammen mit Kommilitonen heimlich antikommunistische Flugblätter an der Universität. Die Securitate kam ihm und seinen Freunden auf die Spur. Oprea musste sich mehr als ein Jahr lang im Zwei-Wochen-Rhythmus zu Verhören mit der Geheimpolizei melden. Die Akten darüber konnte er jedoch bis heute nicht einsehen.

    Als die Aktenöffnungsbehörde gegründet wurde, habe ich beantragt, meine Akte zu sehen. Die Antwort des Innengeheimdienstes war, dass mein Name im Archiv der ehemaligen Securitate nicht auftaucht und dass es keine Akte zu meinem Namen gibt. Soweit ich gerüchteweise gehört habe, existiert eine Akte über mich. Die wird aber immer weiter geführt, weil ich angeblich eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstelle. Aus Sicht des rumänischen Innengeheimdienstes gäbe es Grund genug dazu.

    Marius Oprea ist einer der führenden rumänischen Spezialisten für die Geschichte der Securitate. Seit Jahren durchforstet er Archivmaterial, an das er oft nur auf verschlungenen Wegen heran kommt. Von 1996 bis 2000 war er Berater des christdemokratischen Staatspräsidenten Emil Constantinescu für Fragen der Vergangenheitsaufarbeitung. Damals musste Oprea erleben, wie Geheimdienstoffiziere ihn beim Präsidenten als ausländischen Spion anschwärzten - wohl weil er Kontakte zur Gauck-Behörde in Berlin hatte, vermutet er.

    Oprea glaubt, dass die Mitglieder der ehemaligen Securitate das politische und wirtschaftliche Leben in Rumänien bis heute entscheidend mitbestimmen.

    Worüber kaum richtig gesprochen wird, ist: Die Securitate wurde nach 1989 offiziell gar nicht aufgelöst. Sie existiert weiter - bloß unter anderen Namen. Und diejenigen ehemaligen Offiziere, die nicht in diesen neuen Geheimdienststrukturen sind, sind irgendwo im öffentlichen Leben untergekommen, im Parlament oder in der Verwaltung oder in zahlreichen Regierungsstrukturen.

    Letzteres zumindest ist kein Geheimnis. Gleich nach dem Sturz Ceausescus organisierten sich die verschiedenen Securitate-Abteilungen neu. Schon im März 1990 ist der rumänische Innengeheimdienst unter dem Namen SRI neu gegründet worden - und er verfügt bis heute über rund 90 Prozent des Securitate-Aktenbestandes. Die ehemalige Securitate-Auslandsabteilung DIE hingegen fungierte nach 1989 unter dem Namen SIE. Zeitweise gab es im postkommunistischen Rumänien bis zu einem Dutzend Nachfolgegeheimdienste der Securitate. Auf politischer Ebene fanden viele Securitate-Leute in der regierenden wende-kommunistischen Sozialdemokratischen Partei eine neue Heimat. Prominentestes Beispiel: Der Abgeordnete Ristea Priboi, ein ehemaliger Bukarester Securitate-Offizier, dem vorgeworfen wird, Gegner der Ceausescu-Diktatur verhört und misshandelt zu haben. Zum Sammelbecken für den ultranationalistischen Teil der ehemaligen Securitate wurde die "Großrumänien-Partei". Viele der technokratischen, gemäßigten Securitate-Offiziere hingegen sind heute erfolgreiche Geschäftsleute. So etwa Radu Tinu, der ehemalige Securitate-Chef des nordwestrumänischen Kreises Timis. Tinu war dort im Dezember 1989 für die Repressionen gegen Aufständische mit verantwortlich gewesen, als Soldaten der Armee auf antikommunistische Demonstranten schossen. Nach dem Sturz Ceausescus wurde Tinu mit Erdöl- und Zigarettengeschäften rasch ein reicher Mann.

    Das Schweigen der meisten ehemaligen Securitate-Offiziere ist eisern. Sie sprechen nicht über ihre frühere Arbeit. Nicht über die Mysterien beim Sturz Ceausescus, als bei inszenierten Straßenkämpfen immerhin tausend Menschen ums Leben kamen. Und auch nicht darüber, wie sie nach dem Ende der Diktatur in neue Schlüsselpositionen gelangten oder wohlhabend wurden.

    Beispiel Ristea Priboi: Der Ex-Securitate-Offizier und heutige Abgeordnete der Regierungspartei lässt sich am Telefon von seiner Sekretärin verleugnen. Mal ist er angeblich verreist, mal in einer dringenden Sitzung. Wenn man ihn auf den Fluren des rumänischen Parlamentes persönlich trifft, hat er es eilig. Rufen Sie mich noch einmal nächste Woche an, sagt er in barschem Ton und verschwindet.

    Ähnlich sein Kollege Ilie Merce von der ultranationalistischen Großrumänien-Partei. Der ehemalige Oberst der Securitate war einst damit beauftragt, die Intellektuellen- und Kulturszene zu bespitzeln. Wenn man ihn heute dazu befragen will, ist auch er meistens auf Reisen.

    Wiederum andere sagen frei heraus, dass sie über ihre Vergangenheit nicht sprechen wollen oder dass sie in Ruhe gelassen werden wollen. Manche fluchen am Telefon, wenn sie hören, worum es geht, oder legen einfach auf.

    Doch es gibt auch Ausnahmen. Zum Beispiel Dumitru Burlan, ehemaliger Oberstleutnant der Securitate und bis Dezember 1989 Chef von Ceausescus Leibwache. Der 65-jährige ist jetzt Rentner und lebt in einer bescheidenen Bukarester Neubauwohnung.

    Ständig wird gesagt, die Securitate ist noch immer überall, sie beherrscht das Land, sie macht ich weiß nicht was... Na und?! Seien wir doch mal ernsthaft. Waren die Securitate-Offiziere vielleicht dumm? Nein, sie waren sehr gut ausgebildete Leute, sie haben sich für das Land eingesetzt. Ah, dass einige von denen das und das gemacht haben. Na ja, einen Fisch ohne Gräten gibt es eben nicht.

    Dumitru Burlan hält wenig davon, dass Betroffene ihre Securitate-Akte einsehen können. Seine Begründung hat eine ganz eigene Logik.

    Man tut den Leuten menschlich damit nur Schlimmes an. Sie werden ihre Akten studieren und sehen, dass Freunde, ihnen Nahestehende und ihre eigenen Eltern sie bei der Securitate denunziert haben.

    Weit werde die Aktenöffnungsbehörde sowieso nicht kommen mit ihrer Arbeit, meint Burlan.

    Es tut mir leid, das sagen zu müssen: Einige der Führungsmitglieder der Aktenöffnungsbehörde sind naiv. Sie beschweren sich, dass man ihnen keine Akten gibt. Sie haben Akten bekommen, die nicht von besonderer Bedeutung waren, weder für sie noch für den Normalbürger. Wie sehr sich diese Ärmsten auch bemühen werden, die Akten zu bekommen, sie werden es nicht schaffen. Sie durchforsten, was ihnen der Geheimdienst zu geben bereit ist. Und das sind wohl auch frisierte Akten.

    Dumitru Burlan könnte Recht behalten. Die regierende Sozialdemokratische Partei will das Aktenöffnungsgesetz ändern. Über den Vorschlag diskutiert derzeit das rumänische Parlament. Der Entwurf sieht unter anderem vor, künftig alle Klarnamen von Dritten aus den Akten zu streichen, auch die von Securitate-Offizieren. Betroffene sollen nur noch anonymisierte Kopien der Originalakte einsehen dürfen. Die Aktenöffnungsbehörde soll außerdem unter die Aufsicht der parlamentarischen Kontrollkommission für die Geheimdienste gestellt werden. Und schließlich: Namen ehemaliger Securitate-Offiziere sollen nur noch dann veröffentlicht werden, wenn die Nachfolgegeheimdienste dem zustimmen. Sollte der Entwurf verabschiedet werden, so wäre das ein weiterer Punktsieg für die alten Geheimdienst-Seilschaften.

    Der Konflikt um die Akten reicht bis weit in die Reihen der Aktenöffnungsbehörde selbst. Ihr Leitungsgremium wird vom Parlament paritätisch besetzt. Die elf Mitglieder sind zwar parteilos, repräsentieren aber in gewissem Maße die Parlamentsparteien. Seit mehr als anderthalb Jahren erscheinen die drei Vertreter der Regierungspartei nicht mehr zu den Sitzungen des Leitungsgremiums. Vergangenes Jahr war die Behörde monatelang sogar beschlussunfähig, weil zu viele ihrer elf Leiter nicht zu den Sitzungen kamen - ausgerechnet, als es darum ging, erstmals Namen früherer Securitate-Offiziere zu veröffentlichen.

    Der Philosoph und Publizist Horia Roman Patapievici ist unter seinen elf Kollegen in der Minderheit - zumindest wenn er fordert, dass Rumänien seine Securitate-Vergangenheit rückhaltlos aufklären müsse. Wohl deshalb fällt seine Bilanz nach vier Jahren Arbeit so pessimistisch aus.

    Die Aktenöffnungsbehörde hat eine Niederlage erlitten, und zwar deswegen, weil es in der Behörde selbst große Differenzen darüber gibt, ob wir das Securitate-Archiv übernehmen sollen. Das ist, wenn man so will, ein großer Sieg der ehemaligen Securitate. Auch in ihrer Beziehung zu allen Institutionen des Staates ist unsere Behörde unterlegen. Denn keine Institution unterstützt die Idee, dass wir die Archive an Ort und Stelle übernehmen. Rumänien ist ein Staat, in dem die Geheimdienste bei allen Institutionen erfolgreich ihren Standpunkt durchsetzen.