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Der Fall der Mauer

09.11.1999
    Heinemann: Die dramatischen Ereignisse des Jahres 1989 mit der Massenflucht von DDR-Bürgern über Ungarn und den Leipziger Montagsdemonstrationen führten nach wochenlangen Diskussionen um ein neues DDR-Reisegesetz dazu, dass der Ost-Berliner SED-Bezirkschef Günter Schabowski am 9. November 1989 gegen 19 Uhr in einer etwas unklaren Formulierung überraschend die Öffnung der Grenze für ‚Privatreisen nach dem Ausland' bekanntgab. Wenig später begann ein Sturm der Ost-Berliner nach West-Berlin, es gab Freudenfeiern am Brandenburger Tor und auf dem Kurfürstendamm. Der Mauerfall ist heute also 10 Jahre her. Herr Dr. Kohl, wie haben Sie dieses Ereignis erlebt?

    Kohl: Ich war zunächst ganz ungläubig. Ich war zu einem Staatsbesuch in Warschau. Das war ein sehr schwieriger Besuch, aus vielen Gründen. In Warschau war gerade der erste demokratische Ministerpräsident ins Amt gekommen, aber General Jaruzelski - ein massiver Kommunist - war noch im Amt als Staatsoberhaupt. Ich war ja sozusagen bei beiden zu Besuch. Die Atmosphäre war sehr schwierig, zum Teil eisig. In diese Situation hinein kam diese Nachricht, und es war natürlich phantastisch. Mein ganzes Streben war dann, so schnell wie möglich nach Berlin zu kommen, und das Streben der Polen war, mich von Berlin fernzuhalten. Es war dann ziemlich unangenehm, und ich habe dann versprochen, dass ich wiederkomme, und zwar sofort, wenn die Dinge sich geklärt hätten. Das haben sie nicht geglaubt. Sie haben dann viele technische Schwierigkeiten gemacht. Ich durfte also nicht direkt fliegen, sondern musste dann über die Ostsee einen großen Umweg machen, musste dann nach Hamburg fliegen, denn mit unserer Bundeswehrmaschine konnten wir damals nicht nach Berlin fliegen. Der amerikanische Botschafter hat uns dann geholfen und seine Maschine nach Hamburg bestellt. So bin ich dann nach Berlin gekommen, 24 Stunden später.

    Heinemann: Es folgten hektische Wochen und Monate. Drohte die Einheit irgendwann einmal zu scheitern?

    Kohl: Ich würde so sagen: Wenn die Einheit nicht in den darauf folgenden Monaten durchzusetzen gewesen wäre und es wäre ein langer Zeitraum eingetreten an Verhandlungen, dann mag es sehr wohl sein - vielleicht ist es sogar wahrscheinlich - dass das Tor, das sich etwas geöffnet hatte, wieder zugefallen wäre.

    Heinemann: Der französische Staatspräsident Mitterand hat noch im Dezember 89 dem Regime in Ostberlin seine Aufwartung gemacht. Auch die britische Premierministerin Thatcher war nicht gerade begeistert über die Entwicklung in Deutschland. Waren Sie enttäuscht über die Reaktionen dieser europäischen Partner?

    Kohl: Nein. Zunächst einmal war es ja so, dass alle in der NATO und auch in der EG - das war damals ja die EU von heute - irgendwann den Deutschlandvertrag oder bei anderer Gelegenheit unterschrieben hatten, dass sie für die Deutsche Einheit sind. Aber alle, die da unterschrieben hatten, waren der Meinung, das ist irgendwann in ferner Zukunft - bei den Enkeln oder gar bei den Urenkeln. Dann jedoch kam wie das Frühjahrsgewitter über ein zugefrorenes Wasser der Sturm und fegte das alles auf. Und das war natürlich für viele ungeheure und nicht nur eine positive Überraschung. Viele haben natürlich auch gedacht: Das darf man nicht vergessen, was Deutschland anderen angetan hat. Zum Zeitpunkt des Falles der Mauer lebten in Deutschland und in Europa gut ein Drittel der Bürgerinnen und Bürger, die noch den Krieg und das Dritte Reich erlebt hatten und die Folgen. Ein Land wie Großbritannien hat seine Existenz praktisch mit eingebracht und hat eine weltpolitische Rolle zum Teil mit zerstört durch die enormen Opfer, die sie bringen mussten im Kampf gegen Hitler. Und das führte dazu, dass Margaret Thatcher in einer solchen Stimmung voller Zorn sagte: "Zweimal haben wir sie geschlagen und sie sind jetzt wieder da!" Aber das ist nur die Seite nach außen. Ich meine nur, wenn man über die Ausländer redet, muss man vor allem darüber reden, dass sie nach Deutschland hineingeschaut haben. Sie haben ja unsere Zeitungen gelesen und unser Fernsehen gesehen, und da war es ja nun so, dass ein beachtlicher Teil der sogenannten deutschen Oberschicht die Einheit längst aufgegeben hatten. Also, die Mauer hat viele nicht so begeistert. Dann war da eine zweite Gruppe, ein zweites Drittel, die waren dagegen. Manche - und nicht wenige - waren Verräter an der Idee der deutschen Einheit . . .

    Heinemann: . . . wen meinen Sie? . . .

    Kohl: . . . im Bereich der Politik, im Bereich der Publizistik, Sie brauchen ja nur mal die Zeitungen von damals nachlesen. Und das Ganze hat natürlich zu der Folge geführt, dass wiederum andere sagten: ‚Weil wir den Krieg verloren haben' - diese Meinung gab es zum Teil in den Kirchen - ‚haben wir jetzt das Opfer zu bringen, sozusagen als Sühne für die Verbrechen von Auschwitz und vielem anderen mehr'. Dann gab es eine dritte Gruppe, das war wohl die kleinste von den drei Dritteln, da war ich sozusagen der Anführer davon - im Blick auf breite Schichten der Bevölkerung, auch im Ausland -, die haben gesagt: ‚Die Idee der Einheit darf nicht aufgegeben werden'. Und wir haben dafür gekämpft. Aber ich hätte auch nicht daran gedacht im Sommer 1989, dass das so schnell geht, sondern ich dachte auch, das geht in längeren Zeiträumen noch.

    Heinemann: Herr Altbundeskanzler, zehn Jahre danach: Mehr als 40 von 100 Ostdeutschen wählen nicht, jedenfalls nicht bei den letzten Wahlen. 20 Prozent wählen die Nachfolgepartei des Regimes von damals. Drückt sich darin auch die Enttäuschung derjenigen aus, die keinen Zutritt haben zu den ‚blühenden Landschaften'?

    Kohl: Ja, da gibt es viele Gründe. Erstens einmal gibt es natürlich die ‚blühenden Landschaften'. Das bestreitet ja inzwischen ernsthafter weise eigentlich niemand. Sogar führende Leute der PDS bestreiten das nicht. Es ist sehr viel schwieriger, als wir uns das vorgestellt hatten. Wir haben 1990/91 eine Perspektive gehabt, die sich leider nicht - man kann auch sagen: Gott sei dank nicht - erhalten hat. Das ‚leider' bezieht sich darauf, dass die Möglichkeiten der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen den Betrieben der damaligen DDR und der Nachfolge der neuen Länder mit den sowjetischen Betrieben über Nacht mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion weggebrochen ist. Wenn wir diese alte Tradition von 40 Jahren gehabt hätten, hätten wir die großen Betriebe in Arbeit und Brot halten können, denn die Produktion der Betriebe der DDR war überhaupt nicht auf den Weltmarkt ausgerichtet. Sie war völlig aus- und eingerichtet auf die enge Kooperation vor allem mit sowjetischen Betrieben. Das heißt - man muss es so sagen: Der Zusammenbruch des Kommunismus in Moskau ist für die Welt eine phantastische Sache gewesen, ein Glücksfall. Für uns in der Ökonomie - vor allem der großen Betriebe der neuen Länder - war die Voraussetzung entfallen, dass wir dort hin liefern konnten und liefern können. Aber zurück zu dem Thema der PDS-Wähler. Ich glaube, was wir jetzt brauchen, ist Geduld und eine kämpferische Auseinandersetzung mit der PDS, damit die Leute erkennen, wer das ist - aber keine Beschimpfung der Wähler. Einer der Gründe, warum das solch eine Entwicklung genommen hat, besteht ja auch darin, dass die Sozialdemokraten in ihren alten klassischen Hochburgen praktisch versagt haben. Ich habe 1990 fest damit gerechnet, dass in Sachsen und Thüringen - die alten SPD-Hochburgen der Weimarer Zeit und nach dem kaiserlichen Deutschland - die Sozialdemokraten stärkste Partei werden. Dass sie nicht einmal mehr 20 Prozent in Thüringen haben, dass sie in Richtung auf eine Splitterpartei gehen, das hätte ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht einfallen lassen. Aber die PDS wird nicht die bestimmende Partei in Zukunft sein, darüber gibt es ja auch gar keinen Zweifel. Es dauert seine Zeit, und wir müssen uns kämpferisch mit der PDS auseinander setzen. Nein, ich bin da nicht pessimistisch.

    Heinemann: Sollte es eine Amnestie für diejenigen DDR-Regierungskriminellen oder Stasi-Leute geben, die nicht an Tötungsdelikten beteiligt waren?

    Kohl: Ich weiß nicht, ob der Begriff ‚Amnestie' in diesem Zusammenhang richtig ist. Ich habe schon 1990 überlegt, was man in einem solchen radikalen geschichtlichen Einbruch machen kann. Man muss ja sehr unterscheiden zwischen denen, die wirklich Täter waren und denen, die Mitläufer waren. Ein solches Gespräch war damals völlig unmöglich, weil natürlich, wenn man über die Zeit redet, man auch über Bautzen und Waldheim reden muss. Und wenn Sie einmal in Waldheim oder in Bautzen waren und haben die Gefangenenkäfige gesehen, dann kommt Ihnen nicht der Gedanke, dass man jetzt sagen kann: ‚Wir machen eine Amnestie'. Wir sind zehn Jahre weiter gegangen, und ich neige sehr dazu, dass man keine pauschale Regelung trifft, aber im Einzelfall man überprüft, was man tun kann, um auch Gnade vor Recht gehen zu lassen. Wenn ich das so ausspreche, muss ich immer daran denken: Wie wirkt das auf Menschen, die um ihr Leben gebracht wurden - in dem Sinne, dass sie keine Ausbildung erfahren haben, dass man ihre Begabung untergrub - nur weil sie Pfarrerskinder waren oder abstammten von Regimegegnern -, dass sie ihr normales Lebensglück so nicht finden konnten. Man muss die beiden Seiten sehen.

    Heinemann: Welchen Anteil hatten die Bürgerrechtler der ehemaligen DDR an der Öffnung der Mauer und am Zusammenbruch des SED-Regimes?

    Kohl: Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Teil gewesen. Wenn ich allerdings über die Bürgerrechtler rede, muss ich wiederum das Gesamttableau in Erinnerung bringen. Mit der Wahl Gorbatschows zum Generalsekretär war ein neuer Mann gekommen, der, nachdem er sozusagen mal alles studiert und die Lage seines Landes zur Kenntnis genommen hatte, also eine Art Inventur gemacht hat, zu dem Ergebnis kam: Mit der Hochrüstung geht das Land kaputt. Also muss ich abrüsten, also muss ich Abrüstungsverhandlungen machen. Und das war - wenn Sie so wollen - entscheidend für alles. Ohne die Abrüstungsverhandlungen, ohne die Position von Gorbatschow und seines Partners Bush - ein weiterer Glücksfall - wäre die deutsche Einheit mit absoluter Sicherheit nicht gekommen. Und zu dem Bild gehört auch das, was in anderen Ländern geschehen ist. Also, da waren die Ungarn. Die sind 56 von Panzern niedergerollt worden, aber sie haben nicht aufgehört. Es war ja kein Zufall, dass die Ungarn dann die Grenze geöffnet haben. Oder da waren die Tschechen und Slowaken im Prager Frühling 79, die ähnliches erlebt haben, aber Václav Havel und die Seinen sind nicht untergegangen. Und war vor allem die polnische Solidarnoc, die es fertiggebracht hat, einfach weiterhin die Fahne zu hissen und zu singen ‚Noch ist Polen nicht verloren'. Und mit dieser Solidarnoc ist ja dann zu allererst in einem kommunistischen Staat eine demokratische Entwicklung eingeleitet worden. Es war übrigens noch ein wichtiges Argument, dass just zu diesem Zeitpunkt ein Bischof aus Polen Papst geworden ist. Er hat seine moralische Kraft für die Solidarnoc eingesetzt. Ich bin sicher, ohne diese Unterstützung hätten sie ihr Ziel nicht erreicht. Die Menschenrechtsdiskussion, die ja aus den Helsinki-Beschlüssen kam, setzte sich langsam in Bewegung. Und dann kam der große persönliche Mut von vielen Männern und Frauen, die man auch heute gar nicht genug rühmen kann, die also hier in der DDR ihr klares ‚nein' für das Regime setzten.

    Heinemann: Herr Kohl, wie sollte man künftig an die SED-Diktatur erinnern, ohne dass sich Menschen genötigt sehen, wegzuschauen?

    Kohl: Ganz nüchtern. Ich glaube, man soll nichts übertreiben, sondern einfach ganz nüchtern sagen, was ist. Und zwar auch die andere Seite. Es ist ja nicht so, dass in diesen 40 Jahren alles nur schlecht war. Das ist der größte Fehler, den man machen kann. Man kann ein oder zwei Generationen nicht vorwerfen, dass alles nichts war, was sie gemacht haben. Kein Mensch will eine Bilanz haben für einen Großteil seines Lebens, in der bescheinigt ist: ‚Es hat alles nichts getaugt, Du hast umsonst gelebt'. Das ist tödlich. Dementsprechend finde ich, soll man die Sache sagen, wie sie wirklich ist - was dort geschehen ist, auch an Positivem, auch beim Wiederaufbau, und soll das andere auch sagen, dass man eben nur eine Freiheit in der Demokratie haben kann und dass das Regime doch schon sehr brutal war.

    Link: (Jürgen Schmude, Präses der Synode der Evangelischen Kirche Deutschlands: Kirche und Wiedervereinigung (8.11.99)==>/cgi-bin/es/neu-interview/450.html)