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Der Funke zum Flächenbrand

Die Fernsehbilder von jungen Palästinensern, die mit Steinen und anderen Gegenständen auf israelische Soldaten zielten, gingen damals um die Welt. Am 9. Dezember 1987 meldeten die Nachrichten den ersten Toten. Erst später erhielt der Aufruhr den Namen Intifada, was soviel wie "abschütteln" bedeutet. Was als Kleinkrieg im Westjordanland und im Gazastreifen begann, mündete bald in offene Gewalt.

Von Hans-Joachim Wiese | 09.12.2007
    Der Funke, der die Explosion auslöste, hatte eine vergleichsweise banale Ursache: einen Verkehrsunfall. Nachmittags war ein israelischer LKW im Gazastreifen mit einem Auto zusammengestoßen. Vier Palästinenser, sie befanden sich auf dem Heimweg von der Arbeit in Israel, waren sofort tot.
    Unverzüglich machen Gerüchte die Runde, tauchen Flugblätter auf, dass es kein Unfall gewesen sei, sondern Mord: Rache für den Tod eines Israeli, der zwei Tage zuvor in Gaza umgebracht worden war. Noch am selben Abend protestieren palästinensische Jugendliche vor einem israelischen Militärposten im Flüchtlingslager Jabalya. Am nächsten Morgen ist der Posten von tausenden Demonstranten belagert, die Situation wird immer bedrohlicher.

    Steine fliegen, die israelischen Soldaten feuern Tränengasgranaten ab, dann fallen scharfe Schüsse. Sie treffen den 15-jährigen Hatem al Sissi. Er ist an diesem 9. Dezember 1987 der erste Tote der ersten Intifada. "Mit unseren Seelen und unserem Blut werden wir die Märtyrer befreien", rufen die wütenden Demonstranten. Wie ein Flächenbrand verbreiten sich die Unruhen in den von Israel besetzten Gebieten, erfassen den gesamten Gazastreifen, die Westbank und Ost-Jerusalem.

    Eine zentrale Führung gibt es zunächst nicht, die Spitze der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO um Jassir Arafat sitzt im tunesischen Exil und hat nur wenig Einfluss auf das Geschehen - das erst später den Namen Intifada bekommt, was soviel wie "abschütteln" bedeutet. Nach 20 Jahren israelischer Besatzung wollen die Palästinenser ihre Unterdrücker endlich abschütteln.

    Die mächtige und kriegserprobte israelische Armee sieht sich plötzlich Steine werfenden Kindern und Jugendlichen gegenüber, die zum Jihad, zum heiligen Krieg aufrufen. Die erste Intifada - sie ist auch als "Krieg der Steine" bekannt geworden.

    Die israelischen Soldaten schlagen hart zurück. Die Weltöffentlichkeit reagiert schockiert auf Fernsehbilder, die sie dabei zeigen, wie sie einem palästinensischen Gefangenen Arme und Beine mit Felsbrocken zerschlagen. Folge einer ausdrücklichen Anweisung des damaligen israelischen Verteidigungsministers Yitzhak Rabin den Palästinensern die Knochen zu brechen. Fast täglich kommt es fortan zu gewaltsamen Zusammenstößen. Monatelange Streiks lähmen die palästinensische Wirtschaft. Wut und Verzweiflung machen sich immer häufiger in Terroranschlägen Luft.

    Israelis und Palästinenser sind gleichermaßen überrascht von den Ereignissen. Erst mit einem Abstand von 20 Jahren wird manches klarer, auch für den 46-jährigen Nabil Attala. Als junger Mann hat er den Beginn der Intifada im Flüchtlingslager Jabalya miterlebt, heute ist er Angestellter der Palästinensischen Autonomiebehörde im Gazastreifen.

    "Die Intifada war die Folge der langjährigen Unterdrückung des palästinensischen Volkes. Diese Situation brauchte nur einen Auslöser, dass es zur Massenerhebung kam."

    Die Bilanz der ersten Intifada ist niederschmetternd. In fünf Jahren sind rund 2000 Palästinenser ums Leben gekommen, darunter etwa 800, die als Kollaborateure von den eigenen Leuten umgebracht wurden. Auch rund 400 Israelis starben, Soldaten und Zivilisten. Zehntausende Palästinenser wurden verletzt, über 100.000 saßen häufig ohne Anklage in Haft. Jahrelang gab es keinen Schulunterricht. Streiks und Ausgangssperren lähmten die Wirtschaft. War es das wert? Nabil Attala meint: ja.

    "Erstens ist die Weltöffentlichkeit erst durch die Intifada auf das Palästinenserproblem aufmerksam geworden. Und am Schluss kam dann das Oslo-Abkommen. Das betrachte ich schon als positives Ergebnis."

    Der Aufstand habe den Palästinensern ihren Stolz und ihr Selbstbewusstsein zurückgegeben. Tatsächlich leitete er den sogenannten Oslo-Prozess ein, mit dem die erste Intifada nach rund fünf Jahren endete. Zum Erfolg hat dieser Prozess allerdings nicht geführt, im Gegenteil. Das sieht auch Nabil Attala so:

    "Ich glaube, wir sind derzeit weit entfernt von der Verwirklichung der Ziele der ersten Intifada."

    Seit mittlerweile sieben Jahren wütet die zweite Intifada, noch gewalttätiger, noch blutiger, noch verzweifelter, mit noch mehr Opfern auf beiden Seiten. Einem unabhängigen Staat auf der Westbank und im Gazastreifen mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt sind die Palästinenser nicht näher gekommen.