Freitag, 19. April 2024

Archiv


Der ganze Le Corbusier

Wer Charles Le Corbusier nur als kalt-rationalen Propheten der Trabantensiedlung sieht, der wird in der Ausstellung des Vitra Design Museums in Weil am Rhein eines Besseren belehrt. Der Mann war eine unfassbare Mehrfachbegabung: Maler, Zeichner, Städteplaner, Plastiker, Innenarchitekt und irgendwie dann auch Baumeister.

Von Christian Gampert | 03.10.2007
    Eine gut gearbeitete Schau auf das Gesamtwerk wäre nach 20 Jahren Pause ja schon genug. Noch besser ist es, dass die Forschung in der Zwischenzeit tatsächlich etwas herausgefunden hat. Zwei Aspekte sind es, die in Weil am Rhein besonders betont werden: die Frühphase des jungen Le Corbusier, der in seiner Heimatstadt La Chaux-de-Fonds im Schweizer Jura um 1900 den Beruf des Uhren-Graveurs erlernte. Sein Leben lang ist er ein enorm handwerklich arbeitender Künstler geblieben, egal, ob er Hauser entwarf, Möbel designte, Bilder malte oder Städte plante. Die Zeichnung war der Nukleus. Zweitens: der Theoretiker, der die Synthese vieler verschiedener Disziplinen anstrebte und in seiner Spätphase eine große Neugier auch auf technische Neuerungen entwickelte, der, was kaum bekannt ist, Filme drehte, um Anschauungsmaterial zu bekommen, der seine Gebäude nicht nur von der Lichtführung und Statik, sondern auch farblich und akustisch neu durchdachte und nebenbei bunte Großformate im Stil des kubistischen Picasso malte. Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich die Ausstellung, und wer Le Corbusier nur als kalt-rationalen Propheten der Wohnmaschine, des Massenhauses, der überzüchteten Trabantensiedlung sieht, der wird hier eines Besseren belehrt.

    Seine Entwicklungsschritte wirken leicht und folgerichtig: vom ornamentalen Jugendstil der Frühzeit zur funktionalen Industriearchitektur, die er in Deutschland kennenlernt und auf Wohnen und Stadtplanung überträgt. Die vielen Reisen zwischen 1910 und 1920, die Begeisterung für mediterrane und orientalische Kulturen, deren Formensprache er sehr viel später, ab den 1930er Jahren, aufnehmen wird. Seine Verirrungen allerdings sind dann ziemlich größenwahnsinnig: Die gesamte Küste der Stadt Algier mit einem einzigen, sich über die Hügel windenden langgestreckten Wohnhaus-Wall zu beglücken und dafür die halbe Kasbah abzureißen, das ist ein Gedanke, der erst einmal gedacht sein will. Natürlich ist nichts daraus geworden, gottlob. Die Inspiration kam ihm übrigens von den schön geschwungenen Leibern der arabischen Frauen, die er gezeichnet hatte. Aber viele Gebäude Le Corbusiers existieren nur virtuell und haben trotzdem Furore gemacht; manche Entwürfe wurden abgekupfert, umgemodelt, weiterentwickelt wie das UN-Hauptgebäude in New York, ein kühler Riegel für die globalisierte Welt. Wenn man Le Corbusiers Modell daneben stellt, sieht man: Es ist sein Haus.

    Das Vitra Design Museum hat schon viele großartige Ausstellungen zur Architekturgeschichte gemacht. Auch diese arbeitet mit dem ganzen Arsenal moderner Museumstechnik und -didaktik, mit Interieurs und Videos und exquisiten Objekten. Ein erster Teil erkundet Le Corbusiers Stadtpanoramen und Siedlungs-Ideen, Algier, Paris, ein irgendwie realsozialistisch anmutender Masterplan für "eine Stadt mit 3 Millionen Einwohnern", dann die schließlich 1964 realisierten Bauten im indischen Chandigarh. In einer zweiten Sektion sind Innenräume und Stahlrohrmöbel zu sehn, rührend wirkende Stahlfeder-Liegen als Körper-Silhouette, Küchen in Element-Bauweise, heute schon leicht zusammenschrumpelte Ledersessel aus abstrakten Formen, alles für ein klareres, schöneres, rationaleres Leben entworfen, das die Arbeit mit der Freizeit versöhnen sollte. Ein dritter Teil zeigt die Bauten von den weißen kubischen Villen und streng komponierten Wohnhäusern der 20er Jahre bis zu den organischeren, archaischeren Formen der späten Jahre, also etwa der Kapelle von Ronchamp.

    Der Mann war eine unfassbare renaissancehafte Mehrfachbegabung, Maler, Zeichner, Städteplaner, Plastiker (die Häuser waren ja Plastiken!), Innenarchitekt und irgendwie dann auch Baumeister. Die Ausstellung zeigt aber vor allem, wie es da denkt, dass da einer ständig probieren muss: Muscheln und Strandfelsen sind Inspiration für das Bauen; sie werden gefilmt, ebenso wie die Wellblechhütten der Favelas - von den Armen muss man lernen, Auch die Postmoderne hat Le Corbusier so nebenbei mitentworfen: der Philipps-Pavillon, den er 1958 für die Brüsseler Weltausstellung baute, war ein wellenartig bewegtes, zeltförmiges Gebäude, in vielem ein Vorfahr der Bauten des Frank Gehry. Innen wurde für die Besucher ein "Poème electronique" projiziert, eine kleine Weltgeschichte, eine Multimedia-Installation, entworfen von Le Corbusier. Im Vitra-Museum ist sie zu sehen. Dass er das auch konnte, haben wir nicht gewusst.