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Der Gott der kleinen Dinge

Mithu Sanyal: Sie werden ständig interviewt. Ich habe eine Menge Interviews mit Ihnen gelesen, bei denen immer wieder dieselben Fragen gestellt wurden. Was war die bisher dümmste Frage?

Mithu Sanyal | 03.02.1998
    Arundhati Roy: Die dümmste Frage wurde mir gestern gestellt. Jemand hat mich gefragt: Wem oder was verdanken Sie den Booker Price?

    Sanyal: Nun, vielleicht Ihrem Buch?

    Roy: Das war das Dümmste, bisher. Wissen Sie, was die ganze Aufmerksamkeit angeht, Leute, die über mich schreiben oder über meine Preise oder über mein Buch, das ist mir alles gar nicht so wichtig. Denn das wird vorbeigehen, das Buch aber bleibt. Die Leute werden aufhören, es zu kaufen, wenn es nicht eines von diesen Büchern ist, die von einem zum anderen weitergereicht werden - auf eine Rezension mehr oder weniger, einen Preis mehr oder weniger kommt es da nicht an.

    Sanyal: Und was war die intelligenteste Frage?

    Roy: Oh, das ist sehr kompliziert. Es bleibt dann natürlich nicht bei einer Frage, sondern wird zu einem Gespräch. Ich glaube, das beste Gespräch hatte ich in Norwegen, seltsam nicht wahr? Es war ein Journalist, der sich mit mir nur darüber unterhalten wollte, wie ich das Buch strukturiert habe, wie ich die Sprache benutze, alles das, was mir an dem Buch wichtig ist, und nicht dieser Blödsinn, ob es autobiographisch ist oder so.

    Sanyal: Die Sprache ist ja auch das besonders Auffällige an dem "Gott der kleinen Dinge", diese wuchernden Metaphern - nur wieso sagen sie dann andererseits ständig in Interviews, daß sich das so ganz nebenbei ergeben hätte, halt irgendwie ‘natürlich’, und daß sie gar keinen Gedanken daran verschwendet hätten?

    Roy: Wenn ich schreibe, denke ich auch nicht darüber nach. Ich denke nicht, oh ich will jetzt das oder das tun. Ich habe keine Liste, die ich abhake. Das ist wie malen, man schafft etwas, und es ist das, was man sich vorstellt - deine Welt, deine Bäume, und dein Fluß und dein Schnickschnack. Man zerpflückt das nicht in theoretische Aspekte.

    Sanyal: Sie wollen also nicht darüber reden?

    Roy: Wenn ich darüber rede, dann bin ich schon eine andere Person als die, die das Buch geschrieben hat. Und hinterher schaut man immer zurück, und die Leute fragen einen irgendwelche Dinge, und man versucht Antworten darauf zu geben, aber es ist doch alles Blödsinn.

    Sanyal: Okay, reden wir nicht mehr über die Sprache sondern über den Inhalt. "Der Gott der kleinen Dinge" fängt an, als die Katastrophe schon lange vorbei ist. Estha und Rahel, die Hauptfiguren, kommen zurück, schauen zurück und alle haben Angst, daß sie jetzt auch zurückschlagen. Wieso wehren sie sich nicht? Schließlich sind sie jetzt erwachsen, und sie könnten die Verantwortung für sich selbst übemehmen.

    Roy: Das ist kein Buch über Helden. Sie sind keine Politiker oder Vorbilder oder so. Sie sind einfach nur Menschen, die nicht damit umgehen können, was passiert ist. Je mehr sie darüber nachdenken, desto klarer wird ihnen, daß sie "ja" gesagt haben. Und auch, wenn man erst sieben Jahre alt ist, ist einem klar, daß man eine schreckliche Entscheidung getroffen hat. Das ist nichts, worüber man hinwegkomen kann. Ich sage das immer wieder. Sie leiden an dem Schmerz von jemand anderem, und deshalb können sie nicht von sich heraus damit aufhören.

    Sanyal: Die Kinder sind aber doch von der Polizei - und von ihrer Tante - dazu gezwungen worden, ihren Freund zu verleugnen. Sie haben die Wahl zwischen ihrem Freund und ihrer Mutter. Und sie versuchen, ihre Mutter zu retten.

    Roy: Sie werden in dieser Situation zu einer schrecklichen Wahl gezwungen, zu sagen. Ja, er hat es getan. Und sie haben es gesagt, und deshalb wachsen sie nicht mit dem Gefühl auf, Opfer zu sein, sondern Teil der Brutalität dieser Nacht. Und auf eine entsetzliche Art waren sie das ja auch. - Es gibt so viele von uns in Indien, die in einem System leben, mit dem sie nicht unbedingt übereinstimmen. Und man ist sich die ganze Zeit darüber im klaren, daß der Mechanismus, der dahinter steckt, schrecklich ist. Einfach nur die Tatsache, daß du lesen und schreiben kannst, ist so ein unglaubliches Privileg.

    Sanyal: Aber ist nicht eher die Passivität, mit der sie ihr Schicksal ertragen, das Problem? Weniger, daß sie einmal einen Fehler gemacht haben, als die Tatsache, daß sie jetzt gar nichts mehr tun?

    Roy: Nein, ich glaube nicht. Für mich geht es nicht darum, was die Figuren tun. Das, was passiert, liegt daran - nun es gibt zwei Dinge - da ist die Geschichte, und da ist die Art, wie die Geschichte erzählt wird. Und ich verrate ja schon im ersten Kapitel alles, was passieren wird. Meine Art die Geschichte zu erzählen wirft alles über den Haufen, ich meine technisch, also logisch hätte die Geschichte damit enden müssen, daß Velutha im Gefängnis stirbt. Aber dadurch, daß ich die Geschichte so enden lasse, wie ich sie enden lasse, ist die Aussage: Obwohl das, was passiert ist, entsetzlich ist, ist die Tatsache, daß es überhaupt passieren konnte, wundervoll.

    Sanyal: Es gibt noch eine andere berühmte indische Frau. Und zwar die ehemalige Banditin Pholan Devi. Ich habe gehört, daß sie an dem Film über ihr Leben mitarbeiten sollten. Und sie haben abgelehnt.

    Roy: Nicht mitarbeiten. Sie haben diesen Film gedreht, "Bandit Quenn", über Pholan Devi. Ich habe ihn gesehen. Und bei der Vorführung hat sich herausgestellt, daß die Filmgesellschaft nicht will, daß Pholan Devi den Film sieht. Da wurde mir klar, daß sie gar keinen Vertrag mit ihr haben. Ich fand den Film auch nicht gut, weil sie ihr Leben so verzerren, als würde es nur aus Vergewaltigung, Vergewaltigung, Vergewaltigung bestehen. Und als sie sich dann in den Medien dagegen gewehrt hat, bin ich zu ihr gegangen und habe ihr geholfen, vor Gericht zu gehen. Ich bin der Meinung, daß kein Regisseur das Recht hat, die Vergewaltigung einer lebenden Frau ohne ihre Erlaubnis zu verfilmen.

    Sanyal: Solche Aktionen und "Der Gott der kleinen Dinge" haben Sie zu einer Symbolfigur der Frauenbewegung in Indien gemacht. Sie werden auf der Straße von Frauen angesprochen und gefragt: "Was soll ich tun"? Wie gehen Sie mit dieser Verantwortung um?

    Roy: Ein Teil von mir fühlt sich sehr verantwortlich und ich will das nicht. Ich will kein Rollenmodell sein, und immer das Richtige sagen müssen, weil ich gar nicht weiß, was immer das Richtige ist.

    Sanyal: Meinen Sie, daß Sie überschätzt werden?

    Roy: Was die Leute in Indien so umhaut, ist ja gar nicht so sehr die Frauensache, die natürlich auch, sondern vielmehr die Tatsache, daß - wissen sie, alle bekannten indischen Schriftsteller haben in Cambridge oder Oxford studiert, und sie leben alle im Ausland, und dadurch entsteht irgendwie das Gefühl, daß nur in Indien aufzuwachsen und zur Schule zu gehen, einfach nicht reicht, daß man diesen bestimmten Einfluß aus dem Westen braucht, daß nur westliche Bildung etwas zählt - und dann taucht da plötzlich jemand auf, der all das nicht hat. Ich war die ganze Zeit in Indien. Meine gesamte Bildung ist von dort, und zwar noch nicht einmal von den besten Schulen oder Colleges. Und nun gibt es dieses plötzliche Selbstbewußtsein, daß man das alles ja gar nicht braucht.

    Sanyal: In Deutschland wird das Buch aber sehr klar in bezug auf die Frauenproblematik gelesen. Und das ist gerade der Grund, warum die Inder in Deutschland, die ich kenne, das Buch zwar auf der einen Seite sehr mögen - weil sie es wirklich für radikal halten - auf der anderen Seite aber Angst davor haben, daß die Deutschen, die es lesen, in all ihren Vorurteilen gegen Indien bestärkt werden. Dieses: "Das ist doch das Land, wo sie immer die Frauen verbrennen." Was sind die guten Seiten daran, eine Frau in Indien zu sein?

    Roy: Ich wüde um keinen Preis der Welt an einem anderen Ort leben wollen. Trotz der schrecklichen Unmenschlichkeit, gibt es dort diese tief empfundene Menschenliebe. Und es verändert sich im Moment einiges, gerade für Frauen. Allein, daß ich dieses Buch schreiben konnte, beweist das ja schon. Natürlich lebt man in Indien in vielen verschiedenen Jahrhunderten zur gleichen Zeit, und es gibt Teile, die einfach die Hölle sind, und natürlich habe ich das auch erlebt. Aber das ist meine Welt, in der ich mir meinen Platz geschaffen habe, und den würde ich für nichts anderes eintauschen. Und wenn die Leute nicht sehen, wieviel Freude in meinem Buch ist, und wieviel Glück und Nähe und Schönheit, dann haben sie die Hälfte davon einfach nicht mitbekommen.