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Der "Große Terror" neu aufgerollt

Zwischen 15 und 20 Millionen Menschen sind bei Verfolgungs- und Deportationsaktionen von Stalin ums Leben gekommen. Seit einiger Zeit wird angesichts dieser Dimensionen darüber diskutiert, inwieweit die Verbrechen unter Stalin auch im juristischen Sinn als Völkermord zu bewerten sind.

Von Niels Beintker | 25.07.2011
    In der Vollversammlung der Vereinten Nationen wurde in den Jahren 1947 und 48 eine bizarre Allianz geschlossen. Bei den Beratungen zur UN-Völkermordkonvention wollten politisch äußerst gegensätzliche Staaten wie die Sowjetunion auf der einen, Argentinien, Brasilien, der Iran und Südafrika auf der anderen Seite eine entscheidende juristische Festlegung um jeden Preis verhindern: Die Vernichtung einer politischen oder sozialen Gruppe sollte nicht als Genozid und damit als Verbrechen nach internationalem Recht bewertet werden, wie noch in der ersten Resolution von 1946 ausdrücklich gefordert. Tatsächlich wurde in dem endgültigen Konventionstext vom 9. Dezember 1948 Völkermord als eine Handlung bezeichnet, die – Zitat – "in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören". Der größte Teil der Verbrechen unter Stalin fiel somit nicht unter diese Bestimmung, urteilt der amerikanische Zeithistoriker Norman Naimark. Eine folgenschwere Festschreibung.

    Unter Stalins Herrschaft in den dreißiger und frühen vierziger Jahren starben viele Millionen unschuldiger Menschen, die entweder erschossen wurden, verhungerten oder den Tod in Haft und Verbannung fanden. Es ist höchste Zeit, diesem wichtigen Kapitel seinen Platz in der Geschichte des Genozids einzuräumen.

    Deshalb plädiert Norman Naimark dafür, ausdrücklich auch die systematische Verfolgung und Vernichtung von größeren politischen oder sozialen Gruppen als Völkermord zu bewerten – und damit den größten Teil der stalinistischen Verbrechen mit einem solchen breiteren Genozid-Begriff neu zu beurteilen. Die Kritik an der Unzulänglichkeit der UN-Völkermordkonvention eint Naimark mit etlichen Politologen und Historikern der Gegenwart, unter ihnen Daniel Goldhagen. Während dieser den Begriff Genozid durch die Formel "Eliminationismus" ersetzen will und ein allgemeines, mehrstufiges Modell zur Definition und zur Prävention künftiger Massenvernichtungen vorschlägt, spricht sich Naimark, mit Blick auf Stalins brutale Vernichtungsaktionen, für eine deutliche Erweiterung der bisherigen Konvention und damit des Völkermord-Begriffes aus. In manchen Fällen – etwa bei dem qualvollen Hungertod von drei bis fünf Millionen Menschen in der Ukraine oder bei der Erschießung von 22.000 polnischen Offizieren und Beamten in Katyn – wurden die Opfer vornehmlich aus politischen Gründen ermordet. Andere Aktionen wie die Enteignung und Deportation der unabhängigen Bauern entwickelten sich mit der zunehmenden Radikalisierung der stalinistischen Führung immer mehr zur zielgerichteten Ausrottung einer ganzen sozialen Schicht. Die sogenannten Kulaken wurden 1930 zu "Volksfeinden" erklärt und als "Ungeziefer" und "Abschaum" diffamiert. Während der ersten Verfolgungswelle wurden schätzungsweise 30.000 Menschen hingerichtet. Vermutlich zwei Millionen Menschen wurden nach Nordrussland und nach Sibirien deportiert – im Januar 1932 waren nach Berechnungen des russischen Geheimdienstes bereits 500.000 von ihnen tot oder geflüchtet. Norman Naimark zitiert aus dem Bericht eines niederen Beamten, der nach einer Beschwerde über die sozialen Zustände in einem Sonderlager in Westsibirien zurechtgewiesen wurde:

    Glauben Sie wirklich, diese Elemente seien zur Umerziehung hierher geschickt worden? Nein, Genosse, wir müssen es so einrichten, dass alle bis zum Frühjahr umgekommen sind. Aber wir müssen geschickt vorgehen – sie so kleiden, dass sie noch ein bisschen Holz fällen, ehe sie krepieren. Sie sehen ja selbst, in welchem Zustand sie hier ankommen, völlig zerlumpt, geradezu nackt, lädt man sie am Flussufer ab. Wenn sie der Staat wirklich umerziehen wollte, würde er sie ohne unsere Hilfe einkleiden!

    Aus der Sicht von Norman Naimark hat Stalin mit dem großen Angriff auf die Kulaken begonnen, um sie nicht nur metaphorisch als Klasse zu vernichten. Es ging ihm um die physische Vernichtung einer Gruppe von Menschen – seine perverse Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid der Deportierten und der Sadismus seiner Gefolgsleute sprechen dafür. Insofern, so Naimark, könne die Enteignung und Vertreibung der Bauern – in der deutschen Übersetzung mit dem schrecklichen Wortmonstrum "Entkulakisierung" umschrieben – als Völkermord angesehen werden. Und dieser ging in den folgenden Jahren weiter, im Zuge einer immer größeren Verfolgungspolitik. Bei den Wahlen zum Obersten Sowjet im Dezember 1937 sollte eine angeblich reine sozialistische Gesellschaft kollektiv zur Abstimmung antreten. Die Folge: Hunderttausende von Menschen wurden zu "sozialen Schädlingen" erklärt und kriminalisiert. Der berüchtigte NKWD-Befehl 00447 – von dem Osteuropahistoriker Karl Schlögel als ein Schlüsseldokument des 20. Jahrhunderts bewertet – bestimmte die Verurteilung zum Tod sowie die sofortige Deportation in die sibirischen Lager. Für alle Sowjetrepubliken wurden genaue Zahlen festgeschrieben: ein genau geplanter Gewaltexzess. Norman Naimark urteilt über diese behördlich angeordnete Aktion:

    Dies kann als besondere Art von Genozid angesehen werden, als Mord einer identifizierbaren Gruppe sozial "Andersartiger", die nicht in Stalins künftige sozialistische Gesellschaft passte.

    Die Verfolgungen, Deportationen und Vernichtungsaktionen der Jahre 1936 und 37 verdeutlichen zugleich die Vieldimensionalität der stalinistischen Verbrechen. In der gleichen Zeit tobte der sogenannte "Große Terror" – die umfangreiche innerparteiliche Säuberungswelle auf Stalins Geheiß. Man kann die unterschiedlichen Verbrechen nicht isoliert voneinander betrachten, sie waren immer Teil des Ganzen. Norman Naimark beschreibt die Grundzüge der einzelnen Verfolgungs- und Mordaktionen jeweils in einem eigenen Kapitel, benennt aber immer auch die Verbindungslinien. Die Argumentation des amerikanischen Historikers ist allerdings gelegentlich etwas holprig und nicht immer ganz stringent. So wird etwa, wie aus dem Zauberhut kommend, plötzlich Stalins vermeintliche Qualität als charismatischer Herrscher angeführt – und damit kurzzeitig ein Feld eröffnet, das für die grundlegende Frage gar nicht nötig ist. Zudem stolpert man als Leser immer wieder über die gelegentliche Unschärfe des Genozid-Begriffes, der einmal als Substantiv, dann wieder als Adjektiv benutzt wird, mal in Anführungszeichen verwendet wird, mal nicht. Die wichtige Thematik dieses ohne Frage sehr lesenswerten Essays hätte – aufs Ganze gesehen – eine noch stärkere und tiefer gehende Argumentation verdient.

    Genozid. Suhrkamp Verlag, 157 Seiten, 16,90 Euro
    ISBN: 978-3-518-42201-4