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Der große Unbekannte der lateinamerikanischen Literatur

Der Chilene Roberto Bolaño ist der große Unbekannte der lateinamerikanischen Literatur. Entspricht er doch ganz und gar nicht den erzählerischen Klischees, die man sich allzu gern von dieser Literatur macht: Mit den Lyrismen eines Pablo Neruda, den phantastischen Sprachwelten eines Julio Cortázar, dem magischen Realismus eines Gabriel García Márquez hat er nichts gemeinsam. Der im letzten Jahr fünfzigjährig verstorbene Bolaño fand seinen eigenen Rhythmus. Er verstand es, den Schrecken und das Schöne, das Geheimnisvolle und das Gewöhnliche wie selbstverständlich in überzeugende Bilder zu fassen. Der junge chilenische Schriftsteller Alberto Fuguet meint zu Bolaño:

Von Klaus Englert | 14.02.2005
    Am meisten lernte ich bei Bolaño, dass man über alles mögliche schreiben kann und dass es der großen Themen gar nicht bedarf. Mir kommt es vor, als seien wir auf die Welt gefallen, und er obenauf, und zwar mit einem Mordsgetöse. Seine Nähe zu unserer Generation ist äußerst groß, aber sein Einfluss beginnt erst heute.
    (El País, 23.10.04)

    Bolaño hatte niemals sein schwieriges Verhältnis zu seiner chilenischen Heimat überwunden. Er fühlte sich jener "dreizehnten Region" zugehörig, mit der Präsident Ricardo Lagos die außerhalb des Landes lebenden Chilenen bezeichnete. Tatsächlich resultierte diese Außenseiterstellung aus seiner bewegten Biographie: Bereits mit fünfzehn Jahren verließ Bolaño seine Heimat in Richtung Mexiko. Dort erlebte er 1968 den blutig niedergeschlagenen Studentenaufstand auf dem Zócalo. Der nun vorliegende Sammelband Telefongespräche enthält eine Erzählung, die seine Erinnerung an die Jugendzeit in Mexiko-Stadt aufgreift. Sie heißt "Der Wurm", handelt von einem höchst kauzigen Menschen aus Sonora und dem Gymnasiasten Arturo Belano, dem beständigen alter ego des Autors.

    Mit zwanzig, kurz vor dem Militärputsch von 1973, kehrte Bolaño nach Santiago de Chile zurück. Die Putschisten sperrten ihn ins Gefängnis, zwar nur für wenige Tage, doch die Erlebnisse waren traumatisch. In den Telefongesprächen kommen Schreckensherrschaft und Folterpraxis gleichwohl nur beiläufig vor, präsent sind sie allerdings in dem meisterhaft arrangierten Dialog zwischen zwei chilenischen Polizisten. Der nicht weiter informierte Leser könnte dabei meinen, es handelte sich um zwei ganz normale Polizisten, aber in Wirklichkeit - und dieser Hinweis fehlt leider in der deutschen Übersetzung - sind es die ranghöchsten Schlächter der Militärdiktatur: Jorge Arancibia, Chef der Heeresstreitkräfte, und Manuel Contreras, Chef des berüchtigten Geheimdienstes DINA. Beide unterhalten sich über den Arbeitsalltag - und plötzlich kommen, nach so vielen Jahren die "Alpträume" wieder hoch: Die Gedanken an die zahllosen Opfer, die - zur "Aufrechterhaltung der Ordnung" - ermordet wurden. Es tauchen die vergewaltigten Frauen wieder auf, mit denen man sich "gegenseitig einen Gefallen getan" hat, um "die Zeit totzuschlagen". Und zum Schluss des Gesprächs kommen die beiden auf einen ehemaligen Mitschüler zu sprechen, einen gewissen Arturo Belano, der das Pech gehabt habe, zur falschen Zeit von Mexiko nach Chile zurückgekehrt zu sein. Am Ende des Dialogs zeigt sich die Scheinheiligkeit dieser moralisch verkrüppelten Gestalten, die bis zum heutigen Tage ihre Verantwortung abstreiten:

    Ich fasste Bolaño um die Schultern und brachte ihn zurück in die Turnhalle. Als ich ihn drin hatte, kam mir der Gedanke, die Pistole zu ziehen und ihm auf der Stelle eine Kugel zu verpassen, wäre nicht schwer gewesen, ich hätte nur zu zielen und ihm eine Kugel in den Kopf zu jagen brauchen, selbst bei Dunkelheit war ich immer sehr treffsicher. Anschließend hätte ich irgendeine Ausrede erfinden können. Aber natürlich habe ich es nicht gemacht.

    Natürlich hast du es nicht gemacht. Wir machen so etwas nicht, Mann.

    Nein, wir doch nicht.

    Mit viel Glück kam Roberto Bolaño wieder frei, verließ Chile für immer, verbrachte einige Jahre in Mexiko und ließ sich nach dem Ende der Franco-Diktatur in Spanien nieder. An der Costa Brava fand er ein mühsames Auskommen mit Gelegenheitsjobs, betrieb die Schriftstellerei in heiterer Resignation. Von dieser Zeit berichtet die autobiographisch grundierte Erzählung "Sensini": Ein junger mittelloser Chilene versucht sein Glück bei irgendwelchen unbedeutenden Literaturwettbewerben, die ihn mehr schlecht als recht ernähren. Auch ein gewisser Sensini beteiligt sich an diesen Wettbewerben. Auf zunächst unerklärliche Weise fühlt sich der Chilene zu ihm hingezogen. Er erfährt, dass Sensini "der Diktatur von Videla und Konsorten" entfloh und seither zurückgezogen im spanischen Exil lebt. Den argentinischen Freund lernt er nur in einer brieflichen Korrespondenz kennen, bis man ihn schließlich mit Sensinis Tod konfrontiert, der in die Heimat zurückgekehrt war, um das Schicksal seines verschollenen Sohnes zu erforschen.
    Roberto Bolaños Erfolg kam erst spät, fast zu spät. Nach der Diagnose eines unheilbaren Leberleidens schrieb er mit der Krankheit um die Wette. In kurzen Abständen erschienen seine Bücher "Die Naziliteratur in Amerika", "Stern in der Ferne", "Telefongespräche", "Die wilden Detektive", "Amuleto". Und als ob dies noch nicht reichte, hinterließ er nach seinem Tode sein opus magnum: 2666 heißt das Buch, dessen fünf Kapitel Bolaño eigentlich getrennt veröffentlichen wollte, um die Zukunft seiner Kinder zu sichern. 1.125 Seiten umfaßt das gerade in Spanien publizierte Mammutwerk.

    So weit zur fast wahnhaften Produktivität des Roberto Bolaño. Ähnlich wahnhaft kommen einem die verstörten Figuren in "Telefongespräche" vor, jene Menschen, von denen man meint, sie driften zunächst unmerklich und dann immer verhängnisvoller dem Abgrund entgegen. Diese "mise en dérive" inszeniert Bolaño meisterhaft in der abschließenden Erzählung "Anne Moores Leben". Von dieser Anne Moore heißt es zu Beginn, schon mit zehn Jahren habe sie "das kohlschwarze Gesicht der Wirklichkeit" gesehen. Ihre ruhige Kindheit bekam plötzlich einen tiefen Riß, und hernach war nichts mehr wie zuvor. Ihre Lebensstationen beschreibt Bolaño als zielloses Schweifen auf dem Orbit des Daseins: Niemals findet sie zur Ruhe - mal ist sie Hippie in Kalifornien, dann Aussteigerin Mexiko, Hausfrau in Seattle und Sprachlehrerin in Katalonien. Ihr Familienname Moore reimt sich auf "more" - mehr Wohnorte, mehr Jobs, mehr Liebhaber. Diese heillose Drift, der das Leben zusteuert, entspricht Bolaños sprachlicher drive. Entsprechend heißt es:

    Die folgenden Jahre waren viel zu schnell. Es gab zu viele Männer, zu viele Jobs, zu viel von allem.

    Und schon entwickelt sich die nächste Liebesgeschichte. Nach ihrem schnellen Ende heißt es lakonisch:

    Die Dinge hatten sich eben so entwickelt, irgendwann erlischt die Liebe, und wer weiß, ob es Liebe war, was sie verbunden hatte.

    Die soghafte Wirkung von Bolaños Sprache zeigt sich auch in der kleinen titelgebenden Erzählung. Dass die Morde und Katastrophen geradezu beiläufig beschrieben werden, macht die Figuren keineswegs sympathischer. Denn das wirklich Unfaßbare spielt sich in ihrem Innern ab. Etwa in B, der über das Schicksal seiner getöteten Geliebten X nachdenkt. Unzweifelhaft erkennen wir in B das Kürzel für Belano alias Bolaño. Bisweilen erinnert die abgründige Sprache an Borges:

    B träumt von einer Wüste, träumt von dem Gesicht von X, kurz bevor er aufwacht, wird ihm klar, dass beides dasselbe ist. Die Schlußfolgerung fällt ihm nicht schwer, er hat sich in der Wüste verirrt.

    Man möchte mit Alberto Fuguet wünschen, dass Bolaños Erfolg noch bevorsteht. Die spanische El País prophezeite im letzten Herbst, der Sturm Bolaño werde über das Land hinwegfegen. Vielleicht trifft diese meteorologische Voraussage ja auch auf Deutschland zu. Aber zunächst müßte ein Verlag den Mut finden, den Roman 2666 zu übersetzen.

    Roberto Bolaño: Telefongespräche. Erzählungen, aus dem Spanischen von Christian Hansen, Hanser Verlag, München 2004, 237 S., 19,90 Euro.