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Der Grundstein der Vereinten Nationen

Freiheit der Völker, freier Handel: Unter strenger Geheimhaltung trafen sich Winston Churchill und Franklin D. Roosevelt 1941 auf einem Schiff vor Neufundland - und formulierten dabei mehr als nur die Grundsätze ihrer internationalen Politik.

Von Volker Ullrich | 14.08.2011
    "Und in diesen Tagen im August hatte ich das Vergnügen, den amerikanischen Präsidenten zu treffen und mit ihm die Deklaration der britischen und amerikanischen Politik zu entwerfen, die unter dem Namen Atlantik-Charta in der ganzen Welt bekannt geworden ist."

    Als der britische Premierminister Winston Churchill in seiner Rundfunkansprache vom Februar 1942 auf die vergangenen Monate des Zweiten Weltkriegs zurückblickte, da stand nicht zufällig die Atlantik-Charta an erster Stelle – jene Erklärung über die Grundsätze für eine Nachkriegsordnung, auf die er sich mit dem amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt verständigt hatte. Das historische Treffen fand vom 9. bis 12. August 1941 in der Placentia Bay, einer Bucht an der Ostspitze von Neufundland, statt. Zwar befanden sich die Vereinigten Staaten zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Krieg mit Hitler-Deutschland, doch hatten sie mit dem Pacht- und Leihgesetz vom März 1941 Großbritannien großzügige materielle Unterstützung zugesagt. Roosevelt war auf einem Kreuzer angereist; Churchill kam aus Scapa Flow an Bord des Schlachtschiffs "Prince of Wales". Wegen der vielen deutschen U-Boote im Nordatlantik war strikte Geheimhaltung angeordnet worden. Am Morgen nach der Ankunft fand auf dem Achterdeck der "Prince of Wales" ein gemeinsamer Gottesdienst statt.

    "Der Union Jack und das Sternenbanner schmückten symbolisch Seite an Seite die Kanzel; amerikanische und britische Feldprediger teilten sich in die Verlesung der Gebete; die höchsten See-, Armee- und Luftwaffenoffiziere Großbritanniens und der Vereinigten Staaten standen Schulter an Schulter hinter dem Präsidenten und mir, die bunt gemischten britischen und amerikanischen Seeleute benutzten die gleichen Bücher und fanden sich mit der gleichen Inbrunst in den allen geläufigen Gebeten und Chorälen."

    So schrieb Churchill in seinen Erinnerungen. Zwar wurde seine Hoffnung auf einen sofortigen amerikanischen Kriegseintritt enttäuscht, doch sagte Roosevelt zu, den Schiffskonvois im Atlantik künftig durch amerikanische Zerstörer Geleitschutz zu gewähren, was die USA wieder einen Schritt näher an den Krieg heranrückte. Überdies bekundeten beide Staatsmänner in einer Botschaft an Stalin ihre Entschlossenheit, der Sowjetunion zu helfen, die seit dem deutschen Überfall vom 22. Juni die Hauptlast des Kriegs zu tragen hatte:

    "Wir sind uns bewusst, wie lebenswichtig für den Sieg über den Hitlerismus der kühne und standhafte Widerstand der Sowjetunion ist."

    Ihre eigentliche Bedeutung erhielt die Konferenz jedoch durch die Unterzeichnung der Atlantik-Charta, die am 14. August der Weltöffentlichkeit bekannt gegeben wurde. In acht Punkten verpflichteten sich die Vereinigten Staaten und Großbritannien darauf, keine territorialen Eroberungen anzustreben, das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu achten, für den gleichberechtigten Zugang aller Staaten zum Welthandel und zu den Rohstoffen einzutreten, die wirtschaftliche Zusammenarbeit der Nationen zu fördern und für Gewaltverzicht einzutreten. Am wichtigsten war Punkt 6, in dem die beiden Regierungen ihrer Hoffnung Ausdruck gaben,

    " ... dass nach der endgültigen Vernichtung der Nazi-Tyrannei ein Friede geschaffen werde, der allen Völkern erlaubt, innerhalb ihrer Grenzen in vollkommener Sicherheit zu leben, und der es allen Menschen in allen Ländern ermöglicht, ihr Leben frei von Furcht und Not zu verbringen."

    Die gelenkten Medien im "Dritten Reich" suchten die Atlantik-Charta als Propagandatrick abzutun. Joseph Goebbels notierte in sein Tagebuch:

    "Ein ganz dumm-dreistes Manöver, das darauf berechnet ist, in den besetzten Gebieten Stimmung zu machen und das deutsche Volk zu entzweien."

    Tatsächlich erfüllte die Atlantik-Charta weit mehr als nur kurzfristige propagandistische Zwecke. Die in ihr niedergelegten Prinzipien wurden am 1. Januar 1942 von 26 Staaten, darunter auch die Sowjetunion, anerkannt. So war der Grundstein gelegt für die Vereinten Nationen, die sich im April 1945, wenige Tage nach Roosevelts Tod, in San Francisco konstituierten. Welche Hoffnungen damit verbunden waren, hatte der amerikanische Präsident noch im Januar 1945, gleichsam als sein Testament, seinen Landsleuten nahegebracht:

    "Wir Amerikaner von heute machen zusammen mit unseren Alliierten Geschichte – und ich hoffe, es wird eine bessere Geschichte, als sie jemals gemacht wurde."