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"Der Hartz-IV-Satz wird leicht angehoben werden"

Um den Lebensstandard von Hartz-IV-Empfängern abzusichern, müsste der Regelsatz an die Preisentwicklung gekoppelt werden, sagt Professor Viktor Steiner vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Allerdings würden die Hartz-IV-Bezieher dann bei stärker steigenden Löhnen etwas zurückfallen. Das sollte regelmäßig geprüft werden.

Viktor Steiner im Gespräch mit Silvia Engels | 21.09.2010
    Silvia Engels: In der kommenden Woche wird Arbeitsministerin Ursula von der Leyen Zahlen vorstellen, die eine Menge Erregungspotenzial enthalten. Es geht darum, wie hoch künftig die Regelsätze für Hartz-IV-Empfänger sein werden. Am Telefon ist nun Viktor Steiner. Er ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Berlin, und er leitet die Abteilung Staat und Finanzwissenschaft am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, befasst sich also intensiv mit Sozialpolitik. Guten Tag, Herr Professor Steiner.

    Viktor Steiner: Guten Tag!

    Engels: Die Zahlen sind ja noch nicht klar, aber wir haben es gerade gehört: Die Grundlage, wie Hartz IV-Sätze berechnet werden, wird neu organisiert. Künftig steht nicht mehr die Rentenentwicklung im Mittelpunkt, an die das gekoppelt war, sondern Preisentwicklung und Lohnentwicklung. Ist das eine vernünftige Veränderung?

    Steiner: Nicht unbedingt. Es ist natürlich fraglich, warum man hier für die Hartz IV-Empfänger andere Regeln als für die Rentner ansetzen möchte. Allerdings muss man auch sagen, es ist nicht klar, ob eben die Bindung der Hartz-IV-Sätze an die Löhne oder an die Preise günstiger ist. Es könnte durchaus sein, dass eben in Zeiten steigender Löhne die Bindung an die Löhne besser wäre als an die Preise. Die Rentenentwicklung bei den Rentnern ist prinzipiell auch an die Lohnentwicklung gebunden, allerdings mit einem Abschlag. Fragt sich natürlich, warum man hier die Rentner relativ schlechter stellen wollte als die Hartz-IV-Empfänger. Das ist nicht ganz einsichtig.

    Engels: Es könnte also passieren, nehmen wir einmal an, dass die Preise deutlich steigen, dass Hartz-IV-Empfänger mehr Leistung bekommen, die Rentner dagegen nicht?

    Steiner: So ist es, genau. Das ist nicht unbedingt einsichtig, dass das eben sozialpolitisch erwünscht ist.

    Engels: Wie sehen Sie denn die Perspektiven? Das ist ja letztendlich eine Berechnung von Wahrscheinlichkeit, ob nun die Löhne besser steigen, oder ob die Preisentwicklung vorangeht. Welches wäre denn ein sicheres Verfahren, um auch diese beiden Gruppen vielleicht gleich zu behandeln?

    Steiner: Im Prinzip möchte man den Lebensstandard von Hartz-IV-Empfängern absichern. Sofern es eben eine absolute Sicherung des Lebensstandards sein soll, müsste man es an die Preisentwicklung binden. Allerdings würden dann dadurch bei stärker steigenden Löhnen, also wenn die Reallöhne oder die realen Einkommen in der Wirtschaft zunehmen, Hartz-IV-Empfänger eben längerfristig etwas zurückfallen.

    Engels: Das ist eben das Risiko. Welche Lösung schlagen Sie vor?

    Steiner: Im Prinzip müsste man wohl die Preisentwicklung berücksichtigen, also die Hartz-IV-Sätze entsprechend anpassen, und man müsste dann von Zeit zu Zeit eben prüfen, ob die Hartz-IV-Empfänger jetzt zu stark zurückgefallen sind, was den relativen Lebensstandard angeht. Man muss nämlich berücksichtigen, dass eben bei uns die soziale Grundsicherung, die Mindestsicherung, ja ein relatives Maß darstellt im Sinne, dass man eben auch die Hartz-IV-Empfänger an der Verbesserung des Lebensstandards, des allgemeinen Lebensstandards, teilhaben lassen will.

    Engels: Ein besonderes Problem, was ja auch zum Teil die Neuberechnung der Sätze notwendig gemacht hat, ist die Frage, wie man Kinder von Hartz-IV-Empfängern eine angemessene Leistung geben kann. Das hatte ja das Bundesverfassungsgericht gekippt. Da ging es nur um prozentuale Anteile am normalen Regelsatz. Kann denn diese Lösung, wie sie jetzt diskutiert wird, diesem Problem Herr werden?

    Steiner: Prinzipiell ist zu sagen, dass das Verfassungsgericht ja das rein formal kritisiert hat, dass eben die Berechnungsgrundlage aus Sicht des Gerichts nicht objektiv ist. Dass man eben das als Prozentsatz am Regelsatz der Erwachsenen einfach orientiert, ohne nähere Begründung. Das ist eine formale Kritik gewesen.
    Insgesamt ist es so, dass in Deutschland im internationalen Vergleich die Regelsätze für Kinder von Sozialhilfeempfängern oder bei uns Hartz IV relativ hoch sind, nicht zu niedrig, sondern eher relativ hoch. Insofern ist nicht klar, dass unbedingt die Regelsätze für Kinder angehoben werden müssen. Das werden wir ja in den nächsten Wochen dann sehen, was da entschieden wird. Darüber hinaus ist noch festzustellen, dass wenn man der Meinung ist, dass der Bedarf für Kinder höher angesetzt werden soll, noch immer offen ist, in welcher Form. Stichwort hier: Sachleistungen im Vergleich zu Geldleistungen. Hier bin ich prinzipiell der Meinung, dass man, um speziell Bildungsausgaben oder ganz allgemeine Teuerungsausgaben für Kinder von Hartz-IV-Haushalten wirklich zu sichern, eher auf die Sachleistungen abstellen soll, keinesfalls eben die Regelsätze für Kinder erhöhen in Form von höheren Geldzahlungen.

    Engels: Das heißt, Sie würden das Vorhaben von Ursula von der Leyen unterstützen, die ja plant, eine sogenannte elektronische Bildungskarte einzuführen, darauf soll eine Geldsumme gespeichert werden und die soll dann gezielt für Nachhilfe oder Sporteinrichtungen oder Ähnliches eingesetzt werden. Das ist auch ökonomisch und auch vor allen Dingen verfassungsrechtlich zu rechtfertigen?

    Steiner: Wie das dann administrativ umgesetzt wird, das muss man sehen. Da kann ich jetzt keine eindeutige Antwort geben. Das sind eben technische Fragen, wie das funktioniert, was die Kosten sind einer Chipkarte etc. Aber prinzipiell ist das Prinzip Sachleistung zu erhöhen, um eben zu gewährleisten, dass Kinder von Hartz-IV-Empfängern ausreichend versorgt werden und, was ja auch ganz wichtig ist, entsprechende Bildungsangebote auch bei denen ankommen. Das erscheint mir auf alle Fälle sinnvoll.

    Engels: Schauen wir auf die Grundproblematik bei der Neuberechnung. Es werden ja zu der Berechnung der Hartz-IV-Sätze die Ausgaben des unteren Fünftels der Bevölkerung herangezogen. Nun sagen einige Experten, die Sätze, die derzeit bei 359 Euro liegen, werden steigen, andere sagen, sie bleiben gleich oder werden gar sinken. Warum ist das so schwierig?

    Steiner: Im Prinzip ist es einfach ein gesellschaftliches Werturteil, wo man dieses Niveau festsetzt. Es gibt keine objektive Grenze, auch nicht auf Basis der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe. Am Ende des Tages wird man immer eine Entscheidung, eine politische Entscheidung treffen müssen, was man eben Hartz-IV-Empfängern da zugestehen möchte. Allerdings, muss man aus ökonomischer Sicht sagen, kann eben der sogenannte Lohnabstand - das ist das, was ein Hartz-IV-Empfänger netto erhält im Vergleich zu dem, was ein Geringverdiener netto herausbekommt - nicht zu klein werden oder gar negativ werden. Wir haben heutzutage ja schon die Situation bei größeren Haushalten, dass Geringverdiener ein geringeres Nettoeinkommen haben in vielen Fällen als Haushalte von Hartz-IV-Beziehern. Und hier jetzt die Hartz-IV-Sätze weiter aufzustocken, wird eben dazu führen, dass es für Geringverdiener, speziell in größeren Haushalten, wo nur einer verdient, finanziell nicht mehr attraktiv sein wird zu arbeiten. Sprich: Er könnte sich finanziell besserstellen, wenn er gar nicht arbeitet und Hartz IV bezieht.

    Engels: Was schätzen Sie, Professor Steiner? Wird der Satz von 359 Euro, wo er jetzt liegt, eher steigen oder sinken?

    Steiner: Er wird leicht angehoben werden, und das wird wahrscheinlich die nicht durchgeführten Anhebungen aus der Vergangenheit etwas kompensieren. Das ist ja auch insofern ein gewisses Problem mit dieser relativ langen Zeit, bis wieder neue EVS verfügbar wird, dass eben in den fünf Jahren bisher kaum klar berechnet werden kann, was die geänderten Verbrauchsstrukturen dann rechtfertigen würden an Erhöhung der Hartz-IV-Sätze. Auch hier ist zu hoffen, dass eben diese Berechnungen dann demnächst umgestellt werden auf eine einjährige Erhebungsform.

    Engels: Professor Viktor Steiner, er arbeitet am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung und lehrt auch an der FU Berlin Volkswirtschaftslehre. Vielen Dank für das Gespräch.

    Steiner: Bitte! Gerne geschehen.