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Der Hochstapler als Literat

Karl May war der Superstar der deutschen Literatur. Mit Old Shatterhand, Winnetou und Kara ben Nemsi prägte er lange Zeit unser Bild des Wilden Westens und des Nahen Ostens. Doch je erfolgreicher er wurde, desto mehr verschwammen seine Grenzen zwischen Realität und Fiktion.

Von Günther Wessel | 30.03.2012
    "Das ist furchtbar spannend. Die Bücher sind einfach toll. Ich habe ungefähr 24 Bände gelesen."

    Jakob, Schüler, elf Jahre.

    "Er ist der erfolgreichste Schriftsteller deutscher Sprache mit einer geschätzten weltweiten Gesamtauflage von 200 Millionen."

    Rüdiger Schaper, Autor einer Biografie über Karl May.

    Karl May: geboren am 25. Februar 1842 in Ernstthal, Sachsen, als fünftes von vierzehn Kindern einer Weberfamilie. Ab 1856 Studium am Lehrerseminar in Waldenburg. Anzeige wegen Unterschlagung. Weiterstudium am Lehrerseminar Plauen. Anzeige wegen Diebstahls einer Taschenuhr. Erste Haftstrafe und Ausschluss vom. Weitere Straftaten: Diebstahl, Betrug und Hochstapelei. Dreieinhalb Jahre Haft in Zwickau, vier Jahre in Waldheim.

    "Er ist wegen läppischer kleiner Betrügereien, Klauereien sehr hart abgestraft worden, dann galt er als vorbestraft, und dann fiel die nächste Strafe noch einmal härter aus. Er war sicherlich auch so mit 18, 20, 22 Jahren ein eitler, aufbrausender, durchaus arroganter junger Mensch, der, in so einer Kleinstadt mit seiner Begabung nicht zurecht kommt, der einfach raus will, in dem es gärt und brodelt, und dann explodiert es eben."

    Rettung bietet die Literatur. May leitet im Zuchthaus die Gefängnisbücherei und ist der eifrigste Leser. Nach der Haft kehrt er ins Haus der Eltern zurück und beginnt zu schreiben. Die Fantasie, die er bis dahin für Betrügereien nutzte, steckt er nun in seine Texte. Er schreibt und schreibt. Über 70 Bände entstehen so.

    Mays Bücher sind genau arrangiert. Eine kolportagehafte Handlung, teilweise aus Versatzstücken gebaut, die immer wieder auftauchen, garniert mit Humor und genauem geografischen und historischen Wissen. May mischt Auszüge aus Reiseberichten, Zeitungsartikeln und Lexika – mal übernimmt er die Information wörtlich, mal fasst er sie zusammen.
    Sein Held: Ein Ich-Erzähler, der in Serien über seine Erlebnisse mit Schurken und Mitstreitern im Nahen Osten und über seine Abenteuer im Wilden Westen berichtet. Mal heißt er Kara ben Nemsi – Karl, Sohn des Deutschen – mal Old Shatterhand. Sein Blutsbruder ist der berühmteste Indianer der deutschen Literatur – Winnetou.

    "Mein Bruder, mein Bruder."

    Ein gewaltiges Werk, das auch unser Bild von den Wüstenlandschaften Arabiens oder der Prärie im Westen Amerikas prägte. Unbekannter sind Bände wie "Ardistan und Dschinnistan", ein zweiteiliger Roman aus dem Spätwerk, der auf einem fremden Planeten spielt und eher an Fantasieliteratur erinnert.

    "Heute fällt mir auf ... seine Klugheit, sein Interesse an fremden Religionen, an fremden Kulturen, ja, und seine tolerante Einstellung. Er will Menschen überall auf der Welt auf Augenhöhe begegnen, ihnen zuhören, mit ihnen friedlich zusammenleben. Und das in einer Zeit, die geradewegs auf den Ersten Weltkrieg zusteuert. Karl May war ein faszinierender Pazifist."

    May, der immer wieder von katholisch-konservativen Kreisen angegriffen wird, ist mit der Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner befreundet. Die schreibt schwärmerisch über den Schriftsteller:

    "In dieser Seele lodert das Feuer der Güte."

    Doch je erfolgreicher er wird, desto mehr verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, zwischen dem Schriftsteller selbst und seinen Figuren. Karl May kann zwischen sich, Kara ben Nemsi und Old Shatterhand immer weniger unterscheiden. Er beantwortet Briefe als sei er ein weit gereister Autor, lässt sich in Radebeul eine Villa Shatterhand bauen und als Old Shatterhand fotografieren.

    "Er war ein extrem öffentlicher Mann in seinen letzten zehn Lebensjahren, er hatte viele, viele Fans. Er war eine Art Popstar. Und dann gab es natürlich irgendwann nicht mehr die Möglichkeit, auszusteigen und zu sagen: Liebe Freunde und Leser, was ich euch 20 Jahre erzählt habe, war leider alles Humbug, ich bin sehr glücklich, dass es euch so gefallen hat, dass es so gut gelungen ist."

    Karl May stirbt am 30. März 1912 in Radebeul an "Herzparalyse, akuter Bronchitis, Asthma" wie es das Bestattungsbuch des Pfarramtes verzeichnet. Seine letzten Worte lauten – so die Witwe Klara May:

    "Sieg, großer Sieg! Ich sehe alles rosenrot!"
    Erol Sander als "Winnetou" bei den Karl-May-Festspielen in Bad Segeberg
    Erol Sander als "Winnetou" bei den Karl-May-Festspielen in Bad Segeberg - der Apachen-Häuptling ist eine von Mays berühmtesten Figuren. (AP Archiv)