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Der Hölle entkommen

Von allen schlimmen Plätzen auf diesem Planeten dürfte ohne Übertreibung Nordkorea derzeit der Schlimmste sein. Dort werden nicht nur Minderheiten unterdrückt (was leider vielerorts vorkommt), sondern alle.

Von Florian Felix Weyh | 06.10.2005
    Eine kleine Funktionärselite depriviert ein ganzes 23-Millionen-Volk, beraubt es aller äußeren Kontakte und hält es seit mehr als fünfzig Jahren ideologisch derart kurz, dass selbst die gröbsten Mängel an Nahrung, Medikamenten, Freiheit - ja Menschlichkeit insgesamt - nicht die Reaktionen hervorrufen, die man historisch erwarten dürfte: Revolten und Bürgerkriege, Putschversuche und Hungeraufstände.

    Unterdrückung, das ist eigentlich ein Lehrsatz der Geschichte, funktioniert nur so lange, wie die Repressionsinstrumente Armee und Polizei die Oberhand behalten, doch in den Kasernen Nordkoreas verhungerten in den 90ern auch zahlreiche Soldaten.

    So zumindest berichtet es einer der wenigen Zeitzeugen, der dieser Hölle entkam. Hyok Kang heißt der heute 19-Jährige, dessen Biographie - aufgeschrieben vom französischen Journalisten Philippe Grangereau - exemplarisch zeigt, wie ein Leben in völliger Isolation selbst objektiv katastrophale Umstände als immer noch besser erscheinen lässt als das, was jenseits der Grenzen vermeintlich auf einen wartet.

    Dabei stand dem kleinen Hyok von Beginn seines Lebens an mehr Wissen um die tatsächliche Weltlage zur Verfügung als seinen Altersgenossen, denn seine Großeltern gehörten zu den Opfern einer historischen Selbsttäuschung: 1960 kamen sie aus dem sicheren, aber als ehemalige Kolonialmacht verhassten Japan in ihre Heimat zurück, vermachten den erworbenen Wohlstand der kommunistischen Partei und erhielten im Gegenzug ein paar geringfügige Privilegien. Ein Schritt, den sie sehr schnell bereuten, doch da war es zu spät. Mehr als 93.000 solcher Fälle trugen sich zwischen 1959 und 1967 zu, traurigerweise vom Internationalen Roten Kreuz gefördert: Heimführung aus der Freiheit in ein riesiges Straflager - anders kann man Nordkorea nicht bezeichnen.

    Ein Staat, der spezielle, saugfähige Stoffe entwickelt, um Hinrichtungskandidaten bei der Erschießung weniger blutig aussehen zu lassen, ein Staat, in dem die Blumenzucht zur Ausschmückung von Denkmälern Vorrang vor der Ernährung der Bevölkerung hat, ein Staat, in dem grundsätzlich bei politischen Vergehen die Sippenhaft über drei Generationen verhängt wird - ein solcher Staat ist eine Schande für die Menschheit, die aus geostrategischen Gründen tatenlos zusieht, wie die grundlegendsten Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Hilfslieferungen der UNO kommen selbstredend nie ans Ziel, sondern versickern im korrupten Funktionärsapparat, und der kleine Hyok lernt rasch die "drei Kardinaltugenden des Erwachsenenlebens: die Tugend des gegenseitigen Misstrauens, die profitablen Wohltaten der Lüge und die Vorzüge der Bestechung."
    Dieses Buch schildert einen Alptraum, und wäre es Literatur, spräche man von einer rabenschwarzen Dystopie, weit jenseits der Vorstellungskraft eines George Orwell. Es ist aber keine Literatur, sondern ein Bulletin, und das macht die Lektüre schier unerträglich. Seit den Berichten aus dem Warschauer Ghetto hat man selten so klar vor Augen geführt bekommen, was Hunger aus Menschen machen kann - intellektuell verkümmerte und moralisch verrohte Existenzen, die selbst vorm Kannibalismus nicht zurückschrecken.

    Und darin liegt auch der Grund, warum die historische Gesetzmäßigkeit von Aufständen bei bestimmten Formen des Staatsversagens in Nordkorea nicht greift: Die Menschen sind mental und physisch dort nicht mehr in der Lage, sich selbst zu befreien. Mangelernährung in der dritten Generation lässt sie sogar anatomisch auffällig werden. Als es Hyok Kang über viele Umwege endlich nach Südkorea geschafft hat, wird er dort wegen seines Kleinwuchses als Nordkoreaner erkannt und diskriminiert: Die Ankunft im echten Paradies der Überflussgesellschaft ist zwar lebensrettend und ein Glück für ihn - doch sie eröffnet ihm keine neue Heimat.

    Sollte es, was den Koreanern aus tiefstem Herzen zu wünschen ist, zu einer Wiedervereinigung beider Landesteile kommen, werden die Lasten gewaltig sein, denn nie in der Geschichte musste man ein ganzes Volk wieder zu den Grundlagen der Zivilisation zurückführen.

    Selbst wenn sich Hyok Kangs Bericht später einmal als subjektive Wahrnehmung eines Heranwachsenden erweist, ist seine Veröffentlichung dennoch verdienstvoll: Sie zwingt unbeteiligte Leser zur Parteinahme - und nur aus dieser Haltung heraus kann Hilfe entstehen.