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Der Holocaust im Unterricht

Tragisch an diesem Buch ist, wie viel man dabei selbst dann noch lernen muss, wann man sich über den Holocaust für nicht schlecht informiert hält, tragisch deswegen, weil es sich zumeist um peinliche Einsichten handelt.

Von Hans-Martin Schönherr-Mann | 06.02.2006
    Ein Buch über didaktische Probleme bei der Behandlung des Holocaust im Schulunterricht spricht zwangsläufig vor allem über die Zeit danach. Und da sich Yair Auron nicht auf Israel beschränkt lernt man als Deutscher zunächst viel über das eigene Land. Dessen gegenwärtige Gesellschaft kann man nicht ohne den Blick auf den Holocaust verstehen - so Aurons verblüffende und eigentlich doch selbstverständliche Feststellung.

    Eine Untersuchung von 345 westdeutschen Jugendbüchern ergab eine strikte Trennung zwischen den 'normalen’ Deutschen und den deutschen Nazis, die nichts miteinander gemein haben, obgleich sie doch Haustür an Haustür lebten. Ungeheuerlich mutet an, dass sich in diesen Jugendbüchern Nazis und Juden "seltsam" ähneln. Bis in die siebziger Jahre kam im schulischen Geschichtsunterricht die Nazizeit kaum vor, geschweige denn der die Vernichtung des europäischen Judentums.

    Öffentliche Aufmerksamkeit erzielte erst die US-Fernsehserie Holocaust. Doch noch die Schulbücher der achtziger Jahre berücksichtigen Ausmaß und Bedeutung des Holocaust unzureichend. Statistisches Material verdeckt Einzelschicksale, mit denen sich Schüler identifizieren könnten. Bezeichnend und erschütternd gleichermaßen ist, dass der Holocaust in der Regel in keinen Zusammenhang mit dem europäischen und deutschen Antisemitismus gestellt wird. Hat man etwa Angst vor dem Antisemitismus, den man damit implizit exkulpiert?

    Wen wundert es dann noch, dass 2001 in Österreich und Deutschland 45 Prozent der Befragten erklärten, sie hätten vom Holocaust die Nase voll. Dann muss Yair Auron sicher zurecht feststellen: "Man kann heute immer noch sagen, dass die Deutschen sich noch nicht wahrhaftig genug mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt haben."

    Yair Aurons Buch wirft auch einen Blick auf viele andere Länder. Israel steht dabei natürlich im Vordergrund. Auch hier muss man überrascht hören, dass der typische junge Israeli heute schnell bereit ist, umschreibungslos und ohne größeres Einfühlungsvermögen, quasi aus der Perspektive eines "Kommandeurs einer israelischen Spezialeinheit" zu fragen: Warum ließen sich die Juden wie die Lämmer zur Schlachtbank führen?

    In den Anfangsjahren des Staates Israel kam der Holocaust im Schulunterricht kaum vor. Einerseits distanzierten sich die Israelis von den Juden, die in der Diaspora lebten, hatten viele gerade von den armen und gedemütigten osteuropäischen Juden eine negative Vorstellung. Andererseits befürchteten Pädagogen fatale psychische Folgen für die Heranwachsenden, wenn man sie mit dieser Problematik konfrontiert.

    Seit den siebziger Jahren erhielt der Holocaust dann einen festen Platz im Unterricht. Wie aber soll man Jugendlichen etwas vermitteln, was schon ein Erwachsener nicht fassen kann? Allemal, im Hinblick auf Einzelschicksale. Hierbei helfen denn auch Gedichte wie "Das Hohelied" des jüdisch-griechischen Dichters Iakovos Kambanellis, der selber im Lager Mauthausen inhaftiert war:

    Siehe, meine Freundin, sie ist schön,
    In ihrem schlichten Kleide
    Und dem Kämmchen im Haar.
    Keiner sah, keiner wusste, wie lieblich sie war.

    Ich beschwör’ euch, Oh Töchter von Auschwitz,
    Oh Töchter von Dachau, sagt mir,
    Habt ihr nicht meine Freundin geseh’n?

    Wir sah’n sie auf einer langen Reise.
    Nicht mehr trug sie ihr schlichtes Kleid,
    Noch das Kämmchen im Haar.

    Siehe, meine Freundin, sie ist schön,
    Für ihre Mutter das Liebste,
    Und von den Lippen des Bruders geküsst.
    Keiner sah, keiner wusste, wie lieblich sie war.

    Sagt mir, Oh Töchter von Mauthausen,
    Ich beschwör’ euch, Oh Töchter von Belsen,
    Habt ihr geseh’n meine Liebste?

    Wir sah’n sie auf dem eiskalten Appellplatz,
    Auf dem weißen Arm eine Nummer,
    Und überm Herz den gelben Stern.

    Sieh, meine Freundin, sie ist schön,
    In ihrem schlichten Kleide
    Und dem Kämmchen im Haar.
    Keiner sah, keiner wusste, wie lieblich sie war."


    In den letzten Jahrzehnten wurden Klassenfahrten nach Polen immer populärer. Überlebende des Holocaust begleiten sie, so dass die Schüler Informationen von Zeitzeugen erhalten, um hinterher selbst Zeugen der Zeugen zu sein. Eindringlicher und erschütternder lässt sich der Holocaust schwerlich lehren.

    So steht die Holocaust-Thematik in Israel im Spannungsfeld zwischen der Werteerziehung und der Bildung von nationaler Identität. An ihrem Beispiel vermitteln sich einerseits universelle Werte wie die Würde des Mensche. Andererseits untermauert der Unterricht anhand des Holocaust die Notwendigkeit der Staatsgründung: Die Aufklärung konnte die Juden nicht der Gleichberechtigung versichern, im Gegenteil. Folglich musste der Staat Israel entstehen.

    So streitet man auch in Israel ähnlich wie in Deutschlang um die Einzigartigkeit des Holocaust. Darf man andere Genozide der Geschichte mit ihm vergleichen? In Deutschland möchten bestimmte Historiker wie Ernst Nolte ihn als allgemeines Phänomen sehen, um die deutsche Schuld zu relativieren. In Israel möchte man dagegen derart an einen weltgeschichtlichen Universalismus der Werte anknüpfen. Jene Israelis, die auf der Einzigartigkeit insistieren, möchten damit die nationale Identität stärken. Die Einzigartigkeit des Holocaust soll in Deutschland endlich eine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte fördern.

    Yair Aurons Buch, das nicht nur für Geschichtslehrer sehr empfehlenswert ist, verdeutlicht, dass Israel und Deutschland immer noch Welten trennen. Irgendwie verwundert das. Aber wie sollte es anders sein?

    Yair Auron, Der Schmerz des Wissens – Die Holocaust- und Genozid Problematik im Unterricht
    Verlag Edition AV, Lich / Hessen 2005, brosch., 258 S.