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Der Jahrhundertprozess in Büchern
Der NSU-Prozess - das Protokoll

Ein Reporterteam der Süddeutschen Zeitung hat das Münchner NSU-Verfahren gegen die rechtsradikale Gruppe vom ersten bis zum letzten Tag beobachtet, minutiös protokolliert und daraus eine fünfbändige Dokumentation erstellt. Entstanden ist ein Stück deutscher Zeitgeschichte.

Von Otto Langels | 05.11.2018
    Die Angeklagte im NSU-Prozess, Beate Zschäpe.
    Die Angeklagte im NSU-Prozess, Beate Zschäpe, wurde nach fünf Jahren Prozess zu lebenslanger Haft verurteilt (MICHAELA REHLE / POOL / AFP)
    Am 6. Mai 2013 begann in München der größte deutsche Strafprozess seit der Wiedervereinigung. Auf der Anklagebank saßen eine Frau und vier Männer, beschuldigt, die Terrorgruppe NSU mitgegründet bzw. unterstützt zu haben. Über fünf Jahre dauerte der Mammutprozess mit 14 Verteidigern, 91 Nebenklägern und 600 Zeugen. Doch von den 438 Verhandlungstagen liegen keine offiziellen Mitschriften oder Tonbandaufzeichnungen vor. Ein Unding bei einem so wichtigen und eminent politischen Verfahren, fand ein Reporterteam der Süddeutschen Zeitung um Tanjev Schultz und Annette Ramelsberger.
    "Das ist tatsächlich gang und gäbe in deutschen Strafverfahren, dass es solche Protokolle nicht gibt. Und dann gibt es die Möglichkeit, auch als Journalist mitzuschreiben. Das haben wir dann genutzt, und tatsächlich war das dann sehr, sehr mühsam über all diese Jahre."
    "Und wir durften ja nicht mitschneiden. Wir haben wirklich getippt, und am Abend, in der Nacht haben wir dann alles ins Reine gebracht."
    In fünf Bänden dokumentieren die Autoren die Aussagen und Kommentare der Richter, Verteidiger, Zeugen und Sachverständigen, d.h. die Journalisten beschränken sich weitgehend auf die Rolle von Protokollanten. Sie kürzten und strafften den Verhandlungsverlauf, um unnötige Längen und Wiederholungen zu vermeiden, betonen aber, dass sie nichts verfälscht hätten.
    "Die Protokolle zeigen, soweit das möglich ist, ein unparteiisches, authentisches, weitgehend unkommentiertes Gesamtbild des Prozesses, die Essenz von Hunderten Verhandlungstagen. Redundantes wurde weggelassen, juristische Feinheiten auf das zum Verständnis unbedingt Nötige reduziert, stundenlange Befragungen von wortkargen Zeugen, die alle im Gerichtssaal als quälend empfunden haben, sind auf zentrale Aussagen und Dialoge reduziert."
    Autoren verfolgten kontinuierlich die Verhandlung
    Gleichwohl nennen die Journalisten in einem ausführlichen Vorwort die Ermittlungspannen der Polizei und die Abschottung des Verfassungsschutzes beim Namen, sie verweisen auf gesellschaftliche Missstände und bröckelnde Autoritäten nach der Wende im Osten, die für ein Klima gesorgt hätten, in dem rechtsradikale Tendenzen entstehen konnten. Und sie verhehlen nicht ihre Sympathie für die Opfer und ihre Angehörigen.
    Der NSU-Prozess war eine Herausforderung für die Autoren, physisch und psychisch. Sie verfolgten kontinuierlich die Verhandlung, den Laptop auf den Knien, in gebückter Haltung sitzend, jede Bemerkung in dem häufig ermüdenden Verfahren mitschreibend.
    "In dieser Atmosphäre wurde wie unter dem Licht einer Operationslampe nach der Wahrheit gesucht. Irgendwann fühlt man sich, als wenn man die Zellennachbarin von Beate Zschäpe wäre. Nur dass man abends dann nach Hause gehen darf."
    Zu Beginn war das Münchner Verfahren eine Sensation und sorgte für ein immenses Medienecho. Doch je länger der NSU-Prozess dauerte und sich zusehends in juristische Winkelzüge verstrickte, umso mehr erlahmte das öffentliche Interesse. Die Autoren nennen die fünf Jahre im Gerichtssaal ein "Hochamt der Zermürbung".
    Doch weil das SZ-Team durchhielt, lässt sich zum Beispiel die Aussage Beate Zschäpes aus dem Herbst 2016 relativieren, sie verurteile die Taten ihrer Lebensgefährten Mundlos und Böhnhardt und beurteile Menschen nicht nach ihrer Herkunft oder ihrer politischen Einstellung, sondern nach ihrem Benehmen.
    "Zschäpes Worten stehen Aussagen Hunderter Zeugen entgegen, die im Gerichtssaal gehört wurden. Sie sprachen darüber, wie Zschäpe mit ihnen über 'Germanenkunde' debattierte, mit ihnen ihr selbstgemachtes rassistisches Spiel 'Pogrommly' spielte, in dem auf die Gräber von Juden 'gekackt' wurde, wie sie ihnen ihre Schreckschusswaffe zeigte, die sie liebevoll 'Wally' nannte.
    Der Rechtsstaat stieß an seine Grenzen
    Die fünf Bände sind eine Zumutung. Wer - außer einigen Fachleuten - will schon 2.000 Seiten lesen, in denen um sicherheitspolizeiliche Anordnungen, um die störungsfreie Abwicklung der Hauptverhandlung, um die Rechte der Nebenklagevertreter oder um verfassungsrechtlich geschützte Rechtspositionen der Verteidiger gestritten wird. Doch man ist nicht gezwungen, "das Protokoll" Seite für Seite zu lesen, man kann darin wie in einem Kompendium blättern, sich an manchen Stellen festlesen, um dann wieder eine Reihe von Verhandlungstagen zu überspringen.
    "14. Mai 2013. Vorsitzender Richter Götzl: 'Mir ist noch nicht klar, um was es gehen soll, Herr Rechtsanwalt Heer.' Verteidiger Heer: 'Ich beabsichtige nicht, immer um das Wort zu bitten.' Götzl: 'Doch, das werden Sie aber müssen.' Verteidiger Heer: 'Da haben wir einen Dissens.' Götzl: 'Aber ich habe die Sitzungsgewalt'."
    Deutlich wird an solchen Auszügen, wie sehr die Strafprozessordnung strapaziert wurde, der Wahrheitsfindung damit aber kaum gedient war. Der Rechtsstaat, auch das zeigte das Mammutverfahren, stieß bisweilen an seine Grenzen. Das Gericht konnte und wollte in 438 Verhandlungstagen nicht die Versäumnisse der Ermittlungsbehörden und die Schlampereien der Geheimdienste ausbügeln, und auch nicht die Ignoranz von Politik und Medien.
    "Es gab ja über Jahre hinweg Berichterstattung über die 'Döner-Morde', dieses schreckliche Wort. Als wenn hier Döner gestorben wären und keine Menschen. Und niemand von uns hat es in Frage gestellt, was denn da war. Wir saßen zwar oft in Hintergrundrunden in Berlin, beim Verfassungsschutz, beim Innenministerium, und fragten immer wieder: 'Gibt es eine braune RAF?' Aber wir haben denen geglaubt, die sagten: 'Nee, die Rechten sind zu dumm, die haben keinen Anführer.' Und wenn da was wäre, dann würden wir es wissen."
    So gewährt das Protokoll des NSU-Prozesses auch - wie die Autoren schreiben - einen "Blick in den Abgrund", wo sich unter der Oberfläche wirtschaftlich blühender Landschaften und einer scheinbar gefestigten Demokratie ein gefährlicher rechtsradikaler Terror organisierte und, wie sich erst jüngst zeigte, in Gestalt der Gruppe "Revolution Chemnitz" weiterhin virulent ist.
    Annette Ramelsberger, Tanjev Schultz, Rainer Stadler, Wiebke Ramm: Der NSU-Prozess. Das Protokoll
    Antje Kunstmann Verlag, München 2018
    Fünf Bände, 2000 Seiten, 80 Euro