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Der Jude aus Galiläa

Die Betonung, dass Jesus von Nazareth durch und durch Jude war, ist das wichtigste Merkmal der neueren Jesusforschung. In aktuellen wissenschaftlichen Studien spielt die Frage nach dem historischen Kontext des Wirkens Jesu eine zentrale Rolle.

Von Monika Konigorski | 26.12.2012
    Jesus, aramäisch: Jeschua oder Jeschu, geboren zwischen dem Jahr vier und dem Jahr sieben vor der nach ihm benannten Zeitrechnung, gestorben im Jahr 30 oder 31 in Jerusalem. Jüdischer Wanderprediger in Judäa und Galiläa. Scharte Jünger um sich und kam unter brutalen Umständen zu Tode.

    Tal Ilan: "Vielleicht für einige Christen ist das eine Überraschung, dass Jesus ein Jude war, für die Juden ist das schon immer selbstverständlich gewesen."

    Henryk Fridman: "Für uns Juden: Jesus war ein Jude. Aber war er der Erlöser? Nein, er war es nicht, also war er einer von Vielen, der genauso viel Aufmerksamkeit bekommt wie jeder andere jüdische Bürger auch. "

    Nussbaum: "Die Grundsätze, die er verbreitet hat, sind bei uns sehr verankert. Insofern auf das Judentum hat er nicht viel gewirkt, aber er ist mir sehr wichtig als Bürger der Welt. "

    Jens Schröter: "Das ist eines der wichtigsten Merkmale der neueren Jesusforschung, dass man betont: Jesus ist innerhalb des Judentums seiner Zeit zu verstehen. "

    Jens Schröter ist Professor für Neues Testament an der Berliner Humboldt-Universität. Er interessiert sich für den historischen Jesus, für Jesus, den Juden:

    "Er setzt kritische Akzente, er tritt mit einem hohen Autoritätsanspruch auf, etwa dem, dass er das Gesetz in seiner eigenen Autorität und Vollmacht auslegen kann. Aber man wird daraus auf keinen Fall einen Gegensatz zwischen Jesus und dem Judentum seiner Zeit konstruieren dürfen, sondern es handelt sich zunächst einmal um Diskussionen, um Kontroversen, die sich innerhalb des Judentums abspielen."

    Bis in die 1970er-Jahre wurde die christliche Forschung über Jesus von Nazareth unter christlichen Vorzeichen betrieben. Nicht, was Jesus mit dem Judentum verband, interessierte, sondern was ihn vom Judentum unterschied. In der US-amerikanischen Forschung beginnt der Umschwung – sie wendet sich der Jesusfrage geschichtswissenschaftlich zu. In den 80er- und 90er-Jahren erfasst dieser Ansatz auch die europäische Wissenschaftslandschaft. Wie aber sieht der soziale, kulturelle, religiöse und politische Kontext aus, in dem der Wanderprediger Jesus gewirkt hat?

    "Man kann es nicht mit letzter Sicherheit sagen, es spricht aber vieles dafür, dass Jesus aus Nazareth stammt, und die Geburtsgeschichten im Matthäus- und Lukas-Evangelium legendarischen Charakter haben und die Geburt in Bethlehem deshalb erzählen, weil nach der prophetischen Verheißung eben aus Bethlehem derjenige kommen soll, der über Israel herrschen soll."

    Nazareth ist zurzeit Jesu ein kleines Dorf in Galiläa von höchstens 400 Einwohnern. Mehr, als dass es tatsächlich existiert hat, lässt sich auch aus den archäologischen Funden nicht ableiten. Aufschlussreichere Funde bieten da schon die beiden Städte, die es zu jener Zeit in Galiläa gibt: Sephoris, in der Nähe von Nazareth, und Tiberias, das zurzeit Jesu gegründet wird und am See Genezareth liegt.

    "Eines, was man zunächst sagen kann, ist, dass Galiläa eine deutlich jüdisch geprägte Region war, im Unterschied zu den umliegenden Gebieten."

    Frühere Forschungen nahmen an, Galiläa sei damals von verschiedenen religiösen Einflüssen geprägt gewesen, vor allem durch heidnische Völker arabischer Herkunft. Jesus wäre dann vor allem von nicht-jüdischen Traditionen beeinflusst worden. Doch der heidnische Einfluss, so neuere Forschungen, war geringer als angenommen. Darauf weist die Judaistin Tal Ilan hin, Professorin an der Freien Universität Berlin und Expertin für das antike Judentum.

    "Das Grund, warum Galiläa ein wichtiges jüdisches Zentrum war, ist, dass um ungefähr 70 Jahre vorher hat man so Galiläa erobert, es gab zu dieser Zeit ein unabhängigen jüdischen Staat, der hasmonäische Staat und Galiläa wird von die Juden erobert und die Leute, die in Galiläa waren und Nicht-Juden waren, waren kann man sagen zwangskonvertiert, und es war dann ziemlich schnell auch ein sehr attraktiver Ort für Juden zu kommen und sich siedeln."

    Eine jüdische Regierung gibt es zurzeit Jesu in Galiläa nicht mehr. Etwa 60 Jahre vor seinem Auftreten hatten die Römer das Land erobert. Anders als Judäa mit dem römischen Präfekten in Jerusalem stand Galiläa allerdings nicht unmittelbar unter römischer Herrschaft. Herodes Antipas aus dem Geschlecht der Idomäer hatte das Land von Rom gepachtet. Die Bevölkerung musste Abgaben entrichten – die von Zöllnern eingetrieben wurden. Herodes Antipas hatte ein regelrechtes Konjunkturprogramm gestartet. Das machte sich auch im sozialen und religiösen Leben bemerkbar.

    "Also wir haben aus dieser Zeit keine Berichte über Unruhen oder Aufstände. Das war in anderen, auch in den umliegenden Gebieten, anders, aber hier hat es sich offenbar um eine sozial und politisch vergleichsweise ruhige Zeit gehandelt, in der eben auch das jüdische Milieu weitgehend respektiert wurde."

    Der jüdische Glaube ist wesentlich durch das Bekenntnis zu dem einen Gott Israels bestimmt und dem Bund, den Gott der Überlieferung nach mit Israel geschlossen hat. Sein Volk verpflichtet Gott auf die Thora, auf ein Leben nach dem jüdischen Gesetz, allem voran auf die Zehn Gebote. Zentrum des religiösen Lebens zurzeit Jesu ist der Tempel in Jerusalem.

    "Besonders in der zweite Tempelzeit als es klar war, dass es überhaupt also absolut verboten war für Juden irgendwo andres Opfern zu bringen. Und der Opferkult war der hauptjüdische Kult in dieser Zeit, hat natürlich eine sehr wichtige religiöse Bedeutung und Jesus selbst macht mehrere 'Wallfahrtreisen nach Jerusalem', weil die wichtigsten Ereignisse doch da stattfinden."

    Neue archäologische Befunde bestätigen die Aussage der Evangelien, dass es zu Lebzeiten Jesu auch schon Synagogen gab, sowohl in Galiläa als auch in Orten, die weiter von Jerusalem entfernt lagen. Anfangs las man dort nur die Thora, nach der Zerstörung des Tempels um das Jahr 70 nach christlicher Zeitrechnung gab es auch Gebete in den Synagogen, die den Tempelkult imitierten. Das Judentum zurzeit Jesu lässt sich in zwei Hauptrichtungen einteilen: den Zweig der griechischsprachigen und den der hebräisch-aramäisch-sprachigen Juden. In den stärker griechisch und römisch geprägten Gebieten im Westen orientierte man sich nicht so strikt an den Reinheitsvorschriften der Thora wie in Galiläa, Samaria und Judäa. Jens Schröter:

    "Dafür steht zum Beispiel die Gruppe der Pharisäer sehr deutlich, die ja auch in den Evangelien immer wieder auftauchen, hier waren sicher auch die Erwartungen desjenigen Judentums, was wir als apokalyptisches Judentum bezeichnen können, also was damit rechnete, dass Gott das Ende der Welt möglichst bald heraufführen wird und die Herrschaft Israels wieder aufrichten wird, das spielte natürlich hier in diesem Kontext eine größere Rolle."

    Neben den Pharisäern spielten im Judentum damals noch weitere Gruppen eine wichtige Rolle: Zeloten und Samaritaner, Essener und Sadduzäer. Der Historiker Flavius Josephus spricht von drei Hauptrichtungen: den Pharisäern, Sadduzäern und Essenern. Was wirklich jüdisch sei, wurde unter den Gruppen diskutiert, wobei jede von ihnen einen exklusiven Wahrheitsanspruch erhob. Die Pharisäer berufen sich in ihrer Gesetzesauslegung und Praxis neben der Thora, den fünf Büchern Mose, auch noch auf eine Reihe anderer Lehren, die sogenannte mündliche Thora. Daraus gehen später die Mischna und der Talmud hervor. Diese Überlieferungen der Väter sind genauso wichtig wie die schriftliche Thora, meinten die Pharisäer.

    "Zum Beispiel wie wir im Evangelium finden, dass es ein Gebot ist, bevor man isst, im Judentum die Hände zu waschen. Man nennt es nicht zu waschen, sondern zu reinigen, die Hände sind unrein, man muss sie rein machen, bevor man isst, und dann wäscht man die Hände. Und das ist etwas das wir nirgendwo in der Thora finden, es gibt mehrere Beispiele aber das eine gute Beispiel."

    Die Sadduzäer dagegen anerkennen nur jene Gesetze, die niedergeschrieben sind. Das Neue Testament arbeitet an vielen Stellen heraus: Die Pharisäer überbetonen die Pflicht zur Einhaltung der Reinheitsgebote. Jesus dagegen habe der Gottes- und Nächstenliebe den Vorrang geben. Die Forschung geht heute davon aus, dass es sich hier um Abgrenzungsphänomene handelt. Zur Zeit der Entstehung der Evangelien – zwischen den Jahren 70 und 100 nach Christus, entwickelten sich die Pharisäer – neben den Jesusanhängern - zur dominanten Richtung innerhalb des Judentums. Gleichzeitig driften Judentum und Urchristentum auseinander. Diese Gegnerschaft dürfte der Grund für die verzerrte Darstellung der Pharisäer durch die Evangelien sein. Diese Position vertritt auch Tal Ilan:

    "Man hat die Meinung, es ist so ein Fall, dass die großen Gegner jemandem sind, die näher zu ihm sind. Und die Pharisäer waren eigentlich näher zu Jesus als die Sadduzäer, und weil er über Kleinigkeiten mit sie disputiert haben, dann hat er dann natürlich ein größere Streit mit sie. Und dann wissen wir, dass Paulus, als er nach der Tod Jesus kommt, er sagt Bescheid: Ich bin ein Pharisäer. Ich habe bei die große pharisäische Lehrer in Jerusalem gelernt."

    Jens Schröter: "Also die Sabbatauslegung innerhalb des Judentums war ja durchaus vielfältig und die Frage, was ist am Sabbat erlaubt, war auch innerhalb des Judentums sehr vielfältig diskutiert – also darf man etwa Leben retten am Sabbat, oder ist auch das verboten, und da gab es innerhalb des Judentums sehr strikte Richtungen, die gesagt haben: Nein, man darf am Sabbat gar nichts tun und andere, die dann bestimmte Ermäßigungen eingeführt haben."

    Die Evangelien berichten, auch der Wanderprediger Jesus habe sich an dieser Diskussion beteiligt. Für den Neutestamentler Jens Schröter bewegt sich Jesus dabei in einem innerjüdischen Diskurs. Im Markusevangelium wird die Position Jesu zum Sabbat mit dem Hinweis überliefert, der Sabbat sei um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen. Deshalb, so heißt es dort weiter, sei der Menschensohn Herr auch über den Sabbat. Jens Schröter.

    "Das Bemerkenswerte daran ist – kann man auch bei anderen Stellen, wo sich Jesus zum Gesetz äußert, sehen – dass er es immer so interpretiert, dass darin der ursprüngliche Gotteswille zum Ausdruck kommen soll. Also man könnte sagen eine eher formale Diskussion darüber, was ist am Sabbat erlaubt und was nicht, oder eine kriteriologische Diskussion darüber, wird dadurch vergrundsätzlicht, dass Jesus danach fragt: Was ist eigentlich die Intention dieses Gebotes, und er misst es dann an dem, was er als den ursprünglichen Gotteswillen auffasst. Das kann man vielleicht sagen ist so ein Spezifikum des Umgangs Jesu mit dem jüdischen Gesetz."

    Der Jude Jesus setzt so die Gültigkeit der Thora selbstverständlich voraus. Während ältere Theorien davon ausgingen, Jesus habe mit dem jüdischen Gesetz gebrochen, urteilt die neuere Forschung in dieser Frage ganz anders. Heute findet sich sogar die Auffassung, Jesus habe sich vollständig innerhalb des jüdischen Gesetzes bewegt, so beispielsweise in den Jesusbüchern des emeritierten protestantischen Neutestamentlers Wolfgang Stegemann und des US-Amerikaners Ed Parish Sanders. Die Gegenüberstellung Jesu und seiner Anhänger auf der einen Seite zur jüdischen Mehrheitsgesellschaft auf der anderen Seite hat im Laufe der Jahrhunderte zu schweren Verwerfungen zwischen Juden und Christen geführt.

    "Man muss einfach sagen, dass der Letzte, der unverbrüchlich an der jüdischen Erwählung festgehalten hat, der Apostel Paulus gewesen ist, die auf ihn folgenden Kirchenväter im zweiten und dritten Jahrhundert haben dann eine Substitutionstheorie vertreten, dass also die Kirche das heilsgeschichtlich überflüssig gewordene Israel abgelöst habe, und dann gab es auch schon beginnend im zweiten Jahrhundert christliche Lehrer, die glaubten, die Juden des Gottesmordes und der Heilsverhinderung beschuldigen zu müssen."

    Sagt Micha Brumlik, Historiker, Erziehungswissenschaftler und Publizist. Sind aber nicht schon Teile des Neuen Testamentes antijudaistisch geprägt – insbesondere das Matthäusevangelium und das Johannesevangelium? Oder kann von Judenfeindlichkeit im Neuen Testament keine Rede sein, wie das katholische Kirchenoberhaupt, Papst Benedikt XVI., im zweiten Teil seiner Jesusbiografie zur Passionsgeschichte des Evangelisten Johannes schreibt:

    Wer waren die Ankläger? Nach Johannes sind es einfach die Juden. Aber dieser Ausdruck bezeichnet bei Johannes keineswegs – wie der moderne Leser vielleicht zu lesen geneigt ist – das Volk Israel als solches, noch weniger hat er "rassistischen" Charakter. Schließlich war Johannes vom Volk her selbst Jude, genauso wie Jesus und all die Seinigen.

    Vielmehr habe das Wort "eine präzise und streng umgrenzte Bedeutung: Er benennt damit die Tempelaristokratie".

    Dass es tatsächlich nur die Repräsentanten des jüdischen Volkes gewesen sein können, mit denen die römische Weltmacht in Gestalt des Präfekten Pontius Pilatus zum Schicksal Jesu verhandelte, ist Konsens in der Wissenschaft. Ob die Darstellung allerdings antijudaistische Verwerfungen enthält, bleibt umstritten. Johann Michael Schmidt ist biblischer Theologe und emeritierter Professor der Universität Köln. Wie viele andere Forscher beurteilt Schmidt das Verhältnis des Johannesevangeliums zum jüdischen Umfeld Jesu als durchaus zwiespältig. Schmidt:

    "Was das Johannesevangelium angeht, so gehört es zu denen, die in besonders krasser Form Juden darstellen als diejenigen, die den zögernden Pilatus unter Druck setzen und immer wieder bedrängen, dass er schließlich dann doch nachgibt, und zwar erst, nachdem sie ihn bedrohen: Lassest du diesen los, so bist du des Kaisers Freund nicht, sie drohen ihm also mit der Anzeige beim Kaiser. Und erst dann – so würden wir heute sagen – fällt Pilatus um und gibt ihn zur Kreuzigung frei."

    Die Wirkungsgeschichte der Texte auch des Johannesevangeliums war teils verheerend. Judenfeindschaft bestimmte den Umgang der christlichen Mehrheiten mit jüdischen Minderheiten in weiten Teilen Europas. Und das bis in die jüngste Vergangenheit. Kirchen wie Regierungen beriefen sich immer wieder auf die judenfeindlichen Aussagen des Neuen Testamentes, um Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung von Juden zu rechtfertigen. Nach der Katastrophe der Schoah setzte sowohl im Katholizismus als auch in den protestantischen Kirchen ein Umdenken ein. Erst jetzt begriff man den massiven kirchlichen Antijudaismus als wichtigen Quellstrom des modernen Antisemitismus.

    Ausgerechnet die Leidensgeschichte Jesu aus jenen beiden Evangelien mit den schärfsten Aussagen gegen die Juden, dem Matthäus- und dem Johannesevangelium, wurden von Johann Sebastian Bach zu seinen brillanten Passionsmusiken verarbeitet. Der emeritierte Kölner Bibelwissenschaftler Johann Michael Schmidt hat sich ausführlich mit Werk und Wirkung beschäftigt. Schmidt zitiert eine der letzten Bach-Biografien von Martin Geck, wenn er sagt:

    "So krass und so brutal sind diese Judenchöre nie in Musik gesetzt worden wie hier jetzt in der wie in der Johannes Passion von Bach."

    Beide Passionen fanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem bei gebildeten Schichten Gehör: Gerade sie standen den judenfeindlichen antisemitischen Gedanken offen gegenüber. Schmidt:

    "Das ist dann über den Ersten Weltkrieg und die 20er-Jahre hineingeflossen in die Zeit des Dritten Reiches, und hier war der Antisemitismus Staatsräson geworden, und von gleichgeschalteten Musikwissenschaftlern, leider auch Kirchenleuten, wurde auch Bach mitinstrumentalisiert, wenn es darum ging, das Deutsche und den Deutschen an Bach herauszustreichen."

    Aus jüdischer Sicht scheitert Jesus als angeblicher Messias, als verheißener Gesalbter Gottes. Er hängt am Kreuz und stirbt. Die messianische Zeit, wie sie in den Prophetenbüchern vorausgesagt wird, Jesus bringt sie nicht. Israel bleibt besetzt, das Reich Davids ist nicht wiederhergestellt. Brumlik:

    "Weder weidete das Lamm neben den Löwen noch war allseitiger Völkerfrieden ausgerufen und eingehalten worden, noch die Verbannten Israels aus der Diaspora zurückgeholt worden. Das alles sind in der klassischen jüdischen Tradition die Aufgaben oder die Merkmale, die ein Messias, ein Maschiach aufzuweisen hat."
    Anders sehen es die Anhänger Jesu. Schröter:

    "Der Gesalbte ist gestorben – oder für unsere Sünden gestorben, wenn man es noch weiter interpretiert – und wurde auferweckt: Das ist ja eines der ältesten urchristlichen Bekenntnisse. Diese Aussage, - die findet sich in der israelitisch-jüdischen Tradition nicht, sondern da kann man sehen, wie durch die Anwendung auf Jesus diese jüdische Bezeichnung eine neue Bedeutung erfährt und in dieser Weise dann auch zu einem christlichen Bekenntnis geworden ist. Die spannende Frage ist dann: Wie konnte daraus eine Bewegung werden, die sich dann in der Konsequenz vom Judentum getrennt hat."

    Brumlik: "Es hat im Judentum zu allen Zeiten in den letzten 2000 Jahren Gruppen gegeben, die bestimmte Persönlichkeiten für den Messias gehalten haben, und dann doch früher oder später einräumen mussten, dass sie grausam enttäuscht waren, die Anhänger des Sabbatai Zwi im zweiten Jahrhundert, die Anhänger, des Simon Barkochba, ja sogar im 20. Jahrhundert gab es Leute, die den Rebben der Lubawitsch Chassassi, dem Schneerson für den Messias den Maschiach hielten."

    In der jüdischen Mehrheitsgesellschaft entwickelt sich im Übergang von der späten Antike zum frühen Mittelalter eine christentumskritische Überlieferung, die sogenannten Toldot Jeschu, die Geschichten Jesu. Darin wird erzählt, Jesus sei der uneheliche Sohn eines römischen Legionärs gewesen: ein Mensch ohne besondere Bedeutung.

    Brumlik: "Ein Umdenken beginnt im 19. und zumal im 20. Jahrhundert, wo wir dann Vordenker des christlich-jüdischen Dialogs finden, etwas Martin Buber, der ein wenig distanzlos vom Bruder Jesus gesprochen hat:"

    "Jesus habe ich von Jugend auf als meinen großen Bruder empfunden. Dass die Christenheit ihn als Gott und Messias angesehen hat und ansieht, ist mir immer als eine Tatsache von höchstem Ernst erschienen, die ich um seinet- und um meinetwillen zu begreifen suchen muss. Mein eigenes brüderlich aufgeschlossenes Verhältnis zu ihm ist immer stärker und reiner geworden, und ich sehe ihn heute in stärkerem und reinerem Blick als je. Gewisser als je ist mir, dass ihm ein großer Platz in der Glaubensgeschichte Israels zukommt und dass dieser Platz durch keine der üblichen Kategorien umschrieben werden kann."

    Bis heute existieren im Judentum sehr unterschiedliche Haltungen zum Wanderprediger Jesus von Nazareth. Er gilt als exemplarischer Jude, als mahnender Prophet, als Revolutionär oder Freiheitskämpfer. Die sogenannten Messianischen Juden glauben an Jesus als den Messias. Nichts sei jüdischer, als dem Juden Jesus zu folgen, sagen sie.

    Brumlik: "Heute sind die Hauptströmungen tatsächlich jene, die Jesus als bedeutsame jüdische Figur im Augusteischen Zeitalter ansehen, so etwas wie eine wirklich theologische Würdigung der Gestalt Jesus, gibt es so gut wie überhaupt nicht, die jüdischen Interpreten unterscheiden sich aber dann darin, ob sie in Jesus eher einen Prediger, oder wie manche auch, einen zelotischen Anführer sehen."

    Jesus als Lehrer der Thora, der den Nicht-Juden den Glauben an die jüdischen Werte und an den Gott Israels vermittelt hat – diese Position ist vor allem in jenen jüdischen Kreisen weit verbreitet, die intensiv mit dem jüdisch-christlichen Dialog beschäftigt sind.

    Brumlik: "Obwohl da kommt dann natürlich das Problem, dass man gelegentlich Zweifel an der Historizität der Überlieferung der Evangelien hat, aber sonst hat man sich drauf geeinigt, dass wenn das stimmt, Jesus jemand gewesen ist, der die Thora auf seine Weise ausgelegt hat. Da würde man Jesus durchaus als Gesetzeslehrer/ Thoralehrer ansehen, aber das ist nicht sein Alleinstellungsmerkmal, da gab's noch andere."