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Der Kampf mit den Flaschengeistern

Vier aktuelle Bücher über Kinder und ihre suchtkranken Eltern erzählen von der Not und vom Verzeihen, von verschlungenen Wegen aus der Einsamkeit und von der unverbrüchlichen Liebe der Kinder zu ihren Eltern.

Von Maria Riederer | 08.09.2012
    Was ist eigentlich ein Tabu? Diese Frage stellt sich Jona auf den ersten Seiten des Kinderbuches "Außerirdisch ist woanders". Die Frage wird ihn im Laufe der Geschichte noch öfter beschäftigen.

    Keine Ahnung, woher das Wort Tabu kommt. Vielleicht hat es ein tätowierter Matrose vor 500 Jahren von einer geheimnisvollen Insel mitgenommen und in unser Land geschmuggelt. Die Leute am Hamburger Hafen haben misstrauisch um das unbekannte Wort herumgelauscht. Einer sagte, TABU wäre vielleicht eine schlimme Krankheit, ein anderer meinte, es könnte der Name einer bösen Hexe sein. Die Leute bekamen es mit der Angst zu tun und beschlossen, nie wieder über das TABU zu sprechen. So ist es bis heute geblieben.

    Die Welt ist voller Tabus, voller Fragen, auf die Erwachsene keine Antwort geben wollen. Kein Problem für den zehnjährigen Jona – er findet seine Antworten selbst, und das mit überbordender Fantasie. Deshalb übersieht er völlig das Tabu, das sein neuer Mitschüler Henri mit sich herumträgt: Henris Mutter ist alkoholsüchtig. Jona hat für Henris zurückhaltendes Wesen, für sein Schweigen und seine Scheu anderen Kindern gegenüber eine andere Erklärung: Henri, der neu in seine Klasse gekommen ist, muss der Außerirdische sein, auf den Jona schon seit Jahren wartet. Susann Opel-Götz wollte in "Außerirdisch ist woanders" eigentlich eine ganz andere Geschichte erzählen.

    "Mein erstes Anliegen war, zu beobachten aus einem entfernten Winkel: Was ist unser Alltag? Der Alltag unserer Kinder, die eben in intakten Familien leben, ein normales Zuhause haben, genug zu essen, ein eigenes Zimmer, diesmal aus einem kritischen Blickwinkel heraus zu beobachten - mit Humor, mit Abstand, und da fiel mir einfach das All ein, also ein Außerirdischer: Der kommt auf die Erde, schaut sich das alles an, wundert sich, findet es interessant, ist neugierig ... und nach ca. 20 Seiten war aus diesem Alien plötzlich Henri geworden."

    Dass aus der sprudelnd komischen Geschichte langsam – sehr langsam – eine gewisse Schwere aufsteigt, und dass aus Henri ein problembelasteter Erdling wurde, ist kein Zufall. Die Autorin hat selbst als Kind die Freundschaft mit einer Tochter alkoholkranker Eltern erlebt.

    "Mit acht Jahren kam an unsere Schule ein Mädchen, sie hat außerhalb des Dorfes gewohnt, wirklich man kann sagen in einer Art Ghetto, war bettelarm. Ich hab mich mit diesem Mädchen angefreundet und hab auf die Art natürlich kennengelernt, dass es mitten unter unserem normalen Mittelklasseleben auch ein anderes Leben gibt."

    In "Außerirdisch ist woanders" dauert es an die 100 Seiten, bis der Konflikt mit dem Alkohol an die Oberfläche kommt. Die Autorin lässt sich Zeit. Sie entwickelt in Ruhe Jonas fixe Idee von der Alien-Invasion, bevor sie dunkle Wolken aus dem ganz realen Leben aufziehen lässt. So verlockt sie auch Kinder, die gerne lustige Bücher lesen und wenig von Problemgeschichten halten.

    "Das wissen wir alle, wie nahe Lachen und Weinen zusammen liegt, und ich hab mit meiner Freundin zum Beispiel sehr viel gelacht, aber wir waren oft auch sehr traurig darüber, wie es ihr ging."

    Weinte Henri etwa?
    Wenn mein kleiner Bruder Wolle weinte, dann war das was ganz anderes. Am Abend zuvor war sein Playmobil-Zitteraal durch den Badewannenabfluss geflutscht. Wolle hat geschrien, als wäre unser Kaninchen von einer Kanalratte durch den Abfluss gezerrt worden. Ich hab Wolle erzählt, wie interessant es in der Kanalwasseranlange aussieht und dass es für seinen Zitteraal nichts Schöneres gibt, als dort mit anderen Zitteraalen im Schlammbecken zu spielen. Wolle hörte sofort auf zu weinen und versenkte gleich noch einen kleinen Brachiosaurus und ein Gorillababy im Abfluss. Aber Henri? Ich hatte keinen Schimmer, was ich jetzt tun sollte.


    In Deutschland lebt zurzeit jedes siebte Kind – zeitweise oder dauerhaft – mit alkoholsüchtigen Elternteilen zusammen. Michael Klein, Professor für klinische Psychologie und Suchtforschung an der Katholischen Hochschule in Köln, schildert die Belastungen dieser Kinder.

    "In der Regel geht es darum, die Verantwortung zu übernehmen in dem Haushalt, weil der suchtkranke Elternteil da zunehmend ausfällt. Das kann beginnen mit solchen Dingen wie kochen, waschen, aufräumen, putzen, Erledigungen machen, aber auch, dass das Kind aufpasst, dass der suchtkranke Vater oder die suchtkranke Mutter, dass sie ins Bett kommen, dass sie nicht in ihrem Erbrochenen liegen usw., usw."

    All das erlebt Henri mit seiner Mutter, aber der Leser ahnt lange nichts davon. Jona erklärt sich alles Merkwürdige mit Henris extraterrestrischer Herkunft: Henri, der Alien, der eben intensiv das Nahrungsverhalten der Erdlinge studiert und deshalb alles isst, was man ihm gibt. Henri, der niemanden zu sich nach Hause einlädt, weil in seinem Viertel all die anderen Außerirdischen leben. Henri schweigt darüber, dass er in Wahrheit Armut erlebt, Hunger, zu wenig Zuneigung von seiner Mutter und das Ausgegrenzt-Sein im - von der Autorin erdachten - sozialen Brennpunkt Wasenfeld.

    "Er weiß, dass Jona vor allem deswegen an ihm interessiert ist, weil er ihn für einen Alien hält. Er hat einfach Angst, diese Zuneigung zu verlieren, wenn sich herausstellt, dass er ein ganz normaler Junge ist. Und Jona ist ja der Typ, der sich seine Fragen in erster Linie selbst beantwortet, so wie sie ihm gelegen kommen."

    Als Henri auf den Geruch eines harmlosen, alkoholhaltigen Pickelwassers mit heftigen Gefühlen reagiert, kommt Jona für einen Moment ins Grübeln. Henri deutliche Fragen zu stellen, kommt ihm aber nicht in den Sinn.

    Gab es außer Tabu-Themen und Tabu-Wörtern vielleicht auch Tabu-Erinnerungen? Oder Tabu-Gefühle, über die man am besten mit niemandem sprach? Sorgfältig schraubte ich den Deckel wieder auf das Fläschchen und stellte es ins Regal zurück. Konnte man einen bösen Geist, wenn er einmal losgelassen worden war, wieder in seine Flasche zurückstopfen?

    "Die Kinder in suchtbelasteten Familien lernen natürlich viele Tabuisierungs- und Verheimlichungsstrategien. Das hat ganz viel zu tun mit Vermeidung von Schamgefühlen, weil die Beschämung gerade vor Lehrern oder vor Mitschülern natürlich ein sehr schlimmes, unangenehmes Gefühl ist, und es ist, glaub ich, sehr nachfühlbar, dass Kinder versuchen, das zu vermeiden."

    Diese Tabuisierungsstrategien hat Susann Opel-Götz hervorragend geschildert. So ist es auch einleuchtend, dass sie den arglosen Jona bis zum Schluss im Trüben fischen lässt. Der kindliche Leser wird Henris Geheimnis schneller durchschauen und diesen Vorsprung sicherlich genießen. Immer wieder lässt die Autorin einen Schatten durch die Geschichte huschen - zu schnell für Jona, aber deutlich genug für den Leser. Zum Beispiel kann sich Henris Mutter kein Fahrrad für ihn leisten. Aber das seinem Freund zu sagen, bleibt ihm erspart.

    Um punktgenau halb drei bog Henri um die Ecke. Wie immer war er zu Fuß gekommen. Ich hatte ihn mal gefragt, warum er nicht mit dem Fahrrad zu mir fährt, aber eigentlich kann ich es mir schon denken: Lollos Rad war letzten Sommer geklaut worden, und bei ihrem neuen fehlten schon wieder die Lichter.
    "Du willst nicht, dass dir dein Rad geklaut wird, stimmt's?", hatte ich Henri gefragt.
    "Räder klauen ist gemein", sagte Henri leise.
    Na bitte, wusst ich's doch!


    Die Autorin stellt Jona aber nicht als naiven Dummkopf hin. Er ist geistreich und ein genialer Denker, der innerhalb seiner Außerirdischenwelt eine nachvollziehbare Logik entwickelt. Und vor allem: Seine Zuneigung zu Henri ist echt. Als er Henris ganze, wahre Geschichte erfährt, ist er tief erschüttert. Sein Freund, der von einem Tag auf den anderen aus der Stadt verschwunden ist, ist nicht etwa ins All zurückgekehrt. Henri schreibt einen Brief aus einer anderen Stadt, in der er und seine Mutter von einer Tante versorgt werden können.

    Es gibt nicht so viel Sprache bei uns wie bei euch, Jona. Wenn Mama sehr viele Flaschen gekauft hat, dann gab es gar keine Sprache mehr. Mama hat gesagt, ich soll keinem was von den Flaschen erzählen. Sie hat es auch niemandem erzählt. Mama wollte nicht, dass meine Tante wusste, wo wir hingezogen sind. Weil doch unsere Wohnung im Wasenfeld kein Bad hatte. Also hab ich nichts gesagt.

    Henris Brief enthält eine Menge Rechtschreibfehler und seine Sprache ist so schnörkellos und zurückhaltend wie sein Wesen. In seinem Brief äußert er das erste Mal mehr als ein paar Sätze am Stück. Jona dagegen, der Forscher und begeisterte Leser, dominiert mit seiner Eloquenz das Tempo und den Witz des Buches. Mit dieser sprachlichen Dynamik baut die Autorin eine große Spannung auf und setzt – als wolle sie Henris Tabuzone respektieren – dessen ausführliche Sicht der Wirklichkeit und seine innersten Gedanken ganz ans Ende. So gelingt es ihr in dieser großartigen Geschichte, die lesenden Kinder mit viel Schwung zum Lesen zu verlocken und sie dann behutsam – aber ohne ihnen zu viel langen Atem abzuverlangen - bereit zu machen für ein hartes Stück Wirklichkeit.

    Die Autorin Brigitte Jünger geht mit ihrem Buch "Käfersommer" einen anderen Weg. Sie erzählt die Geschichte eines Jungen, Jo, der mit seinem trunksüchtigen Vater zusammenlebt. Der Leser erfährt darin von Anfang an alles über die Auswüchse des Alkoholkonsums: über klappernde Flaschen und einen schnarchenden Vater, der in voller Montur auf dem Sofa seinen Rausch ausschläft. Über enttäuschte Hoffnung, die Angst, entdeckt zu werden und Jos verzweifelte Versuche, einzugreifen.

    Früher war ich fest davon überzeugt, dass das von den unsichtbaren Geistern kommt, die in den Flaschen wohnen. Ich dachte, sie machen, dass er nicht mehr richtig sprechen kann und herumtorkelt. Und dass sie schuld daran sind, dass er schreit und irgendwas kaputt schlägt. Heute bin ich mir ziemlich sicher, dass das mit den Geistern nicht stimmt, aber man kann sich nicht sicher sein. Wenn die Geister in ihre Flaschen zurückgekrochen sind, nachdem Papa den Schnaps und das Bier ausgetrunken hat, schlafen sie jetzt genauso fest wie er. Das ist meine Chance! Ich schnappe mir eine Flasche nach der anderen, drücke den Korken so schnell wie möglich hinein und fange so in null Komma nichts die ganze Geisterbande ein. Später geh ich los und bringe die Flaschen weg. Vielleicht vergisst Papa dann, dass es solche Flaschen überhaupt gibt.

    "Diese Fantasien haben dann immer mehr oder weniger etwas damit zu tun, den Alkohol zu verbannen oder verschwinden zu lassen: Wenn ich den Alkohol wegbekomme, also z.B. die Flaschen, dann wird alles wieder gut - und dass eben noch nicht gesehen wird, dass es im Grunde um die Persönlichkeit und das Verhalten von Vater oder Mutter geht. Aber das, was wir als Problem sehen, ist, wenn Kinder zu stark sich in Fantasien und teilweise auch Tagträume flüchten. Das kann natürlich langfristig zu so etwas wie Realitätsverlust und starker, sozialer Isolation führen."

    In genau dieser Gefahr befindet sich auch Jo. Sein Wesen ist scheu und misstrauisch. Jo würde sich niemals einem Menschen anvertrauen. Dann schon eher einem Loch in der Wand unter seinem Bett. Oder den Käfern, die er so gerne sammelt. Die Autorin, Brigitte Jünger:

    "Es gibt keinen Menschen, mit dem er reden kann, aber er muss es loswerden. Er sucht die Käfer, um nicht so alleine zu sein, um jemanden umhegen zu können und jemanden auch zu haben, mit dem man sprechen kann."

    Jo bliebe wohl ewig einsam, wenn es nicht Edda gäbe, ein aufgewecktes Mädchen aus intaktem Elternhaus. Brigitte Jünger erzählt die Geschichte der beiden Kinder mit zwei Ich-Erzählern. Der Leser wird diese beiden Erzählstränge durch verschiedene Schrifttypen problemlos auseinanderhalten und kann Jo dann aus zwei Perspektiven folgen: Einerseits sieht er ihn aus Eddas neugierigen Augen als einen zunächst Fremden, dessen scheues Wesen sie fasziniert. Gleichzeitig gewinnt er durch Jos innere Monologe Einblick in dessen Gedanken und Nöte. Mit dieser Erzählstruktur bewegt sich die Autorin immer in der Nähe des Jungen. Auch wenn Edda die Sympathie des Lesers schnell wecken wird, so bleibt doch Jo der eigentliche Held der Geschichte, der lange nicht ahnt, dass Edda – und auch wir – ihn beobachten.

    "Die Einsamkeit von Jo, die ist ja sehr, sehr groß, und ich wollte einfach erzählen davon, dass ein Mensch - egal, was passiert, wie schlecht es ihm geht - dass er nie wirklich einsam ist, weil es immer irgendjemanden gibt, den er gar nicht wahrnimmt, aber der ihn schon sieht, der ihn beobachtet, der sich Gedanken darüber macht: Was ist das eigentlich für ein Mensch?"

    Eddas Neugier ist für Jo schwer zu ertragen. Das selbstbewusste Mädchen und seine Eltern dringen ahnungslos in Jos Geheimversteck ein, das in der Geschichte nicht nur psychologisch, als Tabu, sondern auch konkret existiert. Dadurch bringt Edda Jos wackliges Gebäude in Gefahr. So sehr der Leser sich wünscht, dass Jos Nöte und die seines Vaters aufgedeckt werden und er Hilfe erfährt, so sehr empfindet der Junge selbst diese Aussicht als Bedrohung. Edda spürt das.

    Ich ließ Jo in Ruhe. Er wollte mir nicht sagen, wo er herkam und ich wollte nicht, dass er mir weiter Unsinn erzählte. Dass er mit seinem Vater, dem Insektenforscher im Dschungel war! Welches Kind konnte wochenlang mit seinem Vater durch den Dschungel reisen?! Es musste einen Grund geben, warum Jo nicht mit der Wahrheit herausrückte.

    Brigitte Jünger – und auch Susann Opel-Götz - nehmen in ihren Romanen auch die Erwachsenen in die Pflicht. Als Hilfe für die Protagonisten, aber auch für die lesenden Kinder, die sich im Lauf der Geschichte fragen werden, wie denn nun eine Lösung aussehen könnte. Auch wenn die kindlichen Protagonisten die Wende auslösen, indem sie das Schweigen brechen, sind es am Ende vertrauenswürdige Erwachsene – und das ist eine wichtige und realistische Botschaft –, die mit ins Boot geholt werden müssen.
    Mit "Käfersommer" schickt die Autorin ihre Leser auf eine spannende Spurensuche. Die Erzählperspektiven von Jo und Edda fließen immer mehr ineinander, je näher die beiden einander kennenlernen. Immer dichter wird das Geflecht an Begegnungen, Gesprächen und Gedanken der beiden Kinder: Da sind Jos Versuche, sich zu verstecken, und seine Ängste um den Vater – und Eddas Neugier, ihre Ahnungen und ihre Ratlosigkeit. Weit mehr als ein Problembuch über Alkohol und seine Folgen in der Familie ist "Käfersommer" eine wunderschöne Geschichte über den Weg aus der Einsamkeit.

    "Der Jo hat gelernt, es gibt Leute, die hören dir auch zu, wenn es schwer ist, die halten zu dir, die suchen mit dir nach Lösungen, und damit entlassen wir den Jo. Und die Familie wird ihn unterstützen, Eddas Familie, und so kann man erst mal hoffnungsvoll in die Zukunft sehen."

    Jo und Henri, denen von ihren alkoholkranken Eltern von klein auf viel zu viel Verantwortung auferlegt wurde, finden über die Freundschaft in ein Leben zurück, das ihnen erlaubt, Kind zu sein.
    Das ist auch das Thema von Peter Pohl, einem schwedischer Autor mit deutschen Wurzeln. Er verlangt den jungen Lesern mit "Meine Freundin Mia" allerdings mehr ab als seine Kolleginnen. Die Altersempfehlung liegt mit zehn Jahren ein wenig über den beiden anderen Büchern, und das hat seine Gründe: In seiner Geschichte potenziert Peter Pohl das Szenario des Alkoholproblems, das die Erzählung von der ersten bis zur letzten Seite ausfüllt: Lena und ihr kleiner Bruder Ola wohnen bei ihrer trinkenden Mutter. Bei Lenas bester Freundin Mia trinken sogar beide Eltern. Die Mädchen freunden sich an, ahnen aber nichts von der Lage der jeweils anderen, obwohl sie in der Schule erfahren, dass jedes fünfte schwedische Kind ihr Schicksal teilt.

    "Eigentlich total krass, wenn man sich das überlegt", sagt Mia. "Zwanzig Prozent. Jeder Fünfte."
    "In ganz Schweden", erinnert Lena sie.
    "Und in unserer Klasse, was glaubst du?", fragt Mia.
    "Vielleicht Patrik?"
    "Kaum. Und wenn, dann hat er ja Jonny. Ein Weg hinaus aus der Dunkelheit, wie sie gesagt hat."


    "Sie" – das ist eine Autorin, die in der Schule zu Besuch ist. Sie spricht mit den Kindern über Alkoholprobleme – und darüber, wie wichtig in diesem Kontext Freundschaften sind. Reichlich Gelegenheit also für die beiden Mädchen, sich einander anzuvertrauen. Aber sie wagen es nicht. Der Leser verfolgt nur Lenas Alltag, der daraus besteht, den Haushalt aufrecht zu erhalten, den kleinen Bruder zum Kindergarten zu bringen und sich lästige Fragen von Erzieherinnern und Lehrerinnen vom Leib zu halten. Mia erfährt, anders als Jo oder Henri, Gewalt durch ihre betrunkene Mutter, und der Autor deutet sogar die Gefahr des Missbrauchs an, als die Mutter eines Abends Besuch von ihrem Trinkgenossen Tompa bekommt.

    Lena wachte davon auf, dass jemand an die Tür hämmerte. "Verdammt!", rief eine Stimme, die Tompa gehören musste, obwohl sie rauer und schleppender klang als die Stimme, die er bei Tisch gehabt hatte. "Da ist ja abgeschlossen! Is die Kleine etwa nicht da drinne, hä?"
    "Geh weg! Rein mit dir ins Klo", war Mama zu hören, "Und da bleibst de drin, bis de wieder bei Trost bist!"
    Tompa grummelte irgendwas und seine Stimme entfernte sich von Lenas Tür. Jetzt hämmerte stattdessen Mama dagegen.
    "Lena. Schnell, nimm dein Zeug und hau ab!"
    Lena wollte wissen, was los war. Mama flüsterte durch die Tür, dass Tompa ihr wehtun würde, wenn sie bliebe. Sehr weh!


    Lena ist zum ersten Mal in ihrem Leben gezwungen, allein in die Nacht hinaus zu gehen. Eine tiefe Krise für das Kind, das jetzt gezwungen ist, sich Hilfe zu suchen. Fast alle Kinderbücher zum Thema Alkoholismus in der Familie münden in solchen Krisen. Die Situationen sind mehr oder weniger dramatisch, öffnen aber letztlich die Tür zur Wahrheit und zu möglichen Veränderungen. Es mag überzogen klingen, dass in Peter Pohls Kinderbuch auch die erwachsene Schutzengel-Figur, die Nachbarin Solveig, als Kind trunksüchtige Eltern hatte und deshalb Lena und Mia ihr Ohr und alle Türen öffnet. Wer die Zahlen in Schweden kennt, wo tatsächlich 20 Prozent aller Kinder bei alkoholkranken Eltern leben, weiß, dass Peter Pohl nicht übertreibt.

    "Weißt du, Lena", sagt Solveig, "Ich bin mit einer Alkoholikerin als Mutter aufgewachsen und weiß, wie das ist. Da erkennt man die Zeichen sofort, wenn sie irgendwo aufscheinen. Du brauchst dich bei uns nicht zu verstellen." Sie schiebt Lena ein Glas Saft hin. Das kommt gerade recht. In Lenas Hals steckt etwas, das runtergeschluckt werden muss. Wie hat Mia das ausgedrückt? Man verrät sich mit dem, was man nicht sagt. "Es kommt mir so vor, als hätten alle eine Mutter, die trinkt – oder zumindest eine gehabt", murmelt Lena.
    "Ja, Das entspricht bestimmt eher der Wirklichkeit als die Vermutung, man wäre damit ganz allein."


    Die Kinderbücher "Außerirdisch ist woanders", "Käfersommer" und "Meine Freundin Mia" richten sich an Leser zwischen neun und zehn Jahren. Keines der Bücher wird Kinder überfordern, der Ton ist stets leicht, mal sprudelnd lustig, mal feinsinnig und poetisch. Auch Peter Pohl bringt mit Mia eine heitere Person ins Spiel, die Lena immer wieder zum Lachen bringt und nicht zulässt, dass das Buch zu schwer ausfällt. Und doch wird den jungen Lesern zugemutet, ihre Augen für eine Welt zu öffnen, die vielen von ihnen unbekannt ist. Keine Fantasy-Welt, in der sie heute vielleicht mehr zu Hause sind als in der Realität. Sondern eine Welt, in der Kinder der Krankheit ihrer Eltern ausgesetzt sind und sich im Alltag mühevoll behaupten müssen.
    Keiner dieser Romane gewährt allerdings Einblick in die Seele des alkoholkranken Elternteils.
    Einen solchen Einblick gibt am besten das Jugendbuch "Katertag" von Regina Dürig. Der 13-jährige Nico und seine jüngere Schwester Sasa leben mit beiden Elternteilen zusammen. Die Vater ist arbeitslos und Alkoholiker. Die Mutter, genannt Mim, hält durch dick und dünn zu ihm – bis es zum Eklat kommt und sie gezwungen ist, ihrem Mann ein Ultimatum zu stellen.

    "Mir fällt nichts mehr ein, um an ihn ranzukommen, um an euren Papa und meinen Mann zu kommen, der da irgendwo drinsteckt in diesem verantwortungslosen, schamlosen Arschloch." Sasa und ich schauten erst Mim und dann uns an, so was haben wir noch nie aus Mims Mund gehört. Sie scheint selbst ihren Worten hinterherzuhören. "Ich finde es schrecklich, aber das Einzige, was mir noch einfällt, ist, dass wir ihn erpressen: Wenn er keinen Entzug macht, verliert er uns."

    Das gut 100 Seiten schmale Buch besteht zum größten Teil aus einem Brief, den Nico seinem Vater schreibt, um ihm zu schildern, was in der Zeit seiner Trunksucht alles passiert ist. Er erzählt im Rückblick von den Eskapaden des Vaters, den die Kinder in seinen Zuständen der Trunkenheit nur noch den "Eunk" nennen. Er schildert seine eigene verpatzte Liebesgeschichte, an deren Scheitern der Vater schuld ist, und die schreckliche Autofahrt nach Disneyland, die beinahe durch Trunkenheit am Steuer zur Katastrophe geführt hätte. Der Brief hält dem Vater einen Spiegel vor, so wie der Sohn ihn über Jahre erlebt hat. Mit dieser Konstruktion gelingt es Regina Dürig brillant, zuerst ausführlich Nicos Realität zu schildern, um dann, in einem Antwortbrief des Vaters, dessen verschobene, vom Alkohol zersetzte Wirklichkeit dagegen zu halten: Alle dramatischen Ereignisse, in denen er die Kinder und seine Frau belogen, im Stich gelassen und ungerecht behandelt hat, hat er anders erlebt als seine Familie.

    Merkwürdig, wie absurd die Gedanken manchmal sind. Ich hatte nie darüber nachgedacht, wie diese Tage in Frankreich, nach unserer Fahrt ins Disneyland, für euch gewesen sind. Ich hatte nicht geglaubt, dass es euch so schlecht gegangen sein könnte. Ich war voller Selbstmitleid, fühlte mich von euch verraten und hintergangen. Ich war überzeugt, das Ganze sei nur eine Art Falle gewesen, die von Anfang an darauf ausgelegt war, mich bloßzustellen.

    "Durch die vielen sehr heftigen Intoxikationen, die ja mit der Sucht einhergehen, verändert sich die Wahrnehmung, verändern sich die Art und Weise, wie Personen über sich denken, viele Dinge werden ausgeblendet, nicht mehr wahrgenommen, verzerrt wahrgenommen, viele bilden sich dann so etwas wie ein Selbstbild oder ein Bild der Welt, das zu ihnen noch passt."

    Diese Vorgänge hat die Autorin in "Katertage" besonders eindrücklich dargestellt. Das gelingt ihr auch deshalb so gut, weil sich die Erzählung fast ausschließlich innerhalb der eigentlich intakten Familie abspielt. Die Freunde der Kinder oder ihr Schulalltag spielen – abgesehen von Nicos Liebesgeschichte – kaum eine Rolle. Umso konzentrierter schildert Regina Dürig die Qualen der heranwachsenden Kinder, die nicht wissen, ob sie ihren Vater lieben oder hassen sollen. Einsam sind hier nicht die Kinder, denn sie stützen sich gegenseitig und werden von der Mutter gehalten. Einsam ist der Vater, der Trinkende.

    "Wenn du uns wiedersehen willst, ist das Nächste, was wir von dir hören, ein Anruf aus einer Entziehungsklinik." Hat Mim geschrieben. Mit "In Liebe – auch wenn es nicht so aussieht - Karin" hat sie unterzeichnet. Ich nur mit "Nicolas", weil alles schon gesagt war. Sasa konnte sich nicht entscheiden, ob sie sich wünschen sollte, dass du wiederkommst oder gesund wirst oder nicht böse bist. "Bitte, bitte ... Deine Sakina", hat sie schließlich geschrieben und daneben ein kleines Herz mit Sonnenbrille gemalt.

    Die aktuellen Bücher über Kinder und ihre suchtkranken Eltern erzählen mehr als nur die Umstände und Auswirkungen eines problematischen Elternhauses. Sie sind weit entfernt davon, pädagogische Ratgeber sein zu wollen. Stattdessen haben die Autoren mit ihrer Erzählkunst durchweg literarisch wertvolle Bücher geschaffen, die Kinder und Erwachsene packen werden: durch ihren Witz, ihre Poesie und ihren schonungslosen Umgang mit dem Thema Alkohol. Sie erzählen vom Verzeihen und von der unverbrüchlichen Liebe der Kinder zu ihren Eltern. Und immer bauen sie auf die Kraft der Sprache.

    Literaturliste:

    Susann Opel-Götz: Außerirdisch ist woanders.
    Oetinger. 318 Seiten - ab 9 Jahre – Preis: 13,95 Euro

    Brigitte Jünger: Käfersommer.
    Jungbrunnen.152 Seiten – ab 9 Jahre – Preis: 13,90 Euro

    Peter Pohl: Meine Freundin Mia.
    Hanser. 141 Seiten – ab 10 Jahre – Preis: 12,90 Euro

    Regina Dürig: Katertag – Oder: Was sagt der Knopf bei Nacht?
    Chicken House. 110 Seiten – ab 14 Jahre – Preis: 9,95 Euro

    Weitere Informationen im Internet:

    www.kidkit.de ist ein Internetportal für Kinder aus suchtbelasteten Familien (unter Mitwirkung von Prof. Michael Klein, Katholische Hochschule Köln)